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Spiele mit dem rituellen Idiom: Bedeutungsmanagement im Alltag

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Zur Aktualität von Erving Goffman
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Zusammenfassung

Das vorhergehende Kapitel hat vor allem von Präsentationen und Ritualen in Teams und vor Publikum gesprochen, mit gegenseitigen Unterstellungen und Eindrucksmanagement. Es hat damit die Begriffe verwendet, die Goffman mit Hilfe der Metaphern des Theaters und des Rituals entwickelt hat. Zusätzlich habe ich bereits beständig vom „rituellen Idiom“ und im Ansatz vom „Spiel“ gesprochen: Ihre Darstellungsleistungen erbringen die Akteure im Rahmen von unterstellten Erwartungen anderer im looking-glass self, Erwartungen, mit denen sie umgehen. Ein wesentlicher, vielleicht der wesentliche Aspekt des goffmanschen Werkes und ein Punkt, auf den er immer wieder rekurriert, besteht aus der Feststellung, dass diese Unterstellungen nicht Situationen vorgeben, sondern in Situationen benutzt werden: Wir sind nicht Gefangene von Erwartungen, nicht Eingeschlossene in sozialen Begrenzungen, sondern handelnde Menschen, die in einem Feld unterstellter Erwartungen anderer in Bedeutungen navigieren, auf Erwartungen reagieren müssen.

The power of accurate observation is commonly called cynicism by those who have not got it.

George Bernard Shaw, The World (18 July 1894), Music in London 18901894 being criticisms contributed week by week to The World (New York: Vienna House, 1973).

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Notes

  1. 1.

    Diesen Punkt hier ausführlich zu diskutieren würde nicht nur den Rahmen sprengen, sondern uns auch vom eigentlichen Thema abbringen. Im Umgang mit Lernenden ist immer wieder nachvollziehbar, wie unbefriedigend die Idee ist, dass Sprache aus Regeln bestünde, denn wer eine Sprache in der Schule gelernt hat und Regeln memorisiert hat, spricht eine gestelzte, unnatürliche Sprache, die nach wenigen Worten als nicht-muttersprachlich erkannt wird. Erst die Immersion mit echten Sprecherinnen lässt die Sprache natürlich werden: nämlich in dem Maße, in dem nicht mehr nach Regeln gesprochen wird, sondern die Erwartungen und Reaktionen echter Sprecher unterstellt werden. Der moderne Sprachunterricht hat diese Einsicht inkorporiert, indem er nicht das Auswendiglernen von Grammatikregeln, sondern freie Verwendung an den Anfang stellt (was allerdings nur funktioniert, wenn die Person, mit der gesprochen wird, auf Muttersprachlerniveau ist – was für die meisten Lehrer an Schulen nicht gilt). Computerisierte übersetzung hat eine ähnliche Evolution durchgemacht und übersetzt nicht mehr durch Abgleich mit Regelkatalogen und Wörterbüchern, sondern in einem Textvergleich: Die Eingaben laufen über das Internet in riesige Datenbanken professionell übersetzter Texte, gleichen ganze Segmente ab und lernen aus neuen übersetzungen hinzu.

  2. 2.

    Huizinga nennt das den „Zauberkreis“, eine Herangehensweise, die in der Literatur gerne sehr starr rezipiert wird. Diese Metapher ist mit Goffmans Herangehensweise gut zu verbinden und kann für goffmaneske Analysen nutzbar gemacht werden (Huizinga 1950; vgl. Tietz 2013).

  3. 3.

    Er unterscheidet diese Festlegung von der weiteren Handlung, diese Festlegung zu kommunizieren „as is demonstrated by the fact that often in games our object is to make a move without informing the opposing team that we have made it“ (ENC: 35).

  4. 4.

    Die potentiell desaströsen Konsequenzen von plays, an deren Ende ein neuer Status Quo stehen könnte, der weitere Interaktion schwierig macht, führt im übrigen, wie Goffman bemerkt, zur „tendency for certain delicate transactions to be conducted by go-betweens“ (IR: 15). Wenn es bei der Verhandlung aufgrund der mitgedachten Positionen und einem unglücklichen Spiel mit ihnen zum Desaster kommen sollte, können die beiden „Entsender“ sich immer noch treffen, sich von den Handlungen der Gesandten distanzieren und „neu beginnen“.

  5. 5.

    Wieder bedeutet „nützlich“ nicht „wahr“: Es geht nicht darum, festzustellen, dass die Welt „tatsächlich“ ein Spiel mit Bedeutungen sei, sondern darum, was gewonnen werden kann, wenn wir es zum Zweck der Analyse metaphorisch als ein solches betrachten.

  6. 6.

    Diese Präsenz ist nicht einmal physisch nötig: Dass es um Antizipation geht, bedeutet zudem, dass diese Gemeinsamkeit der Definition nicht davon abhängt, dass andere Personen physisch präsent sind. „An individual may be his own audience or imagine an audience to be present“ (POS: 81–2), denn die Idee des looking-glass self geht ohnehin davon aus, dass es sich in den Urteilen der anderen Personen, soweit sie für die Person relevant werden, um die Unterstellungen dieser Urteile handelt. In einem wichtigen Sinne sind also alle Urteile anderer Personen in gewisser Hinsicht „imaginär“, da sie in unsere Handlungen nur als unsere Interpretation dieser Urteile einfließen.

  7. 7.

    Das ist im übrigen eine Strategie, die wir im Alltag ständig verwenden. Ob es darum geht, Telefongespräche zu beenden oder einen sozialen Anlass wie z. B. einen Besuch von Freunden in der eigenen Wohnung aufzulösen. Die Person, die zuerst bereit ist, die Begegnung zu beenden, gibt kleine Zeichen dieser Bereitschaft: sie gähnt, schaut auf die Uhr, bietet nicht an, die Drinks nachzufüllen, sagt „es ist ja schon spät“ (das wäre schon forsch) – und wartet darauf, bis die anderen reagieren, indem sie anfangen, sich bereitzumachen, zu gehen. Diese Zeichen sind wichtig, denn sie erlauben es, vorher nonverbal abzustimmen, dass beide Seiten bereit sind, die Begegnung aufzulösen, bevor es jemand tatsächlich beginnt oder verbalisiert. Würde diese Bereitschaft vor dieser Abstimmung offen kommuniziert, könnte das die andere Seite überraschen – und ihr „Gesicht“ kosten, denn dann wäre es ein Rausschmiss, eine Setzung einer Definition der Situation ohne ihre Beteiligung. Das könnte (im schlimmsten Fall) sogar als hierarchische Handlung verstanden werden. Indem die Bereitschaft vorher abgestimmt wurde, wird damit klargestellt, dass beide in der Tat auf derselben Seite sind: Es wahrt also Gesicht auf beiden Seiten.

  8. 8.

    Es wird beim Lesen von Goffmans Werk, vor allem in Presentation of Self, immer wieder deutlich, dass Goffman seine erste Feldforschung im Großbritannien der 1950er Jahre verrichtet hat: Die Rituale, die er beschreibt, waren in einer dermaßen klassistischen Gesellschaft besonders auffällig. Noch auffälliger ist jedoch, dass diese Rituale auch in den „klassenlosen“ (im Sinne eines Fehlens einer Ständegesellschaft) USA und auch im gegenwärtigen Europa durchaus weiterhin auffindbar sind, nach einer öffentlichen Egalisierung der Umgangsformen lediglich nicht mehr so unverschämt offen.

  9. 9.

    Downton Abbey, Staffel 2, Episode 2.

  10. 10.

    Aber auch Where the Action Is ist ein flaneurethnografischer Text, wie alle anderen Texte Goffmans auch, der neben dem Material zu Spielern Zeitungsausschnitte, eigene Erlebnisse, Szenen aus James Bond und Texte Hemingways verwendet.

  11. 11.

    Aber auch das ist ein Bindungszeichen: „informality can be partly defined as a license to flood out on minor pretexts“ (IR: 58), so dass „Zerfließen“ in einer Freundschaftsbeziehung auch als „Öffnung“ interpretiert werden kann, die dann als Angebot lesbar wird, eine neue, diesmal sehr intime Beziehung einzugehen. Geht die andere Seite unterstützend und verständnisvoll auf das „Zerfließen“ ein, ist diese neue Beziehung nun ratifiziert.

  12. 12.

    Das führt dazu, dass ein Beeinflusser, der Drohungen ausspricht, sich letztlich als Psychopath dramatisieren muss, um ernstgenommen zu werden. Unterstellt man einen rationalen Akteur, ist die Drohung von vornherein leer, denn wäre es ein Vorteil für den Drohenden, die Fotos zu veröffentlichen, hätte er es bereits getan; was er will, ist nicht die Veröffentlichung der Fotos. Wenn man dem Gegner unterstellt, solche Berechnungen nicht zu machen und „unberechenbar“ zu sein, wird dieser Gegner – ironischerweise – anders berechenbar. Damit die Gegenseite also damit rechnet, dass die Drohung Anwendung findet, muss sie mit einer „Psycho-Show“ einhergehen. Auch das ist in Filmen als rituelle Ressource, auf die Spieler zurückgreifen können, reichlich dokumentiert.

  13. 13.

    Dieses „Müssen“ ist, einmal wieder, eine Interpretation, und wo die Linie liegt, über der eine Herausforderung als „offen“ definiert wird, liegt in den gegenseitigen Unterstellungen der Teilnehmer in ihrem Umgang mit dem rituellen Idiom, das für solche Herausforderungen zur Verfügung steht.

  14. 14.

    Herausforderungen, die ohne Publikum erfolgen, können häufig einfach ignoriert werden, um sie zu gewinnen. Herausforderungen mit Publikum können auf dieselbe Art und Weise gespielt werden, hier jedoch mit der hinzugefügten Schwierigkeit, dass das Publikum mit dem Ignorienden im Team spielen und die Herausforderung als eine definieren muss, die der Angegriffene ignorieren sollte, damit der Zug funktioniert. In Zweierspielen ist keine solche Koalition nötig, und ausnahmslos jeder Angriff kann erfolgreich ignoriert werden.

  15. 15.

    Die Bedeutungen dieser Darstellungen können nicht abstrakt expliziert werden; weder Goffman noch ich haben Zugang zu einem abstrakten Bedeutungsraum, aus dem wir ableiten könnten, was diese Darstellungen „wirklich bedeuten“; ihre Bedeutung erschließt sich aus der gegenseitigen Bezugnahme der Personen und ihrer Reaktionen aufeinander.

  16. 16.

    Eine ausführliche Diskussion dieser Thematik würde den Rahmen dieser Einführung sprengen und ist Thema einer kommenden Publikation.

  17. 17.

    Interessanterweise versieht Goffman diese Bemerkung mit einer Fußnote: „This may be a more practical than theoretical constraint“ (SI: 114, fn 32), wieder wohl deshalb, um sich dagegen zu wehren, von ariden Debatten über Akteur-Struktur-Theorien vereinnahmt zu werden.

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Dellwing, M. (2014). Spiele mit dem rituellen Idiom: Bedeutungsmanagement im Alltag. In: Zur Aktualität von Erving Goffman. Aktuelle und klassische Sozial- und Kulturwissenschaftler|innen. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-531-19261-1_5

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  • DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-531-19261-1_5

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  • Publisher Name: Springer VS, Wiesbaden

  • Print ISBN: 978-3-531-19260-4

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