Zusammenfassung
Wir haben in unserer Arbeit wiederholt auf die engen Verbindungen zwischen Zeitroman und Liberalismus hingewiesen. Der Roman als öffentliches Medium stand dabei immer vor der Schwierigkeit, sich vor der traditionsreichen Ästhetik einerseits, Autorintentionen und Publikumswünschen andererseits zu rechtfertigen. Knapp bringt dies Friedrich Spielhagen auf den Begriff, wenn er im Vorwort zu seinen Beiträgen zur Theorie und Technik des Romans [1] erklärt, sein Freund Berthold Auerbach habe voll seine »Ansichten über die ästhetische Unzulänglichkeit, aber auch den Wert und die Würde des modernen Romans [geteilt].« (VIII) In dieser Spannung stehen eigentlich alle Reflexionen zum Roman in diesem Jahrhundert, ästhetische Anerkennung und direkte Wirkungsabsicht scheinen sich zu widersprechen. Während Gutzkow eigentlich der einzige war, der Reflexionen des Erzählers/Autors im Roman als Mittel der Leserbeeinflussung zuließ, sind sich von Freytag über Ludwig bis Auerbach alle einig, die Tendenz in das Kunstwerk so zu integrieren, daß sie aus der Sache selbst hervorzugehen scheint. Das Arrangement der (literarischen) Wirklichkeit stand dabei vor allem bei Ludwig im Zentrum seiner leserpsychologischen Überlegungen, während den Grenzboten offenbar mehr daran lag, zunächst die »Reflexionen« des Autors aus dem geschlossenen Kunstwerk zu verbannen. Erst in zweiter Linie standen kompositorische Anforderungen inhaltlicher wie formaler Art. Als Friedrich Spielhagen mit seinem Roman Problematische Naturen die literarische Szene betrat, haben sich diese Forderungen schon in der Tageskritik verfestigt, wird sein Werk mehr um der romantischen Verwicklungen und der scharfen Adelskritik willen zu einem Publikumserfolg als etwa aus Gründen der Übereinstimmung mit der weithin geltenden Poetik des Romans.
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Anmerkungen
Friedrich Spielhagen: Beiträge zur Theorie und Technik des Romans. Faksimiledruck nach der 1. Auflage von 1883. Mit einem Vorwort von Hellmuth Himmel, Göttingen 1967. Wir zitieren sie in unserem Kapitel mit Beiträge.
Günter Rebing: Der Halbbruder des Dichters, Friedrich Spielhagens Theorie des Romans, Frankfurt am Main 1972, S. 1. Wir kommen auf diese Arbeit noch zurück. Neben einer sehr sinnvollen Ausweitung des Themas auf europäische Zusammenhänge überrascht die völlige Vernachlässigung der unmittelbaren Tradition der 50er Jahre. Der ausführliche Rückgriff auf Humboldts Epostheorie, der die Zusammenhänge mit zentralen Begriffen bei Spielhagen darzulegen vermag, kann dies nicht wettmachen. Es entsteht vielmehr dadurch der Eindruck, dem Spielhagen selbst allerdings Vorschub leistet, als knüpfe dieser unmittelbar an Schiller, Schlegel und Humboldt an, während er in Wirklichkeit der klassizistischen Literaturkonzeption der 50er Jahre in hohem Maße verpflichtet ist. Weder der programmatische Realismus der Grenzboten noch Gutzkows Theorie des Zeitromans tauchen auf, die zeitgeschichtlichen Bezüge vielfältigster Art verschwinden unter einer geistesgeschichtlichen Einflußforschung. Letzteres nicht zuletzt dadurch, daß Spielhagens Rezensententätigkeit, seine Rolle als Herausgeber wichtiger Zeitschriften, ja überhaupt der mediale Ort seiner Essays unerwähnt bleiben. Symptomatisch dafür ist, daß das Literaturverzeichnis mit den Veröffentlichungen Spielhagens in Buchform erschöpft ist.
Winfried Hellmann: Objektivität, Subjektivität und Erzählkunst. Zur Romantheorie Friedrich Spielhagens. [1957]
Zitiert nach: Richard Brinkmann (Hrsg.): Begriffsbestimmung des literarischen Realismus (= Wege der Forschung, Band 212), Darmstadt 1969, S. 86–159.
Leo Löwenthal: Friedrich Spielhagen — der bürgerliche Idealismus. In: Ders.: Erzählkunst und Gesellschaft. Die Gesellschaftsproblematik in der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts. Mit einer Einleitung von Frederic C. Tubach, Neuwied und Berlin 1971, S. 137–175; Zitat S. 139. Vgl. jetzt auch die Analyse des Romans Sturmflut durch Joachim Worthmann: Probleme des Zeitromans, S. 109 ff. 1874 schreibt Spielhagen in seinem Essay Die Technik des Romans, daß die »Theilnahme, welche man gegenwärtig in Deutschland für ästhetische Untersuchungen hat«, nicht so groß sei, »daß man fürchten müßte, allbekannte Dinge zu sagen, wenn man wieder und wieder dieselben Sätze, die man für die Grundsätze der Technik des Romans hält, mit denselben Worten re-producirt.«
Friedrich Spielhagen: Die Technik des Romans. Mit besonderer Beziehung auf George Eliots Middlemarch. In: Die Gegenwart, Nr. 11, S. 168–171 und Nr. 12, S. 186–98; Jg. 1874, Zitat S. 168.
Friedrich Spielhagen: Vermischte Schriften, Erster Band, Berlin 1964, Zweiter Band, Berlin 1868.
F.[riedrich] Sp.[ielhagen]: Dickens und Thackeray. Eine kritische Studie. In: Europa, Nr. 19, Jg. 1859, Sp. 641–652; Zitat Sp. 648. Spielhagen fordert Optimismus, »rosige[s] Licht« (Sp. 649), und fährt fort: »Sollen wir an das unsterbliche Leben der Idee glauben, so darf uns die Wirklichkeit nicht allzu Yahu-mäßig geschildert werden«. (Sp. 650)
Vgl. dazu: Friedrich Spielhagen: Finder und Erfinder. Erinnerungen aus meinem Leben, Zwei Bände, Leipzig 1890, Band 2, S. 310 und S. 393.
F. Spielhagen: Vermischte Schriften, Zweiter Band, Berlin 1868. Der Vortrag über Thackeray ebd. S. 47–112, der über Fritz Reuter S. 113–168.
Bei Rebing taucht im Literaturverzeichnis nur der Titel »Friedrich Spielhagen: Vermischte Schriften, Berlin 1864; Zitate nach der 2. Aufl., Berlin 1868« auf. G. Rebing: Der Halbbruder des Dichters, S. 221.
Es handelt sich aber eigentlich um drei verschiedene Titel: 1. Friedrich Spielhagen: Vermischte Schriften, Erster Band, Berlin 1864;
2. Ders.: Vermischte Schriften, Zweiter Band, Berlin 1868;
3. Ders.: Vermischte Schriften, Erster Band, Berlin 18682. Diese beiden Bände wiederum sind mit Kürzungen und Änderungen aufgenommen in: Friedrich Spielhagen’s sämmtliche Werke, neue vom Verfasser revidierte Ausgabe, Berlin o.J. [1868]. Nach dem Band sieben dieser Ausgabe zitiert Rebing.
Der fundamentale Unterschied zwischen Thackeray und Dickens bestehe etwa darin, daß bei letzterem immer die Liebe triumphiere. Allerdings macht er sich über die konventionellen Liebesromanschlüsse der Salonromane lustig. Die »Lösung des Problems, wie ein verarmter junger Edelmann die Tochter und Erbin eines steinreichen Roturiers heirathen kann, [sei] nicht eben sehr geistreich. « Es handelt sich um Feuillets Le Roman d’un jeune homme pauvre. F. [riedrich] Sp.[ielhagen]: Octave Feuillet. In: Europa, Nr. 24, Jg. 1859, Sp. 849–860. Zitat Sp. 857.
Wenn wir recht sehen, ist die spätere Theorie des typischen Helden zum ersten Mal im Reuter-Vortrag konzipiert. Auch der Modell-Begriff taucht hier erstmals auf. Vgl. F. Spielhagen: Vermischte Schriften, S. 149 ff. Rebing, der sich vornehmlich auf die 1883 erschienenen Beiträge stützt und überdies das Entstehungsdatum der dort gesammelten Essays unberücksichtigt läßt, kommt hierdurch zu falschen Schlüssen: »In der Zeit, als Spielhagen seine Ansichten über den Helden des Romans entwickelt, hat er sich angesichts des aufkommenden Naturalismus in diesem Punkt schon deutlich von seiner anfänglichen Nähe zum Realismus entfernt. Sein Rückgriff auf eine Kategorie der Klassik hat in dieser Hinsicht einen defensiven Charakter.« G. Rebing: Der Halbbruder des Dichters, S. 171.
In: F. Spielhagen: Vermischte Schriften, Erster Band, Berlin 1864, S. 174–197.
Vgl. etwa Robert Prutz’ Einschätzung der Naturwissenschaften: »Mit ihrer Appellation an die gesunden Sinne jedes Einzelnen sind die Naturwissenschaften die eigentlich bahnbrechenden Vorläufer der Aufklärung und Bildung überhaupt; indem sie die ewige Harmonie und Gesetzmäßigkeit des natürlichen Organismus aufdecken, veranlassen sie uns dieselbe Harmonie und Gesetzmäßigkeit von der sittlichen, auch von der praktischen Welt zu fordern«. Robert Prutz: Zum neuen Jahr. In: Deutsches Museum, Jg. 1852, zitiert nach:
Friedrich Winterscheidt: Deutsche Unterhaltungsliteratur der Jahre 1850–1860. Die geistesgeschichtlichen Grundlagen der unterhaltenden Literatur an der Schwelle des Industriezeitalters, Bonn 1970, S. 89.
David Friedrich Strauß: Der alte und der neue Glaube. Ein Bekenntniß, Leipzig 1872, S. 300.
Friedrich Spielhagen: An den Leser. In: Otto Janke’s Deutsche Wochenschrift. Herausgegeben von Friedrich Spielhagen, Nr. 1, Jg. 1863, Sp. 1–2.
Schon Hermann Marggraff hatte 1844 in seinem wichtigen Aufsatz über den deutschen Gegenwartsroman geschrieben, er habe die Aufgabe, »die bitteren Tropfen socialer und politischer Ideen in belletristischer Versüßung dem Publikum einzuflößen, und gleichsam hinter dem Rücken der Zensur poetische Schleichwege für die verbotene Schmuggelware aufzufinden.« Hermann Marggraff: Die Entwicklung des deutschen Romans, besonders in der Gegenwart. In: Deutsche Monatsschrift für Litteratur und öffentliches Leben, herausgegeben von Karl Biedermann, Bd. 2, Jg. 2 (1844), S. 58–67 und S. 97–116; Zitat S. 101.
Friedrich Spielhagen: Ein belletristisches Organ der deutschen Fortschrittspartei. In: Otto Janke’s Deutsche Wochenschrift, Jg. I (1863), Sp. 41–46.
Spielhagens bislang unerwähnt gebliebenes Engagement für die Berliner Handwerkervereine der sechziger Jahre ist, wie dasjenige seines politischen Freundes Auerbach, der Vermittlung der Bildungstradition an neue Schichten zugewandt. Mit dem Pathos des Liberalen aus dem Umkreis der Reformideen von Schulze-Delitzsch hofft er auf Emanzipation durch Bildung. Friedrich Spielhagen: Homer (Eine Vorlesung, gehalten am 11. Januar 1866 in Berlin, zum Besten der Bibliothek des Handwerker Vereins.) In: Ders.: Vermischte Schriften, Berlin 1868, S. 1–45.
Man vgl. dazu etwa die Behandlung der Klassik in den verschiedenen Auflagen der Literaturgeschichte Julian Schmidts. Noch nach seinem großen Erfolg mit den Problematischen Naturen schreibt Spielhagen an den Kritiker Adolph Stahr, er habe sich gefragt, »ob der Roman überhaupt in dem gewöhnlichen Sinne ein Kunstwerk genannt werden kann (woran W. v. Humboldt, wie Sie wissen, zweifelte), oder ob er nicht vielmehr eine Übergangsform aus der Poesie in die Prosa ist«. Zitiert nach: Hans Henning: Friedrich Spielhagen, Leipzig 1910, S. 108.
F. Spielhagen: Das Gebiet des Romans. [1873] In: Beiträge, S. 35–63; Zitat S. 37.
Friedrich] Spielhagen: Fanny Lewald. In: Gartenlaube, Nr. 42, Jg. 1862, S. 661–663.
F. Spielhagen: Homer [1866]. In: Vermischte Schriften, Zweiter Band, S. 1–45; Zitat S. 43.
Dies bescheinigt Spielhagen einer der besten Kenner der ökonomischen und gesellschaftlichen Konflikte des 19. Jahrhunderts. Jürgen Kuszinski: Friedrich Spielhagen. [1955] Abgedruckt in: Ders.: Gestalten und Werke. Soziologische Studien zur deutschen Literatur, Berlin und Weimar 1969, S. 194–203; Zitat S. 199.
F. Spielhagen: Ein »humoristischer« Roman. F. Theodor Vischers »Auch Einer«. [1879] In: Beiträge, S. 101–128. Das folgende, korrekte Vischer-Zitat bei Spielhagen gesperrt.
Edouard de Morsier: Romanciers Allemands Contemporains, Paris 1890. Morsier behandelt ausführlich Spielhagen, Heyse, Freytag und — Raabe. Zitat ebd. p. 45.
F. Spielhagen: Finder und Erfinder, Band II, S. 66 ff. Friedrich Spielhagen: Aus meiner Studienmappe, Beiträge zur litterarischen Aesthetik und Kritik, Berlin 18912, S. 286 f.
Noch in seinem späten Beitrag über den Ich-Roman verlangt Spielhagen vom objektiven Erzähler die Lösung der Konflikte und die konsequente Darlegung des Kausalnexus, der zu eben dieser Lösung geführt hat. Vor allem für den Leser, »der den nicht unberechtigten Wunsch hat, zu einem bestimmten Resultat zu gelangen«, sei die Offenheit des Schlusses nicht erfreulich. Friedrich Spielhagen: Noch etwas vom Ich-Roman. In: Das litterarische Echo, Heft 7, 2. Jg. (1900), Sp. 452–458; alle Zitate ebd. Sp. 458.
Es ist nur konsequent, daß Spielhagen gegen den Naturalismus auf der grundsätzlichen Ebene von Optimismus — Pessimismus argumentiert. 1882 tadelt er Zola, der »in dem ungeheuren Kampf der zerstörenden und der schaffend-erhaltenden Gewalten nur die ersteren in ihrer minierenden Thätigkeit zeigt.« Friedrich Spielhagen: Roman oder Novelle? [1882] In: Beiträge, S. 259–294; Zitat S. 265.
»Beim Auskehren findet es sich, sagt das Sprichwort. Am Schluß erst findet sich oft bei Dichtungen, worauf der Autor von Anfang an hinaus wollte.« Friedrich Spielhagen: Die Wahlverwandtschaften und Effi Briest. In: Ders.: Neue Beiträge zur Theorie und Technik der Epik und Dramatik, Leipzig 1898, S. 91–122; Zitat S. 103.
Ebd. S. 106. Ohne in diesem Zusammenhang näher darauf eingehen zu können, möchten wir wenigstens auf die zeitgenössische Debatte des Schlusses von L’Adultera und den alternativen Handlungsschluß von Effi Briest hinweisen. Vgl. dazu die Spielhagensche Version der Geschichte, auf die wir an anderem Ort näher eingehen werden. Friedrich Spielhagen: Zum Zeitvertreib, Berlin 1897.
[Friedrich Spielhagen]: Zum hundertsten Heft. Von unseren Mitarbeitern. Friedrich Spielhagen in Berlin. In: Nord und Süd, 100. Heft, Band 34, Jg. 1885, S. 50–51. Es handelt sich um eine redaktionelle Zusammenstellung verschiedener Jubiläumsbeiträge, darunter auch der von Spielhagen, der keinen eigenen Titel hat.
Eugen Zabel: Der Dichter der »Sturmfluth«. In: Gartenlaube, Nr. 14, Jg. 1877, S. 225–226; Zitat S. 226.
Adolf Strodtmann: Dichterprofile. Litteraturbilder aus dem neunzehnten Jahrhundert. Erster Band. Deutsche Dichtercharaktere. Stuttgart 1879, S. 197–212;
alle Zitate S. 208. Vgl. auch: Adolf Strodtmann: Friedrich Spielhagen’s neuester Roman. In: Deutsche Revue, Bd. 1, Jg. 3 (1879), S. 444–448.
Wilhelm Bolin stellt in der Berliner Gegenwart zu den Beiträgen fest: »Als geradezu meisterhaft müssen wir seine Auseinandersetzungen über Epos und Roman […] kennzeichnen. « Wilhelm Bolin: Spielhagens Romantheorie. In: Die Gegenwart, Nr. 37, Bd. 24 (1883), S. 167–169; S. 169.
Ähnlich Theophil Zolling: »Uhlenhans« von Friedrich Spielhagen. In: Die Gegenwart, Nr. 51, Bd. 24, Jg. 1883, S. 394–396; S. 395. Vgl.
Vgl. auch die positive Besprechung von Wilhelm Scherer: Friedrich Spielhagen, Beiträge zur Theorie und Technik des Romans. In: Deutsche Litteraturzeitung, Nr. 1, Jg. 1883, Sp. 12–13.
Otto Brahm: Spielhagen’s »Technik des Romans«. In: Deutsche Rundschau, Bd. 36, Jg. 9 (1883), S. 317–318; Zitat S. 318.
Theophil Zolling: Friedrich Spielhagens Selbstschau. In: Die Gegenwart, Nr. 4, Bd. 37, Jg. 1890, S. 54–56 und Nr. 49, Bd. 38, S. 357–360; Zitat S. 54.
Heinrich Hart, Julius Hart: Kritische Waffengänge. Sechstes Heft, Leipzig 1884. Ebd. S. 3: »Friedrich Spielhagen verkörpert in sich eine ganze Epoche deutscher Erzählkunst. Diese Epoche geht allgemach ihrem Ende entgegen«.
Helmut Böhme: Verfassungskonflikt und Handelspolitik: Die Frage der Kontinuität im Jahre 1862. In: Helmut Böhme (Hrsg.): Probleme der Reichsgründungszeit 1848–1879, Köln Berlin 1968, S. 195–225, Zitat S. 195. Das folgende längere Zitat ebd. S. 211. Die altliberalen Grenzboten, die sich bald auf die Seite des Adels schlagen sollten, hatten 1859 den Beginn der Neuen Ära in Preußen begrüßt und die öffentliche Meinung in der Entstehungszeit der Problematischen Naturen wie folgt zusammengefaßt: »Ein offener und versteckter Kampf gegen die Privilegien, welche dem Adel in Deutschland geblieben sind […] drohte [!] zunächst in Literatur und Tagespresse, bald auf der Tribüne aufzulodern; […] ein Kampf der Stände, der gefährlichste, der uns Preußen zu Theil werden kann […] der uns alle in Gefahr setzte, dem trüben Gewirr revolutionärer Forderungen zu verfallen«.
Anonym: Zum neuen Jahr. In: Grenzboten 18/I/I (1859), S. 1–4; Zitat S. 3.
Voller klassischer Bildungs- und Bildungsromanreminiszenzen, schließt der Roman mit den ermunternden Sätzen des Doktor Fritz Braun an den müd gewordenen Romanhelden Oswald Stein: »Die Reise, die wir vorhaben, wird Sie wieder zu sich selbst bringen. Sie haben viel verloren, aber nichts, was sich nicht wieder gewinnen ließe. Sie haben Vernunft […] und Wissenschaft, des Menschen allerhöchste Kraft, verachtet; und doch ist für Sie nur Rettung zu hoffen von eben dieser Kraft […] Kommen Sie! lassen Sie die Todten ihre Todten begraben, für Sie muß jetzt ein neues Leben beginnen.« Friedrich Spielhagen: Problematische Naturen, Erste Abtheilung (=Friedrich Spielhagen’s Werke, Band I), Leipzig 188510, S. 622 f.
Daß auch in den philosophischen Kreisen der Hegelianer in Berlin diese Aufbruchsstimmung ein letztes Mal sich artikulierte, belegt Hermann Lübbe: Politische Philosophie in Deutschland. Studien zu ihrer Geschichte, Basel Stuttgart 1963, S. 81.
Die Romanhelden fallen auf den Barrikaden der Märztage 1848 in Berlin, ihr Begräbnis und die sich dabei entwickelnde machtvolle Kundgebung wird ausführlich geschildert. Aus ihr entwickeln sich die Reflexionen des Erzählers, die übergehen in einen Appell an die Lebenden zu »arbeiten und [zu] wachen«, damit die Tyrannei nicht wieder hereinbreche, »die Nacht, die so arm war an gesunden Menschen und so reich an problematischen Naturen — die lange schmachvolle Nacht, aus welcher nur der Donnersturm der Revolution durch blutige Morgen-röthe hinüberführt zur Freiheit und zum Licht. « Friedrich Spielhagen: Durch Nacht zum Licht. (Fortsetzung von: Problematische Naturen.) (= Friedrich Spielhagen’s gesammelte Werke. Neue, vom Verfasser veranstaltete, revidirte Ausgabe. (Mit dem Portrait des Verfassers.) Zehnter — Zwölfter Band), Berlin 18673, Dritter Band des Romans, S. 183.
Anonym [= J. Schmidt]: Neue Romane. In: Grenzboten 19/II/IV (1860), S. 481–490; zu Spielhagen S. 488–489.
R.[obert] P[rutz]: Literatur und Kunst. Problematische Naturen. In: Deutsches Museum 11/2 (1861), S. 510–512.
R.[obert] P.[rutz]: Literatur und Kunst. Romane und Erzählungen. In: Deutsches Museum 12/2 (1862), S. 507–514.
Vgl. den Brief Bismarcks an Ludwig II. vom 4. August 1879: »Die nationalliberale Partei wird, wie ich hoffe, durch die letzte Reichstagssession ihrer Scheidung in eine monarchistische und eine fortschrittliche, also republikanische Hälfte entgegengeführt werden. […] die Brandreden an die Adresse der besitzlosen Classen von Lasker und Richter haben die revolutionäre Tendenz dieser Abgeordneten so klar und nackt hingestellt […] Die Vorarbeiter der Revolution recrutiren sich bei uns ziemlich ausschließlich aus dem gelehrten Proletariat, an welchem Norddeutschland reicher ist als der Süden. Es sind die studirten und hochgebildeten Herrn, ohne Besitz, ohne Industrie, ohne Erwerb, welche […] das revolutionäre Ferment liefern und die fortschrittliche und nationalliberale Fraction und die Presse leiten.« Otto von Bismarck: Gedanken und Erinnerungen, zwei Bände, Leipzig 1898, Band 1, S. 369 f.
Zum Vorgang selbst umfassend Helmut Böhme: Deutschlands Weg zur Großmacht. Studien zum Verhältnis von Wirtschaft und Staat während der Reichsgründungszeit 1848–1881, Köln 19722, bes. S. 530 ff.
L.[udwig] Häusser: Am Vorabend des Jahres 1863. In: Preußische Jahrbücher 11 (1863), S. 1–15; Zitat S. 13.
Vgl. dazu: Gustav Schmoller: Die Arbeiterfrage I. In: Preußische Jahrbücher 14 (1864/2), S. 393–424.
Anonym: Otto [!] Spielhagen. In: Beilage zur [Augsburger] Allgemeinen Zeitung, Nr. 348 (1864), S. 5657–58 und Nr. 350, S. 5678–79.
Anonym: Friedrich Spielhagen. In: Europa, Nr. 17, Jg. 1867, Sp. 513–520; Zitate Sp. 515.
Eine ausgezeichnete zeitgenössische Zusammenfassung bietet V.[ictor] A.[aimé] H.[uber]: Die Arbeiterfrage in Deutschland. In: Deutsche Vierteljahrs-Schrift, Bd. 127 (1869/3), S. 173–225 und Bd. 128 (1869/4), S. 92–144.
Anonym [= R. Gottschall]: Literarische Revue. In: Unsere Zeit III/2 (1867), S. 393–400.
Karl Frenzel: Der politische Roman. In: Ders.: Neue Studien, Berlin 1868, S. 122–140. Frenzel spielt auf die Theaterzensur und ihre Folgen an, wenn er die Verlagerung der wichtigen Stoffe vom Drama in den Roman konstatiert: »Es liegt in unsern Verhältnissen, daß nicht wie in Frankreich hauptsächlich das Schauspiel, sondern der Roman zur Darstellung der politischen Gegensätze benutzt wird.« (124)
Vgl. die ähnliche Argumentation gegenüber den Zeitromanen Gutzkows: »Das Gemälde einer Zeit läßt sich […] nicht auf den künstlerischen Abschluß eines vollendeten Romans führen […] Ja, es hat nicht einmal einen notwendigen Schluß, seine Fäden reichen in die fernste Zukunft. Dieser Bruch der ästhetischen Gesetze scheint ein der Gattung angeborener Fehler.« Karl Frenzel: Karl Gutzkow. In: Ders.: Büsten und Bilder. Studien, Hannover 1864, S. 163–182; Zitat S. 180 f.
Julian Schmidt: Friedrich Spielhagen. In: Westermann’s Jahrbuch der Illustrirten Deutschen Monatshefte, 29. Band, Jg. 1871, S. 422–449. Alle Zitate mit der Seitenzahl in Klammern.
Die Richtung dieses Weges erhellt aus der, soweit wir sehen, letzten Rezension Spielhagens durch Schmidt. In ihr bescheinigt er dem Autor »einen großen Fortschritt in der politischen Bildung«, da »das Connubium zwischen Adel und Bürgerstand […] durchaus wohlwollend behandelt ist […] Der starre Republikaner muß zuletzt erkennen, daß auch Bismarck nicht zu verachten ist, und daß man im Streit mit böswilligen Fabrikarbeitern die Polizei nicht umgehen kann.« Julian Schmidt: Spielhagen’s neuer Roman. In: Deutsche Rundschau X (1877), S. 158–159. Alle Zitate ebd. S. 159. Es handelt sich um den Roman Sturmflut.
Vgl. Robert Koenig: Deutsche Literaturgeschichte Bielefeld/Leipzig 1879. In Spielhagens Romanen fehle »jeder versöhnende ausgleichende Zug, jeder Versuch, die verabscheuten Gegner innerlich zu verstehen.« (626)
In der neuen »vom Verfasser veranstaltete[n] revidierte[n] Ausgabe« von 1867 ist der Schluß noch nicht geändert, sind es die Reflexionen des anonymen Erzählers (d.h. des Autors), die vom »Tod für die Freiheit« und von der »blutige[n] Morgenröthe« der Revolution sprechen. Friedrich Spielhagen: Durch Nacht zum Licht. (Fortsetzung von: Problematische Naturen.), Dritte Auflage, Berlin 1867. (= Friedrich Spielhagen’s Gesammelte Werke, Neue, vom Verfasser veranstaltete, revidirte Ausgabe. (Mit dem Portrait des Verfassers). Band 10–12; die Zitate ebd. Bd. 12, S. 182 f. In der Gesamtausgabe des Romans ist die Autorenperspektive des Schlusses durch die Figurenperspektive eines anonymen alten Mannes aus dem Volke ersetzt, die vox populi übernimmt die paränetische Rolle des Autors: »Und Einer aus dem Volke — ein langer, schwarzbärtiger Mann-erhebt seine Stimme und spricht: […].«
Friedrich Spielhagen: Problematische Naturen. Zweite Abtheilung (Durch Nacht zum Licht), (= Friedrich Spielhagen’s Werke, Band II), Leipzig 188510,S. 564.
Spielhagen ist 1890 im Vorwort zu seiner Autobiographie davon überzeugt, daß auf Grund der ökonomischen Entwicklung »jeder einzelne von uns nur noch die Wahl zu haben scheint, ob er sich zum Staatssocialismus oder zur Socialdemokratie bekennen will […] weil die Magenfrage immer zuerst und am energischsten auf Entscheidung drängt. « F. Spielhagen : Finder und Erfinder, Band II, S. VIII. Spielhagens politische Selbsteinschätzung am Ende des Jahrhunderts ist nachzulesen in dem Aufsatz Post festum [1899]: »Alles in allem war sein politisch-religiöses Programm das des linkesten Flügels der Radikalen der Paulskirche von 1848, modifiziert durch die Erfahrungen eines halben Jahrhunderts, die ihn […] nach links gedrängt hatten, so weit, daß er mit den Sozialdemokraten die bestehende staatliche und wirtschaftliche Ordnung ohne die einschneidensten Veränderungen auf die Dauer für unhaltbar ansah. […] Das entfremdete ihm viele alte Freunde, und erwarb ihm keine neuen«. Friedrich Spielhagen: Am Wege. Vermischte Schriften. Leipzig 1903, S. 34–47; Zitat S. 42 f. Vgl. auch den Aufsatz Das Umsturzgesetz und die Dichtung, ebd. S. 181–193.
Die Klagen über die isolierte Stellung des modernen Dichters und die Distanz zu einem Publikum, das im »besten Falle […] doch nur ein Fragment seines Volkes [ist]«, tauchen erst in den siebziger Jahren bei Spielhagen auf. Der literaturpolitische Zusammenhang erscheint uns evident, wurde aber bisher nicht bemerkt. F. Spielhagen: Das Gebiet des Romans [1873]. In: Ders.: Beiträge, S. 60. Vgl. auch ähnliche Aussagen ebd. S. 138 und S. 146 f.
Friedrich Spielhagen: Sturmflut. Roman in sechs Büchern. Leipzig 1877. Die Erstveröffentlichung ohne das rhetorische Schlußkapitel im Berliner Tageblatt, Jg. 1876, Nr. 252 und 253, jeweils im ersten Beiblatt.
Rudolf Gottschall: Neue Romane I. Friedrich Spielhagen’s »Sturmfluth«. In: Blätter für lit. Unterhaltung, Nr. 1, Jg. 1877, S. 1–6, bes. S. 1.
E[mil] [Fritsch]e: Sturmflut. In: Im neuen Reich 7/1 (1877), S. 372–384; alle Zitate ebd.
Paul Lindau: Sturmfluth. Roman in sechs Büchern (drei Bänden) von Friedrich Spielhagen. In: Gegenwart Nr. 4, Bd. 11, Jg. 1877, S. 53–57 und Nr. 5, S. 72–74. Spielhagen habe sich »dem Verlangen der verehrlichen Abonnenten nach einem ›befriedigenden Schlusse‹ (S. 72) gebeugt und dadurch viel verdorben. Lindau seinerseits gibt nun den Rat, »das Anhängsel bei der nächsten Auflage [zu] beseitigen und auf seinen ursprünglichen Schluß wieder zurück[zu]kommen.« (ebd.) Für Lindau ist offensichtlich nur noch rhetorisches Anhängsel, was für den Spielhagenschen Romantypus konstitutiv ist: der ideologische Schluß nach dem Handlungsschluß, der die Botschaft dem Leser vermitteln soll.
Anonym: Friedrich Spielhagen und sein Ich-Roman. In: Grenzboten 40/II/IV (1881), S. 555–560; Zitat S. 560. Vgl. ebd.: »Da haben wir’s. Die moderne Welt ist so verzwickt, daß sich die Besten nicht mehr in ihr zurecht finden. Das ist wieder ganz der alte, ehrliche Spielhagen der problematischen Naturen, der später in Reih und Glied Confusion anrichtete. Gute Leute, aber schlechte Musikanten, die Herrn Spielhagen und Genossen!«
Der Angriff der Brüder Hart scheint uns zu Unrecht unter dem Rubrum Naturalismus zu firmieren. Nationalkonservative Töne, Betonung der »Gottesgaben echten goldigen Humors« (72), Plädoyers für das »rein Ästhetische« (16), das allein ewig sei, Anknüpfung an Goethe und - Gustav Freytag lassen das »kritische« Heft in einem seltsamen Licht erscheinen. Freytag habe im Gegensatz zu Gutzkow und Spielhagen einen Roman geschaffen, »der ohne aufdringliche Tendenz die Wirklichkeit verklärt, der, ein treffliches Gemisch von Humor und Idealismus, deutsches Sein verkörpert« (63). Heinrich Hart, Julius Hart: Kritische Waffengänge. Sechstes Heft. Friedrich Spielhagen und der deutsche Roman der Gegenwart, Leipzig 1884.
Anonym: Soziale Romane. In: Deutsche Revue XII/2 (1887), S. 370–374.
Vgl. ganz ähnlich: Gustav Karpeles: Friedrich Spielhagen’s neuester Roman. In: Gegenwart Nr. 49, Bd. 30, Jg. 1887, S. 359–361. 1888 ist Spielhagen für einen nationalkonservativen Rezensenten nur mehr »der Verfechter des socialen Freisinns par excellence, der theoretische Fortschrittler und Socialdemocrat, welcher noch vor zwei Jahren von der ›Gartenlaube‹ dazu ausersehen ward, durch seinen Roman ›Was will das werden?‹ der altersschwachen Demokratie in der Literatur wieder auf die Beine zu helfen und den verlorenen Posten der 1848er Ideen zu vertheidigen«.
Erwin Bauer: Spielhagen’s neuer Roman. In: Gegenwart Nr. 22, Bd. 33, Jg. 1888, S. 342–345; Zitat S. 342.
N. Emo: Friedrich Spielhagen. In: Die Neue Zeit, 5. Jg. (1887), S. 370–374; alle Zitate S. 374. Die redaktionelle Bemerkung lautet: »Wir bezweifeln das auf das lebhafteste. Die Redaktion.« (Ebd.)
Ebenfalls in Eduard Bernsteins sozialistischer Monatsschrift Die Neue Zeit fertigt 1890 der damals noch radikale Sozialist Paul Ernst Spielhagens Roman Der neue Pharao (1890) ganz energisch ab. »Die alte Spießbürgermoral, daß zuletzt doch noch die Tugend siegt und das Laster zu Grunde geht, diese optimistische Moral, welche sich der Philister konstruirt hat, als sein Gestirn im Aufsteigen begriffen war, als er sich als den Mann der Zukunft betrachtete — wie kläglich hat sie sich gewendet! Alles geht zu Grunde, die guten Menschen müssen sterben oder nach Amerika gehen, die bösen Menschen bringen ruhig und unbehelligt ihre Beute in Sicherheit und die eigentlich Triumphirenden, das sind die brutalen Erfolgsmenschen, welche keine Ahnung von unsern, der Spießbürger, erhabenen und sittlichen Gefühlen haben« (192). Paul Ernst: Ein neuer Pharao. In: Die Neue Zeit, 8. Jg. (1890), S. 189–192.
Der Germanist Berthold Litzmann spielt Gustav Freytag und Georg Ebers [!] gegen den alten Achtundvierziger aus. Knapp faßt Franz Mehring diese nationalistische Literaturkritik des Bürgertums in den Satz zusammen: »Spielhagen hat nicht die Götter seiner Jugend, sondern sie haben ihn verlassen«. Berthold Litzmann: Das deutsche Drama in den litterarischen Bewegungen der Gegenwart. Vorlesungen, gehalten an der Universität Bonn, Hamburg und Leipzig 1894 (18974), S. 23 f.
Franz Mehring: Artikel zum Geburtstag Spielhagens in Die Neue Zeit, 27. Jg. (1908/09), Erster Band, S. 789–791.
Ders.: Gesammelte Schriften, Band 11 (= Aufsätze zur deutschen Literatur von Hebbel bis Schweichel), Hrsg. von Thomas Höhle u.a., Berlin [Ost] 1961, S. 104.
Franz Muncker: Was will das werden? Roman in neun Büchern von Friedrich Spielhagen. In: Deutsche Dichtung, elftes Heft, zweiter Band, Jg. 1887, S. 334–335; alle Zitate S. 334.
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Rhöse, F. (1978). Versöhnende Weltanschauung und gesellschaftliche Konflikte — zur Theorie des Romans bei Friedrich Spielhagen. In: Konflikte und ihre Lösungen Untersuchungen zur Diskussion von Roman und Romanschluß im neunzehnten Jahrhundert. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-99931-3_11
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