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Der Herkunftskontext der Migration

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Biographien in Bewegung
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Zusammenfassung

Als Einleitung zu diesem Kapitel wird Rumänien als Herkunftsland von MigrantInnen unmittelbar vor sowie nach 1989 vorgestellt (Kap. 5.1). Anschließend werden die Migrationsprozesse unter Bezug auf den konkreten Herkunftsort der MigrantInnen kontextualisiert (Kap. 5.2). Den Fokus der Darstellung bilden verschiedene im Herkunftskontext angelegte Formen von Mobilität, die in spezifischer Weise durch den jeweiligen gesellschaftsgeschichtlichen Hintergrund konturiert wurden.

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Notes

  1. 1.

    Auch in Satulești gibt es einzelne Fälle von Arbeitsmigration in arabische Länder, etwa in den Irak. Ferner migrierten BewohnerInnen des Dorfes vereinzelt, etwa durch Heirat, auch nach Kanada (siehe hierzu weiter unten).

  2. 2.

    Einen großen Anteil stellten die Ausreisen von Angehörigen der deutschen, ungarischen und jüdischen Minderheit (vgl. u. a. Ohliger 2000, Roth 2006 sowie Sterbling 2006a).

  3. 3.

    Diese Veränderungen in den Migrationsbewegungen markierten auch eine Zäsur in der rumänischen Migrationsforschung. Zuvor wurden fast ausschließlich Wanderungsbewegungen im Inneren des Landes thematisiert, vor allem ausgehend von ländlichen Regionen (vgl. Aluaş/Marica 1972, Sandu 1984). Entsprechend der offiziellen Politik einer Proletarisierung des Landes ging es in rumänischen Forschungsarbeiten darum, die Verstädterung ländlicher Regionen nachzuzeichnen. Mit dem Beschluss der ‘Dorfsystematisierung’, der international für Aufsehen sorgte, da er vorsah, die Urbanisierung des Landes über die systematische Liquidierung besonders abgelegener Landstriche zu verstärken, entstanden auch einige internationale Forschungsarbeiten, die sich mit den Lebensbedingungen ländlicher Regionen und ihrer Anbindung an Städte beschäftigten (vgl. Ronnas 1988, 1989, Gabanyi 1989). In der neueren rumänischen Migrationsforschung finden sich neben soziologischen Forschungsarbeiten zur externen Migration aus dem ländlichen Raum (vgl. u. a. Sandu 2000a, b, 2005, Şerban/ Grigoraş 2000, Şerban 2003 sowie Einleitung) auch demographische Untersuchungen zur Bevölkerungsentwicklung in Rumänien, die die externen Migrationsbewegungen berücksichtigen (vgl. exemplarisch Gheţau 2006).

  4. 4.

    In dieser Zeit wurden zahlreiche Länder Ost- und Ostmitteleuropas, die damals die wesentlichen europäischen Herkunftsländer von AsylbewerberInnen darstellten, als ‘sichere Herkunftsländer’ bzw. ‘sichere Erstasylländer’ definiert. Durch die Regelung der Abschiebung in das potentielle Erstasylland war die Möglichkeit des Asylantrags aus einem ostmitteleuropäischen Land nahezu unmöglich. Die Asylgesuche beschränkten sich daraufhin vorwiegend auf Anträge aus Serbien und dem Kosovo, während zuvor noch circa ein Viertel der Asylanträge (etwa 60.000) in westeuropäischen Ländern aus Rumänien kam (vgl. Fassmann/Münz 2000).

  5. 5.

    Die Zahlen der definitiv Ausgereisten beliefen sich in den ersten Jahren nach 1989 auf zwischen 30.000 und 100.000 jährlich (vgl. ebd.: 42).

  6. 6.

    Unmittelbar nach 1989 stieg der Zuwanderungsstrom vom Land in die Stadt zunächst sehr stark an. Dies wird damit begründet, dass viele PendlerInnen unmittelbar nach 1989 einen Wohnsitz in der Stadt bezogen, nachdem zuvor die Wohnungsvergabe deutlich reglementiert worden war. Nach diesem künstlichen Anstieg kehrte sich die Richtung der internen Migration verbunden mit den wirtschaftlichen Umstrukturierungen allerdings deutlich um (vgl. Sandu 2005). Für manche rumänischen Landesteile zeichnen sich deutliche Gegensätze zwischen aufstrebenden Städten bzw. städtischen Einzugsgebieten einerseits und als abgehängt geltenden ländlichen Regionen andererseits ab. Zu wirtschaftsräumlichen Dispäritäten in Rumänien vgl. Heller (1997, 2006) sowie zur steigenden Ungleichheit in den Lebensverhältnissen Zamfir (2004).

  7. 7.

    Verlässliche Zahlen über die Höhe temporärer Auswanderungen liegen nicht vor. Zum einen wird davon ausgegangen, dass sich zahlreiche MigrantInnen aus Rumänien illegal im Ausland aufhalten. Zum anderen gelten die temporären Migrationsbewegungen als sehr dynamisch. In offiziellen nationalen Befragungen wird lediglich registriert, wenn sich Familienmitglieder zu einem bestimmten Moment nicht im Land aufhalten. Es gibt Untersuchungen, die von zehn Prozent der erwachsenen rumänischen Bevölkerung im Ausland ausgehen (vgl. IOM 2004). Dabei sei die temporäre Migration ausgesprochen häufig. Andere Studien nehmen an, dass zwölf Prozent der Haushalte mindestens eine Person im Ausland haben (vgl. Călin/Umbreş 2006).

  8. 8.

    Die Schafzucht ist für die Provinz Vrancea von alters her bedeutsam. So nimmt eines der prominentesten Werke der rumänischen Volksdichtung, die Ballade von Mioriţa [dt. Lämmchen], Bezug auf die Wanderschafzucht in Vrancea (vgl. Schebesch 1969).

  9. 9.

    Die Publikation von Costică Neagu (2005) wird im Zusammenhang mit dem konkreten Herkunftskontext mehrfach zitiert, da sie sich auf ein Dorf in der Nähe von Satuleţti bezieht und in ihrer Darstellung der Situation, wie sie selbst erlebt wurde bzw. aus Erzählungen der DorfbewohnerInnen hervorging, sehr nahe kommt.

  10. 10.

    Während des sozialistischen Regimes wurde dieser Gemeinbesitz an Wald- und Weideflächen, ähnlich einer Allmende, vom Staat beschlagnahmt (vgl. Vasile 2006 sowie Mäntescu 2006).

  11. 11.

    Die Semitranshumanz bezeichnet eine Schafhaltung im Zyklus der Jahreszeiten, bei der die Weideflächen weniger entfernt sind als bei der Transhumanz. Für Satuleşti liegen die Sennhütten, die in der Zeit von Frühjahr bis Anfang Herbst genutzt werden, in den Bergen von Vrancea auf einer Höhe zwischen 600 und 1.500 Metern. Daneben gibt es Sennhütten für den Herbst im Umkreis des Dorfes, in denen die Schäfer mit ihren Tieren bis zum Wintereinbruch bleiben. Die Semitranshumanz ist so organisiert, dass ein Großteil der Schafe aus dem Dorf zu Herden zusammengetrieben wird, mit denen Schäfer aus dem Dorf zu den Weideflächen aufbrechen. Die übrigen Schafe Feldund weitere Tiere werden auf landwirtschaftlich genutzten Flächen gehalten, die einige Kilometer im Umkreis des Dorfes gelegen sind. Viele Familien besitzen hierfür spezielle Hütten [târle] (vgl. Neagu 2005). Den Erzählungen der DorfbewohnerInnen zufolge begann die Schafzucht für viele Männer im Alter von sieben oder acht Jahren mit dem Heraustreiben der Schafe aus den Melkpferchen. Möglich war der Aufstieg bis zur Position des Senners.

  12. 12.

    Die Darstellung der sozioökonomischen Strukturen des Herkunftsdorfes erfolgt in der Vergangenheitsform. Damit sollen zum einen Festschreibungen des Herkunftskontextes auf die hier aufgeführten agrarisch dominierten Wirtschafts- und Sozialstrukturen vermieden werden. Zum anderen soll damit zum Ausdruck gebracht werden, dass die Landwirtschaft als Erwerbsquelle an Bedeutung verloren hat. Gleichwohl bildet sie für zahlreiche Personen aus Satulești einen wichtigen lebensgeschichtlichen Erfahrungshintergrund.

  13. 13.

    Der Begriff ‘Haushalt’ bezeichnet hierbei die Produktionseinheit, während der Begriff der Familie auf die psychosozialen Bereiche des Zusammenlebens verweist (vgl. Medick 1976, ders./Sabean 1984). Gleichwohl sind beide Bereiche aufgrund der besonderen familienökonomischen Produktionsweise sehr eng miteinander verwoben.

  14. 14.

    Zu den Arbeiten, die stärker von Männern ausgeübt wurden, zählten größtenteils Tätigkeiten außerhalb des Hofes, auf dem Feld und auf der Weide. Zum Zeitpunkt der Forschung wurde hierbei zum Teil auf Lohnarbeit zurückgegriffen. So zogen in den Sommermonaten Gruppen von Mähern durch das Dorf. Zu Arbeiten, die stärker von Frauen übernommen wurden, zählten hingegen Tätigkeiten, die vielfach im Haus und im angrenzenden Obst-, Gemüse- und Kräutergarten erledigt wurden sowie die Reproduktion betrafen.

  15. 15.

    Frauen halfen bei der Heu- und Maisernte, sämtlichen Arbeiten auf dem Feld und bei der Tierfütterung und dem Melken. Auf den Landparzellen, die um das Dorf gelegen sind, hüteten sie außerdem Kühe, Ziegen und die im Dorf verbleibenden Schafe; Ebenso versorgten sie Hühner, Gänse und Puten. In einigen Familien berieben Ehefrauen gemeinsam mit ihren Ehemännern die Semitranshumanz. Männer hingegen übernahmen selten Arbeiten, die traditionell in den Frauenbereich fielen.

  16. 16.

    Mit der Rückläufigkeit des landwirtschaftlichen Sektors als Einkommensquelle im Zuge der Migrationsbewegungen nach Italien ging eine zunehmenden Varianz in den Bedingungen einher, wie Kinder und Jugendliche aufwuchsen. Während die enge Einbindung in einen landwirtschaftlichen Familienbetrieb bedeuten konnte, dass sichdie Jugendzeit verkürzte und Mädchen etwa mit Erreichen der Volljährigkeit heirateten,konnte der Wegfall dieser Einbindung mit einer Verlängerung der Jugend- und Ausbildungsphase einhergehen. So zeigten sich zusammengenommen nicht nur deutlicheUnterschiede in den lebensgeschichtlichen Verläufen zwischen sondern auch innerhalb der Generationen.

  17. 17.

    In diesem Zusammenhang weist Beck (1989) auf die Bedeutung von Arbeit und Fleiß für das Ansehen der einzelnen Person und der Familie hin. Er betont, dass diese Werte auf die nächste Generation übertragen würden. Zum Konzept von Vererbung gehörten sowohl die Weitergabe materieller als auch körperlicher und sozialer Attribute. Auch David Kideckel (1993) weist in seiner Ethnographie zum Leben im Dorf in der Nähe der siebenbürgischen Stadt Fagaraţi auf den hohen Stellenwert der Arbeit hin. Arbeit bedeute Lebenssinn und sei ein wesentliches Thema des öffentlichen Diskurses. Einzelne Personen sowie Haushalte würden nach der Qualität ihrer Arbeit bewertet, wodurch diese eine wesentliche Grundlage für die Hierarchisierung der Dorfbeziehungen darstelle. Der Nachweis einer sozialen Beziehung sei die reziproke Arbeit. Kideckel, dessen Arbeit auf Forschungsaufenthalten in den Jahren 1975–76, 1979 und 1984 beruht, betont weiter, dass Arbeit und die Kontrolle über Zeit, Energie sowie weitere Ressourcen einen steten Wettkampf zwischen dem sozialistischen Staat einerseits und dem dörflichen Privathaushalt andererseits bedeutet und einen entscheidenden Einfluss auf die politischen und sozialen Beziehungen gehabt hätten.

  18. 18.

    Einen zentralen Bereich, in dem strenge Verhaltensnormen galten, die bei Verstoßmit Sanktionen belegt wurden, bildete das weibliche Sexualverhalten. Frauen durften ausschließlich als Verheiratete sexuelle Beziehungen mit ihrem Ehemann führen und setzten sich bei einem Verstoß der üblen Nachrede aus. Für Männer galten diese Normen deutlich weniger streng. Diese Verhaltensnormen waren sowohl religiös als auch vor allem sozioökonomisch begründet. So bedurfte die traditionelle landwirtschaftliche Produktionsform, die von einer starken gegenseitigen Abhängigkeit der Familienmitglieder geprägt war, einer stabilen Produktionsgemeinschaft, die durch Institutionen wie Ehe und Familie konsolidiert und hierarchisiert wurde.

  19. 19.

    Die Eheschließung läutet die Gründung einer neuen Kernfamilie ein und bedeutet somit die Spaltung des elterlichen Haushaltes und die Aufteilung des Besitzes auf die Nachkommen. Traditionell wird zwischen zwei Formen der Besitzübergabe unterschieden. Es gibt das Prinzip der Aussteuer [întestrare], wenn die Kinder den elterlichen Haushalt verlassen, um einen eigenen Haushalt zu gründen, und das Prinzip der Besitzübertragung [moştenire]. Dieses sieht vor, dass der Letztgeborene den Hof der Eltern übernimmt (vgl. Kideckel 1993). In der Regel bezieht das Ehepaar im Anschluss an die Hochzeit ein eigenes Haus, das der Bräutigam mit Unterstützung der Eltern auf einem der elterlichen Grundstücke in der Nähe zum Hof der Eltern gebaut hat, sodass mehrere Generationen einer Familie sehr eng im Dorf zusammenwohnen. Hierdurch wird eine weitere Funktion der familiären Beziehungen, die Versorgung im Alter, durch das nahe Zusammenwohnen der verschiedenen Generationen gesichert. Ist dies noch nicht der Fall, bringt der Bräutigam die Braut zunächst – dem Prinzip der Patrilokalität folgend – in seinen Elternhaushalt mit hinein. Die Braut stellte traditionell über ihre Mitgift [zestre] den Großteil des Mobiliars und der Haushaltswaren. Die Eltern beider EhepartnerInnen entschieden somit mit dem, was sie ihren Kindern in die Ehe mitgaben, über die materielle Absicherung des neuen Haushaltes und somit entscheidend über den Status des Paares. Dies führte in der Vergangenheit nicht selten dazu, dass mit einer Ehe vor allem materielle Interessen verbunden waren.

  20. 20.

    Elias/Scotson (1990) sprechen vom Dorf als einem speziellen Sozialsystem, das von Sicherheit, (erzwungener) Identifikationsmöglichkeit und Solidarität gekennzeichnet ist. Sehr stark ist es ihrer Meinung nach von einer hohen Interdependenz der Mitglie- der geprägt, die stabilisierend aber auch transformierend wirkt und stark die Persönlichkeitsentwicklung und das Verhalten der Mitglieder beeinflussen kann. Normative Formen des Zusammenlebens sind in Traditionen verankert und erscheinen als naturgegeben und unzweifelhaft richtig (siehe ebenso Elias 19786, I sowie zur Solidarität und Gemeinschaft einer Dorfgemeinde Weber 19805).

  21. 21.

    In diesem Zusammenhang weist Elias (19796, II) darauf hin, dass über derartige Sanktionen auferlegte Fremdzwänge in Erziehung und Sozialisation in Selbstzwänge umschlagen können. Eine mögliche Reaktion auf die starke Vereinnahmung durch die Dorfgemeinschaft sei die Verinnerlichung von Verhaltensnormen und die Tendenz zur Überanpassung. Eine Möglichkeit, im Falle eines Regelverstoßes negativen Sanktionen zu entgehen, sei es, sich dem Dorf zu entziehen. Dies sei etwa durch eine erhöhte Mobilität, durch Wanderung oder Migration möglich. Daneben weisen Elias/ Scotson (1990) auf den Klatsch als unmittelbare Integrationsbarriere, vor allem für Fremde hin. So könne der Klatsch auch dazu eingesetzt werden, Außenstehende, die nicht aus dem Dorf stammten, von vornherein aus der Dorfgemeinschaft auszuschließen. Zu den verschiedenen Formen und Funktionen des Klatsches siehe Schiffauer (1987). Zur Struktur der Klatschkommunikation siehe ebenso Ilien/Jeggle (1978). Beispiele für klare Verstöße gegen kollektive Verhaltensnormen bildeten, bezogen auf das Dorf Satulești, eine (vorübergehende) Trennung der Ehepartnerinnen sowie die Scheidung.

  22. 22.

    Zu wichtigen Funktionen gehörte das gegenseitige sich Aushelfen, gerade bei Tätigkeiten, die in den häuslichen Bereich fielen, weswegen sie stärker zum Interaktionsbereich von Frauen zählte. Die Beaufsichtigung von Kindern aus der Nachbarschaft nebenbei gehörte ebenso dazu wie der auf Gegenseitigkeit und Solidarität beruhende Austausch von einfachen Hilfeleistungen und Gütern im Haushalt, das kurze Gespräch am Hoftor oder die Unterstützung bei der Vorbereitung von Familienfesten. In den Abendstunden und an den Sonntagen trafen sich (ältere) NachbarInnen auch gerne auf Bänken, die vereinzelt an den Straßenrändern aufgestellt waren. Obgleich diese Form der Gemeinschaft einen wichtigen Teil der sozialen Identität darstellte, konnten Verbindungen, die in ein Netz aus weitreichenden Familien-, Verwandtschafts- und Nachbarschaftsbeziehungen eingebettet waren, auf Kosten der Selbstbestimmung gehen und bei einem Konflikt leicht in Feindschaft umschlagen.

  23. 23.

    Die Aufenthaltsbereiche im Zentrum des Dorfes, etwa gegenüber dem Rathaus oder in einer der Schänken oder Bars, stellten wesentliche Orte der Dorföffentlichkeit dar. Sie wurden in den frühen Abendstunden bzw. am Sonntag nach dem Kirchgang fast ausschließlich von Männern aufgesucht. Manche älteren Männer nahmen ihre noch jungen Enkelkinder mit dorthin. Mit Ilien/Jeggle (1978) kann von zwei Öffentlichkeiten gesprochen werden: der eminenten und der relevanten. Erstere ist nach Ilien/Jeggle von den Männern beherrscht. In ihr würde verhandelt, würden Entscheidungen gefällt und würde Dorfpolitik betrieben. Letztere hingegen sei von den Frauen bestimmt und umfasse neben gegenseitigen Unterstützungsleistungen vornehmlich Aufgaben, die die Reproduktion betreffen.

  24. 24.

    Von Erfahrungen interner Wanderungsbewegungen vor 1989 wird auch für den weiteren Herkunftskontext ausgegangen. So weist Diminescu (2003) für den ländlichen Raum Rumäniens als Herkunftskontext von MigrantInnen nach 1989 darauf hin, dass diese in den meisten Fällen bereits Migrations- bzw. Mobilitätserfahrungen durch das Pendeln zwischen Stadt und Land gemacht hätten. Es gäbe eine „Kultur der Mobilität im Inneren Rumäniens“, insbesondere in der Moldau (ebd.: 10, Übersetzung A.K.). Auch Morokvasic/Rudolph (1994), die unter Verweis auf Tarrius (1994) bereits zuBeginn der 1990er Jahre von einem „Mobilitäts-Paradigma“ (ebd.: 22) sprechen, heben als ein Charakteristikum des osteuropäischen Herkunftskontextes erwerbsbedingte Formen von Mobilität bereits vor 1989 hervor

  25. 25.

    Je nach Tierbestand mussten Privatleute ab den 1970er Jahren einen bestimmten Teil ihrer Tiere nach einem Vertragssystem abgeben (vgl. u. a. Verdery 1983, Beck 1992). In Gesprächen mit DorfbewohnerInnen wurde stets betont, dass die eigenen Schafe auch in den Gemeinden in anderen Landesteilen gezählt worden seien. Allerdings habe es häufig persönliche Vereinbarungen mit den Verantwortlichen in den Kooperativen gegeben.

  26. 26.

    Im Rahmen einer nationalen Gesetzgebung fielen im Juni 1948 alle Finanzen, die Industrie und weite Teile des Handels sowie der Landwirtschaft unter staatliche Kontrolle. Der Grund für die Kollektivierung der Landwirtschaft war unter anderem, dass dem Staat durch den Mangel an Industrie Kapital zur wirtschaftlichen Entwicklung fehlte und hierdurch Kapital freisetzt werden sollte (vgl. Kideckel 1993). In den 1980er Jahren entfielen etwa 60 % der landwirtschaftlichen Nutzfläche auf insgesamt rund 4.500 landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften, 30 % auf rund 350 großflächige Staatsbetriebe und neun Prozent auf Privatbauern (vgl. Statistisches Bundesamt 1985: 63). C.A.P. steht für Cooperativa Agricolă de Producţie. Diese gingen 1965 aus zuvor gegründeten Kooperativen, den sogenannten Gospodăria Agricolă Colectivă (G.A.C.) hervor. I.A.S. steht für Interprindere Agricolă de Stat. Diese wurden um die 1970er Jahre eingerichtet und direkt vom Staat unterhalten und bezuschusst.

  27. 27.

    Der Anteil derjenigen, die in der Landwirtschaft beschäftigt waren, sank von über 70 % zu Beginn des sozialistischen Umbildungsprozesses auf etwa 30 % in den 1980er Jahren bei einem deutlichen Anstieg der Bevölkerung insgesamt. Diese stieg, verbunden mit der Bevölkerungspolitik unter Ceauţescu von 14 Millionen im Jahre 1930, als sich nach dem Ersten Weltkrieg zunächst die Fläche des Landes nahezu verdoppelte, auf 23 Millionen im Jahre 1987 (vgl. Jackson/Happel 1977 sowie Jeffries 1990).

  28. 28.

    Kideckel (1993) vertritt in diesem Zusammenhang die These, dass sich durch das sozialistische Regime im Wesentlichen bereits bestehende sozioökonomische Gräben zwischen Teilen der Gesellschaft vergrößert hätten. Randall (1976) und Beck (1976, 1987) kommen in ihren Untersuchungen zu dem Ergebnis, dass sich BergbäuerInnen häufig einerseits der sozialistischen Umgestaltung ihrer Dorfgemeinden widersetzt, andererseits sich an den sozialistischen Staat angepasst hätten. Daraus leiten sie tiefgreifende Veränderungen für die Organisation der Produktion, für die Geschlechterbeziehungen und für die Beziehungen zwischen den Generationen in den Familienund im Dorf ab. Hierzu sei allerdings angemerkt, dass Beck in den 1980ern eine Gemeinde in Rumänien untersuchte, die stärker an industrielle Produktionszweige angegliedert war. So gab es in diesem Dorf zahlreiche Familien, in denen die Männer und zeitlich etwas verzögert auch die Frauen neben der Landwirtschaft einer Nebenbeschäftigung als LohnarbeiterInnen in einer der umliegenden Fabriken nachgingen. Es bildete sich, anders als für das Dorf Satuleşti, eine große Zahl von sogenannten ‘ArbeiterbäuerInnen’ heraus. Aus den Erzählungen der BewohnerInnen des Dorfes Satuleşti gingen unterschiedliche Strategien im Umgang mit dem sozialistischen Staat hervor. Während die meisten meiner GesprächspartnerInnen, insbesondere jene, die eine eigene Landwirtschaft betrieben, angaben, dass sie versucht hätten, sich dem direkten Eingriff des Staates zu entziehen, ging aus Gesprächen mit anderen DorfbewohnerInnen hervor, dass sie meist in irgendeiner Form versuchten, von den geänderten Einkommensmöglichkeiten und Bewirtschaftungsformen zu profitieren.

  29. 29.

    Für Gesamtrumänien nahm in dieser Zeit der Anteil derjenigen, die nicht in der Landwirtschaft beschäftigt waren, allerdings dennoch ihren Wohnsitz auf dem Land hatten, deutlich zu. So pendelten zahlreiche IndustriearbeiterInnen zwischen Industriezonen und den ländlichen Gebieten im Umkreis (vgl. Sterbling 1993).

  30. 30.

    Aus den Daten zur Binnenwanderung unmittelbar nach dem Sturz des sozialistischen Regimes wird deutlich, dass die Zuteilung von Wohnraum in der Nähe des Arbeitsplatzes nicht komplett umgesetzt werden konnte. So gab es unmittelbar im Jahr 1990 einen Anstieg des Zuwanderungsstroms vom Land in die Stadt um das Fünffache. Hierin äußerte sich, dass viele, die in einer Stadt beschäftigt waren, zuvor vom ländlichen Raum in die Stadt pendelten, da sie keinen festen Wohnsitz in der Stadt erhalten hatten. Nach diesem künstlichen Anstieg kehrte sich in den nachfolgenden Jahren die Richtung der internen Migration aufgrund der wirtschaftlichen Umstrukturierungen deutlich um (vgl. Rey 2003 sowie Sandu 2005).

  31. 31.

    Die Dauer der Schulpflicht wurde in Rumänien mehrfach geändert. In den vergangenen Jahrzehnten wechselte sie mehrfach zwischen acht und zehn Jahren.

  32. 32.

    Die relativ niedrige Bildungsbeteiligung von Frauen der mittleren Generation scheint in besonderer Weise mit der peripheren Lage und den agrarischen Erwerbsstrukturen des Dorfes zusammenzuhängen. So wird für sozialistische Länder allgemein von einer hohen Bildungsbeteiligung von Frauen ausgegangen. Gleichwohl war die Arbeitswelt geschlechtlich segregiert. Frauen waren vielfach in schlechter bezahlten Tätigkeitsfeldern, wie der Leichtindustrie sowie in sozialen und pädagogischen Berufen beschäftigt (vgl. Gal/Kligmann 2000 sowie Ingham/Ingham 2001).

  33. 33.

    Einige BewohnerInnen des Dorfes waren etwa als Forstwirte oder vereinzelt als Veterinärmedizinerinnen in Satulești beschäftigt. Daneben arbeiteten manche Dorfbewohner als Lastwagenfahrer. Sie pendelten meist zwischen dem Kombinat, in dem sie angestellt waren, und Satulești. In einzelnen Fällen folgte auf die Ausbildung in einem staatlichen Kombinat aufgrund der guten Verdienstmöglichkeiten (erneut) eine Berufstätigkeit als Schäfer.

  34. 34.

    Mancherorts schlossen sich mehrere Privateigentümer zu Gesellschaften zusammen und bewirtschafteten einen Teil der ehemals kollektivierten landwirtschaftlichen Nutzflächen weiter (vgl. Hunya 1990 sowie Sterbling 1993). Zum Teil bestanden sie allerdings nur für kurze Zeit. In derartigen Gesellschaften blieben in einigen wenigen Fällen vor allem ältere Schäfer aus dem Dorf weiterbeschäftigt. Daneben bestanden staatliche Großbetriebe teilweise bis Ende der 1990er Jahre fort. Auch dort konnten einige Schäfer, manchmal gemeinsam mit ihren Familien, eine vorläufige Anstellung finden.

  35. 35.

    Wilfried Heller (2006) belegt diese Zuwanderung u. a. mit einem Anstieg von Beschäftigten in der Landwirtschaft von 28,2 % im Jahr 1990 auf 40,8 % im Jahre 2000 sowie einer deutlichen Abnahme von Beschäftigten in der Industrie von 36,9 % auf 23.2 Prozent. In absoluten Zahlen ausgedrückt, habe sich ihre Anzahl an der Gesamtzahl aller Beschäftigten um zwei Millionen verringert (vgl. ebd.: 45).

  36. 36.

    Diese Ost-Ost-Wanderungen scheinen Pendelmigrationen in anderen Grenzregionen ähnlich (vgl. Morokvasic 2003). Als Gründe für diese Wanderungsbewegungen werden die räumliche Nähe, die damit verbundenen geringen Transportkosten sowie das Lohngefälle zwischen Herkunfts- und Ankunftsland genannt. Die Autorin weist ferner bei saisonalen kurzzeitigen Migrationsbewegungen auf weitere Erwerbsformen im Herkunftskontext sowie auf die hohe Flexibilität bei der Überwindung der Grenzen [transborder flexibility] hin.

  37. 37.

    Jugoslawien ermöglichte seit Ende der 1960er Jahre als einziges sozialistisches Land seinen StaatsbürgerInnen die Arbeitsmigration über Anwerbeverträge (vgl. Sterbling 1993, Heller 1997, Fassmann/Münz 2000).

  38. 38.

    Die Arbeitsbedingungen wurden in den Gesprächen mit DorfbewohnerInnen als prekär beschrieben. In Zeitungsmeldungen wurden die Bedingungen als sklavenähnlich bezeichnet (vgl. Vremea vom 07.01.1991 zitiert nach Morokvasic 1994: 171).

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Kempf, A. (2013). Der Herkunftskontext der Migration. In: Biographien in Bewegung. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-531-19656-5_6

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