Zusammenfassung
Das öffentliche Reden und Nachdenken über Schule hat sich in den letzten Jahren in der Schweiz maβgeblich verändert. Dies hängt unter anderem damit zusammen, dass die neuen Bildungsartikel der Bundesverfassung (Grundgesetz) seit 2006 in der Bildungspolitik neue Akteurkonstellationen provoziert haben: Die Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) als Zusammenschluss aller kantonaler Bildungsdirektoren und -direktorinnen hat einen Verfassungsauftrag, die kantonalen Bildungssysteme hinsichtlich Zielen des Unterrichts und Schulstrukturen zu harmonisieren. Sie hat dadurch ihre Position in der nationalen Bildungspolitik weiter verstärkt, nachdem sie bereits seit den 1990er Jahren durch eine Reihe von interkantonalen Staatsverträgen an Einfluss gewonnen hatte. Dadurch hat sich jedoch auch der Rollenkonflikt der EDK zugespitzt, die sowohl als Garantin des Bildungsföderalismus und damit als Wahrerin der Bildungsautonomie der Kantone auftritt, gleichzeitig die Kantone aber zur freiwilligen Harmonisierung ihrer Bildungssysteme motivieren muss, um dem Verfassungsauftrag gerecht zu werden (Criblez 2010).
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Notes
- 1.
„Der Weg zur leistungsorientierten Volksschule“ (Oktober 2010; verfügbar unter: www.svp.ch/display.cfm/id/101330/disp_type/display/filename/Bildungspapier_deutsch.pdf) und „Der SVP-Lehrplan“ (November 2010; verfügbar unter: www.svp.ch/display.cfm/id/ 101343); recherchiert: 15. April 2011.
- 2.
Inwiefern eine solche neokonservative Tendenz auch in andern europäischen Staaten feststellbar ist, müsste genauer geprüft werden; vergleichbare Entwicklungen waren in den USA und in England jedenfalls schon in den 1990er Jahren nachweisbar (Criblez 1998b). In Deutschland zeigten sich ähnliche Tendenzen mit dem grossen öffentlichen Echo auf das „Lob der Disziplin“ von Bernhard Bueb (2006; kritisch: Brumlik 2007). Buebs Schriften dienten der SVP in verschiedener Hinsicht als Vorbild.
- 3.
Der vorliegende Beitrag hat vorwiegend heuristischen Charakter. Er ist als erster „Werkstattbericht“ aus den Vorbereitungen zu einem gröβeren Forschungsvorhaben zur längerfristigen Veränderung der Bildungsverwaltung zu verstehen.
- 4.
Der Bund konnte die Berufsbildung in folgenden Sektoren regeln: Industrie, Gewerbe, Handel, Landwirtschaft und Hausdienst. Die übrigen Berufsbildungsbereiche verblieben bis zur Verfassungsrevision 1999 in der Regelungskompetenz der Kantone (Späni 2008).
- 5.
„2 Die Kantone sorgen für genügenden Primarunterricht, welcher ausschlieβlich unter staatlicher Leitung stehen soll. Derselbe ist obligatorisch und in den öffentlichen Schulen unentgeltlich. 3 Die öffentlichen Schulen sollen von den Angehörigen aller Bekenntnisse ohne Beeinträchtigung ihrer Glaubens- und Gewissensfreiheit besucht werden können. 4 Gegen Kantone, welche diesen Verpflichtungen nicht nachkommen, wird der Bund die nötigen Verfügungen treffen“ (Bundesverfassung vom 29. Mai 1874, Art. 27).
- 6.
Zu den direktdemokratischen Rechten und deren Einfluss auf die Bildungspolitik im politischen System der Schweiz vgl. Criblez 2011.
- 7.
Diese ehrenamtlichen Ämter und Funktionen waren u.a. attraktiv, weil sie oftmals als Einstieg in ein anderes politisches Amt auf kommunaler, regionaler oder kantonaler Ebene galten.
- 8.
Als kantonale Bildungsverwaltung wird bei der Untersuchung der beiden Kantone Bern und Zürich im Folgenden der dem per Volkswahl gewählten Mitglied der Kantonsregierung (Erziehungsdirektor) unterstellte Bereich der kantonalen Verwaltung (damals in beiden Kantonen als Erziehungsdirektion bezeichnet) verstanden, dessen Personal sich haupt- oder nebenamtlich mit Bildungsfragen beschäftigt.
- 9.
Die Schülerzahlen der Mittelschulen umfassen neben den Schülerinnen und Schülern des Gymnasiums (inklusive Langzeitgymnasium) diejenigen der Handelsschulen und der Diplommittelschulen.
- 10.
Für die längerfristige Entwicklung der Volksschule im Kanton Zürich vgl. Rychner-Delmore 1982; für die Mittelschulen: Imhof/Delmore/Ottiger 1984.
- 11.
Ohne Technikum; ab 1971 inkl. Maturitätsschule für Erwachsene; der Entwicklungssprung bei den Mittelschulen 1975/1976 ist einerseits auf verschiedene gleichzeitige Neugründungen in der Stadt Zürich sowie auf Übernahme der städtischen Töchterschule durch den Kanton zurückzuführen.
- 12.
- 13.
Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 29. Mai 1874; Art. 27quinquies, Abs. 1, angenommen in der Volksabstimmung vom 26./27. September 1970; Hervorhebung LC.
- 14.
- 15.
1970 erschien Lothar Kaisers „Die Fortbildung der Volksschullehrer in der Schweiz“ als erste systematische Situationsanalyse. Er unterschied zwischen Fort- und Weiterbildung (Kaiser 1970, 1f.), wobei die Fortbildung mit Anliegen des Qualifikationserhalts und der Qualifikationserweiterung für den angestammten Lehrberuf verbunden wurde, die Weiterbildung dagegen mit der Qualifikationserweiterung im Hinblick auf neue Unterrichtsberechtigungen (andere Schulstufen, zusätzliche Fächer). Einige Jahre später wurde diese Unterscheidung im Expertenbericht „Lehrerbildung von morgen“ (Müller et al. 1975) übernommen und konzeptionell bestätigt. Die Unterscheidung war für die Bildungsverwaltung von zentraler Bedeutung, weil die Lehrerfortbildung staatlich, die Lehrerweiterbildung von den Nachfragenden, also individuell, finanziert werden musste. Sie wurde erst mit den Reformen in den späten 1990er Jahren aufgegeben.
- 16.
Quelle: Geschäftsberichte der Direktion des Erziehungswesens [des Kantons Zürich], 1960ff.
- 17.
Vgl. etwa die von der Erziehungsdirektion/Arbeitsgruppe für Bildungsplanung und Bildungsstatistik bzw. der Pädagogischen Abteilung zwischen 1969 und 1980 publizierten Studien, fortgesetzt von den „Berichten aus der Pädagogischen Abteilung“, oder die Schriftenreihe der Erziehungsdirektion des Kantons Bern, die seit 1968 erschien.
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Criblez, L. (2012). Die Expansion der Bildungsverwaltung in den 1960er und 1970er Jahren – am Beispiel der Kantone Zürich und Bern. In: Geiss, M., De Vincenti, A. (eds) Verwaltete Schule. Educational Governance, vol 20. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-531-19469-1_7
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