Zusammenfassung
Wie Christian Meier gezeigt hat, ist die Entstehung des Politischen bei den Griechen in historischer Gleichursprünglichkeit mit der Entwicklung der Demokratie erfolgt, als nämlich die durchaus unbeabsichtigte, dem Kriegsglück und anderen historischen Zufällen geschuldete Emanzipation von althergebrachten Überzeugungen eine Neubestimmung der Geltungsgrundlagen des Zusammenlebens begünstigte, für die sich mangels verbliebenen traditionellen Legitimitätsglaubens nur mehr ein demokratisches Verfahren anbot, wie Aischylos‘ Orestie als agnostischer „Polis-Mythos“ (Meier 1995, S. 219) zeigt. Den Anfang autonomen politischen Denkens und der Demokratie als dessen Form kennzeichnet demnach Kontingenz, und dies begründet die dauerhafte, systematische Unvereinbarkeit zwischen dem demokratiespezifischen Fallibilismus und unbedingten Geltungsansprüchen: Demokratie verlangt, das Scheitern eigener Wahrheitsprätentionen aushalten zu können (Greven 2010, S. 80), denn sie ist eine nicht auf Rationalität reduzierbare Herrschaftstechnik (vgl. Greven 1999a, S. 10), deren neuzeitliche Renaissance tiefe Wurzeln bereits in der von Marsilius von Padua reklamierten Unterscheidung zwischen machtbasierter weltlicher Rechtsetzung und geistlichen Wahrheitsansprüchen hat. Cum grano salis lässt sich demnach sagen, dass der bei Hobbes zur Begründung des absolutistischen Staates dienende Satz auctoritas, non veritas facit legem auch die von Michael Th. Greven stets betonte demokratische Komponente hat(Greven 1991), die machtpolitische Entscheidung über Geltungsfragen als Freiheit und Gleichheit verbürgende Alternative zu elitären Wahrheitsprätentionen zu betonen, was erneut die – den totalitären Carl Schmitt (1995, S. 86) zur Verzweiflung treibenden – ungewollt proto-liberalen Elemente und Wirkungen der Hobbes’schen Theorie beweist (vgl. Holmes 1995, S. 69 ff.).
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