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Erzähl- und gestalttheoretische Grundlagen des narrativen Interviews

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Biographien in Bewegung
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Zusammenfassung

Die vorliegende Arbeit gründet auf einer interpretativen bzw. rekonstruktiven Forschungslogik in der Tradition einer Verstehenden Sozialwissenschaft. Den Ausgangspunkt bildet die Annahme, wonach die einzelnen Individuen in Interaktion mit anderen die soziale Wirklichkeit erzeugen: Individuen handeln gegenüber anderen Individuen bzw. Dingen auf der Grundlage von Bedeutungen, die diese für sie besitzen (vgl. Blumer 19815). Diese Bedeutungen sind aus der sozialen Interaktion abgeleitet, sie werden „in einem interpretativen Prozess, den die Person in ihrer Auseinandersetzung mit den ihr begegnenden Dingen benutzt, gehandhabt und abgeändert“ (ebd.: 81 zu den Prämissen des Symbolischen Interaktionismus). Danach leitet sich in den Worten von Alfred Schütz (1977) als Untersuchungsgegenstand „die Genese des Sinnes, den soziale Phänomene für uns so gut wie für die Handelnden haben, [und] die Mechanismen der Handlungen, mit deren Hilfe Menschen sich und andere verstehen“ (ebd.: 64) ab. Die Aufgabe der Forschung bildet somit die Rekonstruktion der Interpretationen der handelnden AkteurInnen.

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Notes

  1. 1.

    Diese Tradition geht auf Max Weber ([1921] 19887) und seine wissenschaftstheoretischen Ausführungen zu ‘Verstehen’ und ‘Erklären’ als Grundbegriffe der Soziologie zurück. Nach Weber besteht die zentrale Aufgabe sozialwissenschaftlicher Forschung darin, den subjektiv gemeinten Sinn der Handelnden zu verstehen und dieses Handeln und seine Folgen in der Interdependenz mit dem Handeln anderer zu erklären.

  2. 2.

    In diesem Zusammenhang unterscheidet Thomas Wilson (1970) in Abgrenzung zu einer deduktiven Forschungslogik in der empirischen Sozialforschung zwischen einem interpretativen und einem normativen Paradigma. Wilson rekurriert dabei auf Thomas Kuhns (19762) Konzept des Paradigmas. Ansätze, die einem interpretativen Paradigma folgten, gründen nach Wilson auf der Annahme, dass jegliche Form sozialer Ordnung auf interpretativen Leistungen der Handelnden beruht. Er verweist auf die Ethnomethodologie und auf den Symbolischen Interaktionismus.

  3. 3.

    Für verstehende Ansätze in den Sozialwissenschaften gilt die interpretative Gebundenheit der sozialen Erkenntnispraxis in einem doppelten Sinne. Sie setzen Verfahren der Konstruktion von Bedeutungszusammenhängen ein, die letztlich auf alltägliche Verfahren der Bedeutungskonstruktion zurückgehen und von diesen getragen werden. Die soziologische Rekonstruktion knüpft somit an Regeln der alltagsweltlichen Konstruktion an (vgl. Dausien 1996). Sozialwissenschaftliche Analysen sind somit interpretative Konstruktionen von interpretativen (Alltags-)Konstruktionen. Schütz (1971) spricht in diesem Zusammenhang von „Konstruktionen zweiten Grades“ (ebd.: 7).

  4. 4.

    Rosenthal (2002) führt zu diesem Unterpunkt weiter aus: „[w]ir wollen erfahren, was sie [die Handelnden, A.K.] konkret erlebt haben, welche Bedeutung sie ihren Handlungen damals gaben und heute zuweisen und in welchen biographisch konstituierten Sinnzusammenhang sie ihre Erlebnisse stellen“ (ebd.: 134).

  5. 5.

    Auf methodologischer Ebene impliziert die Teilnahme statt der bloßen Beobachtung bei dem Versuch, ‘verstehen’ zu wollen, bestimmte Konsequenzen. Jürgen Habermas (19925: 35 f.) macht in seinen Ausführungen zu Formen kommunikativen Handelns auf drei Konsequenzen aufmerksam. Erstens würden die Forschenden „in die Verhandlungen über Sinn und Geltung von Äußerungen hineingezogen (…) Innerhalb eines – virtuellen oder aktuellen – Verständigungsprozesses gibt es keine Entscheidung apriori darüber, wer von wem zu lernen hat“ (Habermas 19925: 35). Zweitens stelle sich die Frage, wie die Interpretierenden die Kontextabhängigkeit ihres interpretierenden Verständnisses bewältigten. Und schließlich müssten die Interpretierenden ein Wissen erfassen, das sich nicht allein auf Wahrheits-, sondern auf weitere Geltungsansprüche stütze, wie die Richtigkeit von Handlungen, die Angemessenheit von Regeln und die Authentizität von Selbstdarstellungen (vgl. ebd.).

  6. 6.

    Zu grundlagentheoretischen Annahmen zur Methode der teilnehmenden Beobachtung vgl. Kap. 4.3.1.

  7. 7.

    Für diese Tradition prägte Blumer (1969) die Bezeichnung des ‘Symbolischen Interaktionismus’. Matthes (1983) spricht als Verbindung beider Traditionen auch von einer ‘phänomenologisch-interaktionistischen’ Soziologie.

  8. 8.

    Für eine differenzierte Übersicht der Textsorten nach Unterkategorien vgl. Rosenthal 1995: 240 f.

  9. 9.

    Für die Auswertung biographischer Erzählungen nach Schütze ist dabei von besonderer Bedeutung, wie die verschiedenen Zustandsänderungen einerseits als jeweils einzelne und für sich stehende Erzählsegmente entworfen und andererseits in einer die einzelnen Lebensphasen zusammenführenden Gesamterzählperspektive bzw. Haltung zu den Ereignissen, den ausgeführten vier Prozessstrukturen (vgl. Kap. 2.2.1), erinnert werden.

  10. 10.

    Birgit Schwelling (2001) weist in ihrer Darstellung der erzähltheoretischen Grundlagen des narrativen Interviews nach Schütze in diesem Zusammenhang darauf hin, dass der Einfluss des Gegenüber bei einer Stegreiferzählung vernachlässigt werde. So sei etwa die Geschlechts- oder die Generationenzugehörigkeit des/der Zuhörenden bedeutsam. Siehe hierzu auch Rosenthal (1995).

  11. 11.

    Hieraus leiten sich bestimmte Bedingungen der Gesprächsführung ab (vgl. Kap. 4.2.1). Unabdingbare Voraussetzung ist etwa eine offene Gesprächsführung, in der die Erzählenden in ihren Ausführungen nicht unterbrochen werden und sich somit dem durch die Eingangsfrage beabsichtigten Erzählfluss aussetzen können. Die Erzählsituation gleicht darin einem Pakt bzw. Arbeitsbündnis, in das die Erzählenden dadurch einwilligen, dass sie sich dem Strom der Erzählung überlassen.

  12. 12.

    Zu der Frage, inwiefern Darstellungsmuster bis hin zu ihrem formalen Aufbau historisch und kulturspezifisch variieren können, siehe etwa Matthes (1985).

  13. 13.

    Auch Rosenthal (1995: 132) weist in ihren Ausführungen (siehe weiter unten) auf „soziale Vorgaben zur Planung und Deutung des Lebens, also den biographischen Ablaufschemata und den vorgegebenen Sinn- und Deutungshorizonten für ein sinnvolles Leben“ hin, vor deren Hintergrund sich die Erzählung einer Lebensgeschichte vollziehe und die einen konstitutiven Bestandteil des lebensgeschichtlich hergestellten Sinnzusammenhangs als Grundlage einer lebensgeschichtlichen Erzählung darstellten. Gleichwohl, darauf weist Breckner (2005) hin, wurde die genaue Rolle dieser Ablaufschemata bisher erst unzureichend systematisiert.

  14. 14.

    Zur Kritik an der Annahme einer Homologie von Erzähl- und Erfahrungskonstitution vgl. etwa Bude (1985) sowie Kokemohr/Koller (1995).

  15. 15.

    Hierbei wird an Überlegungen von Schwelling (2001) angeknüpft, die sich methodologisch auf Äußerungen Schützes bezieht.

  16. 16.

    Auf das mitunter deutlich spannungsreiche Verhältnis zwischen den beiden unterschiedlichen Zeitebenen aus Gegenwartsperspektive und Vergangenheitsdarstellung weist Schütze auch in seinen Ausführungen zum Verfahren der pragmatischen Brechung hin, bei dem die Beziehung zwischen den Erzählaktivitäten und den Prozessstrukturen untersucht wird (vgl. Schütze 1987b). Wichtig erscheint der Hinweis, bei einem solchen Blick auf das Verhältnis von Gegenwartsperspektive und Vergangenheitsdarstellung als Analyseinstrument zur Annäherung an die Frage, in welchem Verhältnis die befragten Personen zu bestimmten Erfahrungen stehen, die Erfahrungsinhalte nicht eindeutig, etwa unterscheidend nach bestimmten Lebensphasen und -abschnitten, in die dargestellten Kategorien der Prozessstrukturen zu subsumieren. Breckner (2005) weist etwa auf die Möglichkeit unterschiedlicher Perspektiven und Erzählhaltungen zu mitunter synchron verlaufenden Erfahrungsrahmungen und Ereignisabläufen hin.

  17. 17.

    Nach Rosenthal (1995) bestimmt der Gesamtzusammenhang von Erinnerung und Erzählung die Bedeutung von Erinnerungen immer wieder neu. Rosenthal legt Wert auf die Beachtung einer Differenz zwischen erlebter und erzählter Lebensgeschichte. Um die Fallstruktur eines Falls herauszuarbeiten, entwickelte sie über das Verfahren der Fallrekonstruktion ein Vorgehen zur Kontrastierung beider (vgl. Kap. 4.3.2).

  18. 18.

    In Anlehnung an Husserl beschreibt Rosenthal (1995) das Verhältnis von in der Vergangenheit Erlebtem und seiner Darstellung in der Gegenwart mit den Begriffen der Noesis und des Noema. Noesis bezeichnet dabei den Akt der Zuwendung zu den Ereignissen der Vergangenheit, der von der gegenwärtigen Lebenssituation bzw. den jeweils aktuellen ‘Themen’ bestimmt ist. Noema bzw. Erinnerungsnoema bezeichnet in diesem Zusammenhang, dass sich die erinnerten Ereignisse aus der Vergangenheit in einer spezifischen Form darbieten. Rosenthal (2002, 2005) bringt zur Veranschaulichung das Beispiel einer Person, die davon erfährt, dass sie an Multipler Sklerose leidet und die sich plötzlich an bestimmte zurückliegende Alltagssituationen erinnert, so etwa an Situationen, in denen ihr etwas aus der Hand fiel. Das Thema des Erlebens (Noesis), die Diagnose der Krankheit, verändert den Sinnzusammenhang der erinnerten Ereignisse, das thematische Feld (Noema).

  19. 19.

    Dieser Begriff ähnelt Schützes (1981) Ausführungen zur sogenannten ‘biographischen Gesamtformung’. Für beide AutorInnen, wenngleich unterschiedlich nuanciert, setzen sie sich jeweils aus zurückliegenden Erfahrungen, der gegenwärtigen Situation des sogenannten „Biographieträger[s]“ (Schütze u. a. 1984) sowie aus Ereignissen, wie sie für die Zukunft ins Auge gefasst werden, zusammen. Gleichzeitig handelt es sich dabei um eine permanent veränderbare Ordnungsstruktur, die ihre jeweils gültige Gestalt aus der gegenseitigen Durchdringung sowohl eigenintendierter Handlungen als auch sozialstruktureller Bedingungen ableitet. In ähnlicher Form verwendet Hoerning (1989) den Begriff des „biographischen Grundschema[s]“ (ebd.: 155). Fischer (1978) spricht von einem „biographischen Gesamtkonzept“ (ebd.: 322). Daneben formuliert Rosenthal (1995) – ähnlich wie Schütze – formale Prinzipien der Gestaltbildung von Lebensgeschichten: Die Erzählungen müssen für die Zuhörenden nachvollziehbar erscheinen. Das bedeutet, dass mitunter zusätzliche Erklärungen in den Erzählstrang mit einfließen bzw. Erinnerungsinhalte, von denen ausgegangen wird, dass sie auf die Zuhörenden als zu komplex und damit unverständlich oder verwirrend wirken, ausgeklammert werden. Ferner ist die Erzählung auf einen äußeren zeitlichen Rahmen begrenzt, der ebenfalls zu einer Selektion von Erinnerungen beiträgt. Schließlich sorgen biographische Wendepunkte – Rosenthal spricht von Übergängen in verschiedene Lebensphasen wie Kindheit und Adoleszenz bzw. Statuspassagen – für eine Geordnetheit der Erzählung.

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Kempf, A. (2013). Erzähl- und gestalttheoretische Grundlagen des narrativen Interviews. In: Biographien in Bewegung. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-531-19656-5_4

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