Zusammenfassung
Einmal angenommen, über Nacht realisierte sich ein Menschheitstraum und alle, wirklich alle Formen rassistischer und geschlechtsbezogener Diskriminierung gehörten auf einen Schlag der Vergangenheit an. Zweifellos ein erhebender Gedanke. Aber: Auch dann hätte sich am nächsten Morgen noch nichts an der sozialen Differenz zwischen Oben und Unten, zwischen Arm und Reich geändert, auch dann wären die einkommens- und vermögensbezogenen soziostrukturellen Ungleichgewichte als solche immer noch vorhanden – lediglich die Differenzlinien, also deren Verläufe entlang „Race“1- und Gender-Kriterien, hätten sich verschoben.
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Notes
- 1.
Der Begriff „Race“ ist nicht mit dem biologisch-genetisch definierten deutschen Begriff „Rasse“ gleichzusetzen. Er wird „im US-amerikanischen Sprachgebrauch habituell begriffen und steht sowohl für den regionalen und ethnisch-kulturellen Ursprung eines Menschen […] als auch für andere Formen von Gemeinschaften.“ (Schenk 2006: 4)
- 2.
Weitestgehend offen bleibt indes, mit welchem Verständnis von Diskriminierung hier operiert wird. Andreas Zick und andere etwa verstehen Diskriminierung als Unterscheidungshandlung mit benachteiligendem Effekt (vgl. Zick 1997). Zudem gibt es natürlich auch sexuelle und rassistische Formen der Ausbeutung. Historisch sind Sexismus, sexualisierte Gewalt und Frauenunterdrückung zudem älter als Neoliberalismus und Kapitalismus. Wenngleich es außerhalb des Fokus des vorliegenden Aufsatzes liegt, wäre deshalb etwa kritisch anzufragen, welchen historischen Anspruch die Aussagen von Michaels haben. Wie wird theoretisch das Verhältnis von Sexismus (inklusive Gewalt, Arbeitsteilung und Ausbeutung bezahlter Erwerbsarbeit und unbezahlter Arbeit/Care-Arbeit) und Neoliberalismus gesehen?
- 3.
Ohne hier „namedropping“ praktizieren zu wollen, ließen sich an besonders prominenten Fällen etwa das Ende der Kritischen Psychologie in der Tradition Klaus Holzkamps an der FU Berlin oder auch das faktische Auslaufen der politikwissenschaftlichen Schule nach Wolfgang Abendroth an der Uni Marburg anführen, weitere Fälle in allen Fachrichtungen geistes- und sozialwissenschaftlicher Provenienz wären leicht benennbar.
- 4.
Martin Scorsese hat in seinem Film „Gangs of New York“ dieses aus der Geschichte sattsam bekannte Phänomen am Beispiel der New Yorker Bandenkämpfe zwischen aus England stammenden Einwanderern der ersten Generation und aus Irland kommenden Personen der zweiten Generation in der Mitte des 19. Jahrhunderts eindrücklich vor Augen geführt.
- 5.
In seiner seit 2002jährlich durchgeführten Einstellungs- und Wertestudie „Deutsche Zustände“ diagnostiziert Wilhelm Heitmeyer 2010 bei der von sozialer Unsicherheit und Abstiegsängsten geplagten Mittelschicht eine „rohe Bürgerlichkeit“ im Zuge einer „sozialen Vereisung“ des gesellschaftlichen Klimas, die sich in einem „Klassenkampf von oben“ und somit in einem Anstieg abwertender, unsolidarischer Einstellungen gegenüber benachteiligten Gruppen der Gesellschaft äußert. Dies betrifft vor allem „Ausländer“ (hierbei vor allem solche, die als Muslime identifiziert werden) und Sozialhilfeempfänger (vgl. Heitmeyer 2010).
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Lederer, B. (2013). Migrationsforschung in der neoliberalen Marktgesellschaft. Eine Kritik an der Vernachlässigung der sozialen Frage in Anlehnung an Walter Benn Michaels. In: Mecheril, P., Thomas-Olalde, O., Melter, C., Arens, S., Romaner, E. (eds) Migrationsforschung als Kritik?. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-531-19145-4_7
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