Zusammenfassung
Bildungsbiographien sind eine exponierte Form der kommunikativen Gestaltung der an Individuen in modernen Gesellschaften gerichteten Erwartung, eine Individualität auszubilden. Vor diesem Hintergrund eines performativen Verständnisses von Bildungsbiographien rekonstruiert der Beitrag an zwei signifikanten Fällen die Entwicklung grundlegender Ausprägungen von Anspruchsindividualitäten. Auf der sozialen Ebene - so wird herausgearbeitet - geht es um die Strukturierung von Individualität durch die Differenz Abweichung/Konformität, auf der temporalen Ebene durch die Differenz von Diskontinuität/Kontinuität. Diese Strukturierungsformen bleiben im Zeitverlauf bildungsbiographisch weitgehend stabil trotz der zahlreichen Veränderungen von Bildungsgestalten zwischen 1984 und 2009 und der Kontexte, in die sie eingebettet sind. Dabei lassen sich an den Fällen zur Fokussierung der Prozesshaftigkeit von Individualität vektorial lineare und rekursiv zirkuläre Prozessformen beobachten. Diese Unterscheidung wird abschließend genutzt, um die Fallrekonstruktionen in den Zusammenhang des zeitdiagnostischen Diskurses über Individualitätsformen im Spannungsverhältnis von Biographie und Karriere zu stellen.
Access this chapter
Tax calculation will be finalised at checkout
Purchases are for personal use only
Notes
- 1.
- 2.
Traditionelle Individualitäten basieren eher auf Erfahrungen der Einheit. Beide Individualitätsformen stehen jedoch nicht, wie Luhmann nahe legt, alternativ zueinander. Zu einem anthropologischen Begriff vom Menschen, der die „Differenz im Menschen, den Menschen als Differenz“ betont, vgl. Menke 2007, S. 44.
- 3.
Vgl. in historischer Sicht Langewand 1994; zur Bedeutung des Konzepts narrativer Identität vgl. Koller 2012a, insbes.: 34 ff.; zur Relevanz der sprachlichen Artikulation insbes.: 153 ff.
- 4.
Zur Individualität als „Kommunikationsform“ siehe: Lehmann (2011, S. 41).
- 5.
Zur biographischen Identität vgl.: Zirfass und Jörissen 2007, insbes. S. 166 ff.
- 6.
Zur Empirie unabgeschlossener Bildungsprozesse vgl.: Kade 1985, 2011, zum „Scheitern als Bildungsprozess“ vgl.: Koller 2012a, S. 183 ff.; zu empirischen Formen des Scheiterns von Individuen an ihrer unbewältigten Individualisierung im Kontext von gerade auch pädagogisch strukturierten alltäglich-normalen Bildungsprozessen vgl.: Kade und Seitter 1996, insbes. 143 ff.; zum Scheitern als „akzeptable Option“ von Individualität: Lehmann 2011; zum „eingebildeten Individuum“ vgl. Bunia (2010, S. 673).
- 7.
Zur Serialität von bildungsbiographischen Gestalten und Bildungsbiographie im Prozess des Biographisierens vgl.: Kade (2011, S. 33 ff.).
- 8.
Die Fälle entstammen dem Zusammenhang eines von der DFG geförderten Projekts zur Analyse prekärer Bildungsbiographien zwischen 1984 und 2009 (vgl. Fischer und Kade 2012). Sigle und Zählung beziehen sich auf den Status (Teilnehmer/-in) der Befragten in den Erstinterviews aus den 1980er Jahren und die laufende Nummer der Datenerhebung. Dass es sich in beiden Fällen um Frauen handelt, wird nicht als Besonderheit verstanden, sondern als Möglichkeit, die für modernen Bildungsbiographien typische Mischung von Kontinuität und Diskontinuität besonders gut sichtbar werden zu lassen, ohne die Besonderheit der strukturellen Benachteilungen von Frauen im Blick auf Biographie und Lebenslauf (vgl. Krüger 2010) zu leugnen.
- 9.
Üblicherweise versteht man solche Personennamen als Maskierungen der interviewten Personen. Diese Funktion haben sie auch. Wir markieren damit aber zugleich einen Verweis darauf, dass man sich mit der Re-Konstruktion immer auch von den ‚ursprünglichen‘ Personen entfernt und eine ihnen gegenüber zumindest partiell eigenständige Wirklichkeit erzeugt. Siehe in diesem Zusammenhang auch den seit den 1980er Jahren sich unter dem Stichwort „autofiction“ entwickelnden Diskurs (vgl. www.autofiction.org;) im Spannungsfeld von „Wahrheit und Erfindung“ (Koschorke 2012).
- 10.
Das Soziologie-Studium hat in dieser Hinsicht eine ähnliche Problematik wie die Philosophie, der außerhalb der Universität kein Beruf zugeordnet ist.
- 11.
Zur „rekursiven Bildung“ vgl.: Kade und Nolda 2012.
- 12.
Diese Abhängigkeit ist von Foucault (1973) in Bezug auf die jeweils in einer Zeit und einer Gesellschaft herrschenden Diskurse und des dadurch bedingten Sagbaren quasi paradigmatisch aufgezeigt worden.
- 13.
Vgl. Koschorke 2012; aus systemtheoretische Sicht sind Erzählungen eine „Inklusionspraxis, die sich der Reduktion von Komplexität verdankt“ (Saake 2006, S. 99).
- 14.
Ralf Bohnsack spricht von „Orientierungsmustern“, Peter Alheit von „Beschreibungsformaten“, Niklas Luhmann von „Formen“ oder auch von „Schemata“.
- 15.
So eine Formulierung von Rudolf Stichweh (1998, S. 232; Hervorhebung von JK/SN) bezogen auf die Romantische Liebe als eines der wichtigsten ‚Programme‘ zur Kommunikation von Individualität.
- 16.
Literatur
Albus, Sybille. 1987. Kulturelle Eigentätigkeit als Lernprozess. Einführung für Kursleiterinnen und Kursleiter an Volkshochschulen. Frankfurt a. M.: Pädagogische Arbeitsstelle des Deutschen Volkshochschul-Verbandes.
Beck, Ulrich, und Wolfgang Bonss. 1989. Weder Sozialtechnologie noch Aufklärung? Analysen zur Verwendung sozialwissenschaftlichen Wissens. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Brocher, Tobias. 1968. Gruppendynamik und Erwachsenenbildung. Zum Problem der Entwicklung von Konformismus oder Autonomie in Arbeitsgruppen. Braunschweig: Westermann.
Bunia, Remigius. 2010. Das eingebildete Individuum. Merkur 64 (8):664–672.
Ehrenspeck, Yvonne, und Dirk Rustemeyer 1996. Bestimmt unbestimmt. In Pädagogische Professionalität. Untersuchungen zum Typus pädagogischen Handelns, Hrsg. Arno Combe und Werner Helsper, 368–390. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Fischer, Monika E., und Jochen Kade. 2012. Qualitative Längsschnittstudien in der Erwachsenen- und Weiterbildungsbildungsforschung. In Handbuch Qualitative Erwachsenen- und Weiterbildungsforschung, Hrsg. Burkhard Schäffer und Olaf Dörner, 612–625. Opladen: Verlag Barbara Budrich.
Foucault, Michel 1973[1969]. Archäologie des Wissens. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Goffman, Ervin. 1969. Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag. München: Piper.
Hoffmann, Hilmar. 1979. Kultur für alle. Perspektiven und Modelle. Frankfurt a. M.: Fischer-Taschenbuch-Verlag.
Kade, Jochen. 1985. Diffuse Zielgerichtetheit. Rekonstruktion einer unabgeschlossenen Bildungsbiographie. In Pädagogische Biographie Forschung. Orientierungen, Probleme, Beispiele, Hrsg. Dieter Baake und Theodor Schulze, 124–141. Weinheim und Basel: Beltz.
Kade, Jochen. 1997. Vermittelbar/nicht-vermittelbar: Vermitteln: Aneignen. Im Prozess der Systembildung des Pädagogischen. In Bildung und Weiterbildung im Erziehungssystem. Lebenslauf und Humanontogenese als Medium und Form, Hrsg. Dieter Lenzen und Niklas Luhmann, 30–70. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Kade, Jochen. 2011. Vergangene Zukunft im Medium gegenwärtiger Bildungsbiographien. Momentaufnahmen im Prozess des Biographisierens von Lebenslaufereignissen. BIOS, Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen 24 (1): 29–52.
Kade, Jochen. 2012. Bildungstheorie und Bildungsforschung. In Handbuch Qualitative Erwachsenen- und Weiterbildungsforschung, Hrsg. Burkhard Schäffer und Olaf Dörner, 37–49. Opladen: Barbara Budrich.
Kade, Jochen 2013. Form(en) der Individualität. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 16 (1): 195–205.
Kade, Jochen, und Christiane Hof. 2009. Die Zeit der (erziehungswissenschaftlichen) Biographieforschung. Theoretische, methodologische und empirische Aspekte ihrer Fortschreibung. In Typenbildung und Theoriegenerierung. Perspektiven qualitativer Bildungs- und Biographieforschung, Hrsg. Jutta Ecarius und Burkhard Schäffer, 145–167. Opladen: Verlag Barbara Budrich.
Kade, Jochen, und Sigrid Nolda. 2012a. (Bildungs-)Biographie und (Bildungs-)Karriere. Zur Rekonstruktion des Wandels von Bildungsgestalten zwischen 1984 und 2009. In Qualitative Bildungsforschung und Bildungstheorie, Hrsg. Ingrid, Miethe und Hans-Rüdiger, Müller, 281–308. Opladen: Barbara Budrich.
Kade, Jochen, und Sigrid Nolda. 2012b. Qualitative Forschungskulturen und Forschungsgestalten zum Lernen Erwachsener. In Handbuch Qualitative Erwachsenen- und Weiterbildungsforschung, Hrsg. Burkhard Schäffer und Olaf Dörner, 641–656. Opladen: Barbara Budrich.
Kade, Jochen, und Sigrid Nolda. 2012c. Rekursive Bildung. Neurahmungen vergangener Lernerfahrungen Erwachsener. In Erwachsenenbildung und Lernen. Dokumentation der Jahrestagung 2011 der Sektion Erwachsenenbildung der DGfE in Hamburg, Hrsg. Heide von Felden, Christiane Hof, und Sabine Schmidt-Lauff, 119–130. Baltmannsweiler: Schneider.
Kade, Jochen, und Wolfgang Seitter. 1996. Lebenslanges Lernen - Mögliche Bildungswelten. Erwachsenenbildung, Biographie und Alltag. Opladen: Leske & Budrich.
Keupp, Heiner, und Joachim Hohl, Hrsg. 2006. Subjektdiskurse im gesellschaftlichen Wandel. Zur Theorie des Subjekts in der Spätmoderne. Bielefeld: transcript.
Knoblauch, H. 1995. Kommunikationskultur. Die kommunikative Konstruktion kultureller Kontexte. Berlin: de Gruyter.
Kolesch, Doris 2009. Biographie und Performanz - Problematisierungen von Identitäts- und Subjektkonstruktionen. In Handbuch Biographie. Methoden, Traditionen, Theorien, Hrsg. Christian Klein, 45–53. Stuttgart: Metzler.
Koller, Hans-Christoph. 2012a. Bildung anders denken. Einführung in die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse. Stuttgart: Kohlhammer.
Koller, Hans-Christoph. 2012b. Anders werden. Zur Erforschung transformatorischer Bildungsprozesse. In Qualitative Bildungsforschung und Bildungstheorie, Hrsg. Ingrid Miethe und Hans-Rüdiger Müller, 19–34. Opladen: Barbara Budrich.
Koschorke, Albrecht. 2012. Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer allgemeinen Erzähltheorie. Frankfurt a. M.: Fischer.
Koselleck, Reinhart 2010. Zur anthropologischen und semantischen Struktur der Bildung. In Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache, Hrsg. ders., 105–158. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Krüger, Helga. 2010. Lebenslauf: Dynamiken zwischen Biografie und Geschlechterverhältnis. In Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Theorie, Methoden, Empirie, Hrsg. Ruth Becker und Beate Kortendiek, 219–227. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaft.
Lehmann, Maren. 2011. Mit Individualität rechnen. Karriere als Organisationsproblem. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft.
Luhmann, Niklas 1993. Individuum, Individualität, Individualismus. In: Luhmann, Niklas: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 3, 149–258. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Menke, Christoph. 2007. Kraft. Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Nassehi, Armin. 2006. Der soziologische Diskurs der Moderne. Frankfurt a. M: Suhrkamp.
Nolda, Sigrid 2004. Das Verdrängen des Lerners durch das Lernen. Zum Umgang mit Wissen in der Wissensgesellschaft. In Online-Lernen und Weiterbildung, Hrsg. Dorothee M. Meister, 29–42. Opladen: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Reh, Sabine. 2001. Textualität der Lebensgeschichte – Performativität der Biographieforschung. Handlung, Kultur, Interpretation 10 (1): 29–49.
Rosenberg, Florian v. 2011. Bildung und Habitustransformation: Empirische Rekonstruktionen und bildungstheoretische Reflexionen. Bielefeld: Transcript.
Saake, Irmhild 2006. Selbstbeschreibungen als Weltbeschreibungen. Die Homologie-Annahme revisited. Sociologica Internalis 44 (1–2): 99–140.
Seitter, Wolfgang. 1999. Riskante Übergänge in der Moderne. Vereinskulturen, Bildungsbiographien, Migranten. Opladen: Leske & Budrich.
Stichweh, Rudolf. 1998. Lebenslauf und Individualität. In Lebenslaufe um 1800, Hrsg. Jürgen Fohrmann, 223–234. Tübingen: Niemeyer.
Welzer, Harald. 1993. Transitionen. Zur Sozialpsychologie biographischer Wandlungsprozesse. Tübingen: edition diskord.
Wirth, Uwe. 2002. Performanz. Von der Sprachphilosophie zu den Kulturwissenschaften. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Wissenschaft.
Zirfas, Jörg, und Benjamin Jörissen. 2007. Phänomenologie der Identität. Human-, sozial- und kulturwissenschaftliche Analysen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Author information
Authors and Affiliations
Corresponding author
Editor information
Editors and Affiliations
Rights and permissions
Copyright information
© 2014 Springer Fachmedien Wiesbaden
About this chapter
Cite this chapter
Kade, J., Nolda, S. (2014). Individualitätsperformanz. Bildungsbiographische Anspruchsindividualitäten in sich wandelnden Kontexten. In: von Rosenberg, F., Geimer, A. (eds) Bildung unter Bedingungen kultureller Pluralität. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-531-19038-9_8
Download citation
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-531-19038-9_8
Published:
Publisher Name: Springer VS, Wiesbaden
Print ISBN: 978-3-531-18414-2
Online ISBN: 978-3-531-19038-9
eBook Packages: Humanities, Social Science (German Language)