Zusammenfassung
Die Luckmannsche Wissenssoziologie ist für ihre materiale Diagnose einer modernen Tendenz zur „unsichtbaren Religion“ bekannt. Im Zusammenhang mit individualisierenden Folgen gesellschafts-struktureller Prozesse soll an Stelle der „Säkularisierung“, d. h. anstatt eines durchgängigen Bedeutungsverlustes, eher die „De-Institutionalisierung“ der Religiosität für die moderne Gesellschaft typisch sein. Eine genauere Betrachtung der differenzierungstheoretischen Implikationen dieser religionssoziologischen These zeigt, dass die diagnostische Stärke der Wissenssoziologie in der phänomenologischen Rekonstruktion subjektiver Orientierungen liegt, denn durch diese zeigt sich erst die Spannung zwischen institutionell spezialisiertem Wissen, alltäglichen Wissenshorizonten und der Sinnorientierung subjektiver Lebensführung. Auf der Basis einer „protosoziologischen“ Interpretation von Religion als einer „grundlegenden Sozialform“, die in jeder Art menschlicher Gesellschaften zu finden sei, macht Luckmann in seinen empirischen Interpretationen deutlich, dass eine „volle Deckung“ zwischen den „offiziellen Modellen“ der institutionalisierten Religion und den individuell plausiblen, handlungswirksamen, aber eben stets subjektiv koordinierten Typiken und Schemata zu Fragen „letzter Bedeutung“ prinzipiell unmöglich ist. Typisch für moderne Gesellschaften ist deshalb in der Perspektive der Wissenssoziologie ein „Differenzierungs- Dilemma“: die strukturellen Bedingungen der Ausdifferenzierung und Spezialisierung religiösen Expertentums und entsprechender Organisationsstrukturen sind zugleich hinreichende Bedingungen für die Abstandsvergrößerung zwischen subjektiven und offiziellen Modellen der „symbolischen Transzendenzbearbeitung“. Die „Unbestimmtheit“ der Religiosität ist darum weniger ein Makel des Luckmannschen Religionsbegriffs als ein durch die Wissenssoziologie erschlossenes und notwendiges Merkmal des multipel differenzierten religiösen Lebens in der Moderne.
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Renn, J. (2018). Unsichtbare Religion und unbestimmte Religiosität – Thomas Luckmann und die Wissenssoziologie der Religion in der Moderne. In: Pollack, D., Krech, V., Müller, O., Hero, M. (eds) Handbuch Religionssoziologie. Veröffentlichungen der Sektion Religionssoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-531-18924-6_5
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