Zusammenfassung
Die Idee, aus den Alltagserfahrungen von Frauen wissenschaftliches Wissen, Theorie und Kritik zu generieren, spielt seit den Anfängen der Frauenforschung in den 1970er Jahren eine Rolle. Der Zugang über Biographien erschien dabei besonders vielversprechend und wurde, zunächst eher im Stil der Reportage und erst allmählich methodologisch reflektiert, vielfach gewählt, um soziale Erfahrungen „sichtbar“ und „hörbar“ zu machen, die in der androzentrischen Sozialwissenschaft ausgeblendet oder marginalisiert wurden. Die Erforschung „weiblicher Wirklichkeit“ war zentral auf die Selbstauskunft (weiblicher) Subjekte angewiesen, die in biographischen Interviews generiert oder in Tagebüchern, Briefen, Autobiographien und anderen Ego-Dokumenten aufgesucht und rekonstruiert wurde. Ohne als „Königinnenweg“ (Dausien 1994) zu gelten, gehörten biographische Forschungsmethoden zu den wichtigen methodischen Instrumenten feministischer Sozialwissenschaft und lieferten eine empirische Basis für feministische Theoriebildung und die Kritik sozialwissenschaftlichen Wissens. Biographische Studien sind seitdem aus der Geschlechterforschung nicht mehr wegzudenken. Dies ist umso bemerkenswerter, als die Geschlechterforschung seit ihren Anfängen nicht nur eine starke Ausdifferenzierung und Professionalisierung, sondern eine radikale Wende, ja einen „Paradigmenwechsel“ (Knapp 1997) erfahren und ihre eigenen theoretischen Kategorien und methodologischen Prämissen reflexiv in Frage gestellt hat. Ansätze der Biographieforschung haben diesen Prozess offensichtlich „überlebt“ und ihrerseits zur kritischen Weiterentwicklung des feministischen Diskurses in der Sozialwissenschaft beigetragen (vgl. dazu Dausien 2008).
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Dausien, B. (2012). Differenz und Selbst-Verortung – Die soziale Konstruktion von Geschlecht in Biographien als Forschungskonzept. In: Aulenbacher, B., Riegraf, B. (eds) Erkenntnis und Methode. Geschlecht und Gesellschaft, vol 43. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-531-18675-7_9
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