Zusammenfassung
In ihrem Aufsatz „Kontingenz: Methodisch verhindert oder beobachtet?“ befassen sich Armin Nassehi und Irmhild Saake mit der Frage, auf welche Weise der Kontingenz und Unbestimmtheit in der qualitativen Sozialforschung Rechnung getragen wird. Kontingenz, aus der Perspektive der Autoren das, was nicht notwendig so, aber auch nicht zufällig so ist,121 stellt eine nicht auszublendende Seite moderner Gesellschaften dar: Diese existieren im Wandel, in permanenter Überschreitung des Gegebenen und unter Hervorbringung des Neuen. Mit dieser Eröffnung des Unabsehbaren ist eine kategoriale Verschiebung verbunden, die zur Durchkreuzung von Ordnungen und Vervielfältigung von Wirklichkeit führt (vgl. Makropoulos 1997). Dies wirft nicht zuletzt die Frage auf, wie soziale Prozesse analytisch erschlossen werden können; denn ihre Erschließung stellt selbst eine Reaktion und Bearbeitung von Kontingenz dar. Die Systemtheorie, von der aus Nassehi und Saake argumentieren, arbeitet sich an eben dieser Einsicht ab: dass es kein unvermitteltes Verhältnis zum Sozialen gibt, dass dieses vielmehr immer gemäß bestimmter Unterscheidungen beobachtet bzw. hervorgebracht wird.
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Notes
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Die aristotelische Bestimmung der Kontingenz lautet: das, was nicht notwendig ist und das auch anders sein könnte (Aristoteles an. pr. I, 13, 32a: 18–20). Aristoteles denkt die „Kontingenz“ in Bezug auf Ereignisse und Handlungen, z. B. das Gehen eines Tieres. Zur systematisch pädagogischen Diskussion von Kontingenz vgl. vor allem Ricken (1999).
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Vgl. hierzu Hirschauer/Bergmann 2002, dann wieder Nassehi/Saake 2002b. Gegenstand der Diskussion ist insbesondere, ob der Vorwurf der Kontingenzdomestikation die gesamte qualitative Sozialforschung trifft oder nur bestimmte Ausrichtungen. Die Kommentatoren Hirschauer und Bergmann argumentieren, dass „Kontingenz“ eine bedeutsame Stellung in der Forschung und kritischen Selbstreflexion qualitativer Forschungen einnehme (Hirschauer/ Bergmann 2002: 335 f.). Von dieser Perspektive ausgehend, müsste die Auseinandersetzung um Kontingenz selbst als Proprium dieser Forschungstradition(en) gesehen werden.
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Die sozialwissenschaftliche Hermeneutik setzt sich gleichfalls mit der Komplexität sozialer Wirklichkeitskonstruktion auseinander, vor allem dadurch, dass sie über eine Problematisierung des Wissens von der Wirklichkeit operiert (Hitzler/Honer 1997). In einer kritischen Auseinandersetzung mit Ansätzen der Diskursforschung, die der Kontingenz des Sozialen eine grundsätzliche Bedeutung einräumen, deutet Keller den eigenen sozialtheoretischen Hintergrund (den Sozialkonstruktivismus von Berger/Luckmann) im Sinne eines elaborierten Zugriffs auf die soziale Wirklichkeit (Keller 2010: 51). Dem stehe die Gefahr poststrukturalistischer Diskursforschung gegenüber, in eine deskriptive Textwissenschaft und kulturdiagnostische Essayistik abzugleiten (ebd.). Diese wichtige Diskussion kann hier nicht weitergeführt werden. Zentral scheint indes, diese Auseinandersetzung vor einem sozialtheoretischen Hintergrund zu führen, welcher die Praktiken der methodischen Aufschließung sozialer Wirklichkeit berücksichtigt bzw. reflektiert.
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Nach Laclau und Mouffe kann Hegemonie als sich fortsetzende antagonistische Bewegung von Äquivalenzen und Differenzen in der artikulatorischen Praxis begriffen werden, die sich bezogen auf jenes strukturieren, was in der artikulatorischen Praxis ausgeschlossen ist. Ein Beispiel hierfür ist das Projekt „Stuttgart 21“, das in der Lage ist, Akteure und Gruppen mit sehr verschiedenen Zielen und Auffassungen als Gegner des Bauprojekts zusammenzuschließen.
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Dazu gehört unter anderem, dass „Exklusion“ „Zustände der Enteignung [benennt], ohne die Prozesse zu berücksichtigen, die sie hervorbringen“ (Castel 2008: 73). Die vermeintliche Klarheit des Begriffs verdeckt eine Unbestimmtheit der Prozesse und der gesellschaftlichen Dynamiken, unter denen Ausschlüsse zustande kommen.
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Es wird an dieser Stelle darauf verzichtet, die Vielzahl der Fundstellen auszuweisen – vor dem Hintergrund, dass diese Lektüreerfahrung als bekannt vorausgesetzt werden kann.
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Dass beispielsweise die Relationierung von „Bildungserfolg“ und „Migration“ einer reflexiven Perspektive bedarf, wird im Zusammenhang und Umkreis des Halleschen HBS-Promotionskollegs besonders hervorgehoben (vgl. die Arbeiten von Busse, Helsper, Hummrich).
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Es sei bemerkt, dass die qualitative sozialwissenschaftliche Forschung, die ihre kolonialen Herkünfte reflektiert (vgl. Denzin/Lincoln 2008), dieser Aufgabe durchaus mit Offenheit und Problembewusstsein gegenübersteht.
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Thompson, C. (2013). Zum Ordnungsproblem in Diskursen. In: Siebholz, S., Schneider, E., Schippling, A., Busse, S., Sandring, S. (eds) Prozesse sozialer Ungleichheit. Studien zur Schul- und Bildungsforschung, vol 40. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-531-18988-8_20
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