Zusammenfassung
Zusammenhalt verweist auch auf das Zusammenfügen etwas Getrenntem und einer zumindest temporären Stabilisierung dieses Gefüges. Das Getrennte bleibt dabei getrennt, es geht nicht in einer Einheit auf, es entsteht vielmehr ein spezifisches Verhältnis der Elemente zueinander.1 Diese Relation kann verschiedene Formen annehmen, verschiedene Beziehungsmodi, die sich u. a. als komplementär, asymmetrisch oder gar antagonistisch beschreiben lassen. Die Frage, wie Zusammenhalt erzeugt wird, wird so zur Frage, wie etwas miteinander in Beziehung tritt und dabei eine relative Stabilität entsteht. Die in diesem Beitrag vorgeschlagene Argumentation richtet sich auf soziale Praktiken als Momente des Zusammenhalts. Soziale Praktiken sind routinisierte und sozial verstehbare Bündel von Aktivitäten, die sich miteinander verketten. Diese Verkettung, die von Andreas Reckwitz als „lose Kopplung“ (Reckwitz 2003: 295) und von Frank Hillebrandt als „operative Bezüglichkeit“ (Hillebrandt 2009: 54) – um nur zwei Vertreter einer Soziologie sozialer Praktiken zu nennen – gefasst wird, weist keine grundlegende wechselseitige Abgestimmtheit getrennter Entitäten auf, sondern kann durch Widersprüchlichkeiten und Überlappungen gekennzeichnet sein. Durch diese Offenheit auch für andere Beziehungsmodi als Komplementarität oder Ganzheit werden soziale Praktiken für Phänomene des Zusammenhalts interessant, die sich durch Vielschichtigkeit auszeichnen wie z. B. in komplexen Arbeitszusammenhängen. Derlei Arbeitsalltage sind im besonderen Maße durch Unplanbarkeit und Unsicherheit in den alltäglichen Abläufen geprägt, die u. a. durch eine massive Parallelität und Verwobenheit von Projektflüssen erzeugt werden (Lengersdorf 2011). Aber auch Veränderungen in den betrieblichen Koordinations- und Steuerungsmodi hin zu einer Subjektivierung von Arbeit (u. a. Moldaschl 2002) und Vervielfältigungen relevanter Wissensformen (u. a. Nonaka/Takeuchi 1997), eingesetzter Technologien (u. a. Castells 2001) oder auch von Geschlechterarrangements (u. a. Aulenbacher 2005) tragen zu einer zunehmenden Komplexität bei.
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Notes
- 1.
Die Geschlechterforschung beispielweise konnte zeigen, dass solcherlei Zusammenhalt eine erstaunliche Stabilität hervorbringen kann, denn Frauen und Männer werden noch immer als voneinander getrennt erlebt und sie halten dennoch an vielen Orten der Gesellschaft zusammen: in Familien, in Paarbeziehungen oder als Chef und Sekretärin.
- 2.
Der Begriff des ‚Kollektivakteurs‘ verweist auf die kollektive Zugehörigkeit ihrer Akteure. Die sich aus der Zugehörigkeit bildende ‚Akteurs-Form‘ weist über die einzelnen Akteure hinaus, indem sie eine kollektive Form der Bündelung von praktischen Wissensformen darstellt. Reckwitz führt den Begriff der Subjektform (vgl. Reckwitz 2006) ein. Ich verbleibe bei der Terminologie des Akteurs, da dieser ein für die techniksoziologischen Überlegungen anschlussfähiger Begriff ist.
- 3.
Anja Frohnen (2005) hat in ihrer Studie über die Forschungs- und Entwicklungsabteilung eines Automobilherstellers ebenfalls eine solch hergestellte Mitgliedschaft feststellen können. Diese war an Nationalität gebunden.
- 4.
Die hier ebenfalls sichtbar werdende Erzeugung der „Forscherin“, die „ich“ ebenfalls mit vollzieht, soll hier unberücksichtigt bleiben, da sie für die weitere Argumentation nicht ausschlaggebend ist.
- 5.
Es ist nicht allein der Prozess des Zusammenhaltens, sondern zugleich die Erzeugung der Illusion, dass das „Innen“ über eine Totalität verfügt. Eine Totalität mit klaren Grenzmarken nach „Außen“ (vgl. Laclau/Mouffe 2006: 142).
- 6.
Mit dem Soziologen Gabriel Tarde (auf den sich neben Max Weber auch Karl Mannheim und Gilles Deleuze bezogen haben) und u. a. dem Politikwissenschaftler Ernesto Laclau kann man schließen, dass erst dieses Moment überhaupt ein Soziales möglich macht.
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Lengersdorf, D. (2013). Fortlaufendes Zusammenhalten von Differentem Soziale Praktiken in einer Internetagentur. In: Pries, L. (eds) Zusammenhalt durch Vielfalt?. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-531-19152-2_9
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