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Warum wird das „ganz normale Chaos“ zum Problem? Jugendämter als Hybridorganisationen mit Souveränitätsverlust

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Organisation und Unsicherheit

Part of the book series: Organisationssoziologie ((ORGANISAT))

Zusammenfassung

Jugendämter haben in der Organisationssoziologie bislang nur wenig Aufmerksamkeit gefunden. Trotz einiger theoretischer und empirischer Vorarbeiten harrt dieser spezifische Typus formaler Organisationen immer noch einer analytischen Durchdringung mit organisationssoziologischem Blick. Die folgende Analyse soll dabei helfen, die jüngsten Entwicklungen in diesen Organisationen und ihrer Umwelt besser zu verstehen, insbesondere im Hinblick auf den in der Medienöffentlichkeit permanent kursierenden Defizitverdacht, gegen den sich die „Angeklagten“ mit großen Mühen, aber doch eher vergeblich zu wehren versuchen.

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Notes

  1. 1.

    Die (nachfolgend beispielhaft zu Illustrationszwecken herangezogenen) Ergebnisse basieren auf ca. 100 Interviews mit Fachkräften sowie teilnehmenden Beobachtungen an Fallkonferenzen und Netzwerkveranstaltungen. Hinzu kommen Befunde einer ca. 500 normsetzende Texte und Organisationsdokumente umfassenden Dokumentenanalyse. Im Rahmen dieses Beitrags kann der der Studie zu Grunde liegende Erkenntnisprozess nicht systematisch durch Belege untermauert werden – lediglich einige besonders schillernde Evidenzen aus dem Feld werden in Form von Kurzzitaten in die Gesamtdarstellung eingefügt. Die Kennzeichnung der Interviewpassagen ist differenziert nach Organisationstyp (Legende: ASD = Allgemeiner sozialer Dienst des Jugendamts; FT = freier Träger der Jugendhilfe; BL = Behördenleitung, höhere Administration), Hierarchieebene (Legende: MA = Mitarbeiter(in); Ltg = Leitungsebene, Koordination) und lokalem Setting (Legende: S 1–5). In die Untersuchung einbezogen wurden – ausgewählt im Rahmen eines theoretisches Samplings nach maximaler Varietät der sozialstrukturellen, -ökonomischen und -politischen Bedingungen – zwei großstädtische Bezirke in Nord- und Ostdeutschland, zwei Landkreise in Süd- und Südwestdeutschland sowie eine Großstadt in Westdeutschland. Nähere Angaben entfallen aus Gründen der Anonymisierung.

  2. 2.

    Konkrete Handlungsabläufe expliziert der 2005 durch das Kinder- und Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetz (KICK) neu eingefügte § 8a SGB VIII (s. dazu Abschn. 4).

  3. 3.

    In unseren Interviews betonten Jugendamtsmitarbeiter häufig, dass es einen typischen Arbeitsalltag nicht gebe („Jeder Fall ist anders.“) (Ltg ASD1 S2, MA ASD1 S5). Stattdessen hätten sie es regelmäßig mit „Graubereichen“ oder „Grenzfällen“ sowie abrupt über sie hereinbrechenden Neuentwicklungen und Wendungen zu tun (MA ASD1 S2, MA ASD2 S2, MA ASD2 S1; vgl. auch Böwer und Wolff 2011, S. 145 f.).

  4. 4.

    Managerialismus wird in der schon klassischen verwaltungswissenschaftlichen Definition von Edwards (1998) von drei Grundmaximen bestimmt: Kosteneffizienz als primäre Richtschur aller Handlungen und Entscheidungen; die Durchsetzung harter, mit Belohnungen und Sanktionen hinterlegter, Lenkungsroutinen; die Delegation der Führungsverantwortung an auf (betriebswirtschaftliche) Managementfunktionen spezialisierte Leitungskräfte.

  5. 5.

    Wenngleich deren hochgradig lokalisierte Implementation Raum für Abweichungen und Modifikationen lässt (Böwer und Wolff 2011, S. 147 ff.).

  6. 6.

    Ein Beispiel unter vielen sind sog. Familienräte, bei denen Selbsthilfeprozesse auf der Ebene von Großfamilien anmoderiert werden sollen.

  7. 7.

    So scheint es nicht verwunderlich, dass viele freie Träger – trotz erklärter Vorbehalte gegenüber Tendenzen der Ökonomisierung – bekennen, ihre Betriebe seien schließlich auch „Wirtschaftsunternehmen“ (Ltg FT2 S3, Ltg FT3 S3, Ltg FT2 S1), häufig auf Kunden- oder Dienstleistungsmetaphern rekurrieren, „Marketingkonzepte“ erarbeiten (Ltg ASD3 S4) und versuchen, z. B. in puncto „Flexibilität“ mit der Konkurrenz Schritt zu halten (Ltg FT2 S3, Ltg FT1 S4), um sich mit ihren (möglichst exakt und differenziert zu beschreibenden und begründenden) „Produkten“ (MA FT3 (2) S1, Ltg FT2 S2) auf dem Markt zu behaupten.

  8. 8.

    Dies betrifft neuerdings auch originär jugendamtsspezifische Arbeitsbereiche wie die Abklärung des Hilfebedarfs, Hausbesuche bei akuten Krisen oder Inobhutnahmen, v. a. aber Beratungsaufgaben. Praktiker berichten im Interview, dass durch diese Externalisierungstendenzen die „ganzheitliche Sicht“ und „dialogische Kompetenz“ des ASD leide und ggf. sogar Mehrkosten entstünden (Ltg ASD1 S1).

  9. 9.

    Dabei gibt es bezeichnenderweise Vorstöße, gerade Mitarbeitern dieser Organisationseinheiten höhere Gratifikationen (Gehälter) zu gewähren.

  10. 10.

    Die Diskurse der Beschäftigten stehen für sich: Ehemals „leidenschaftlich“ ausgeübte, sozialpädagogisch qualifizierte Beziehungsarbeit werde ersetzt durch „technokratische Arbeitsprozesse“ und ein lediglich „formelles Abarbeiten von Anträgen“ (MA ASD3 S1, Ltg ASD3 S1); Dienstanweisungen müssten trotz Angst vor Abmahnungen gebrochen werden, um überhaupt noch Zeit für die Familien zu haben.

  11. 11.

    Zudem werden die zahlreichen Steuerungsbemühungen „vom grünen Tisch“ von den Mitarbeitern an der Basis zuweilen als „unqualifiziert“ empfunden (MA ASD1 S1). So erscheinen z. B. aus ihrer Sicht obligatorische Hausbesuche oder die schematische Anwendung des Mehraugenprinzips in Einzelfällen fachlich gerade nicht geboten, wenn die für Interventionen erforderliche Vertrauensbeziehung zu den Klienten dadurch überstrapaziert wird.

  12. 12.

    Zumindest an dieser Stelle sollte man das Kernargument des Neo-Institutionalismus ernst nehmen: Geht erst einmal die Identität einer institutionell normierten Organisation verloren, dann wirken auch die Mechanismen nicht mehr, die ihr einen institutionellen Charakter und damit – trotz schwieriger oder gar unmöglicher Leistungsnachweise – eine gesellschaftliche Existenzberechtigung verschaffen.

  13. 13.

    Die schlechte Erreichbarkeit der Jugendämter etwa, die ihre Kooperationspartner oft beklagen, dürfte auch mit dem rapide steigenden „workload“ pro ASD-Kraft zusammenhängen. Die vergleichsweise geringe Vergütung, eine enorme psychische Belastung und das schlechte Berufsprestige haben ebenfalls handfeste Konsequenzen. Hier wirkt möglicherweise ein Teufelskreislauf: Der o. g. Vertrauensverlust in staatlich protegierte Instanzen führt zu verschärften Arbeitsbedingungen und diese wiederum verschärfen Ressourcenprobleme in den Organisationen.

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Bode, I., Turba, H. (2015). Warum wird das „ganz normale Chaos“ zum Problem? Jugendämter als Hybridorganisationen mit Souveränitätsverlust. In: Apelt, M., Senge, K. (eds) Organisation und Unsicherheit. Organisationssoziologie. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-531-19237-6_7

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