Zusammenfassung
In Erfurt erschien 1784 ein ›Beitrag zur Charakteristik der Menschheit‹ mit dem Titel ›Über das menschliche Herz‹, dessen Verfasser Schack Hermann Ewald zu seinen Lehrern neben Sulzer, Campe und Moses Mendelssohn auch Herder zählt.1 In der Tat erweist sich Ewald nicht nur durch diese als Repräsentant des Übergangs normativ-klassizistischer in historisch-charakterierende Ästhetik. Kennzeichnend für die ästhetische Theorie und Praxis dieser Zeit ist die Ratlosigkeit dem leeren Raum gegenüber, der nach dem Ende der kanonischen Geltung antiker Muster entstanden war — ein Raum, in dem der Ruf nach naturgetreuer Darstellung auf der Bühne ohnmächtig zu verhallen drohte. Auf zwei Ebenen wird der Versuch unternommen, dem Dilemma zu begegnen: auf der literarischen setzt in breitem Umfange die Rezeption englischer Literatur — und in bescheidenem Maße auch bereits der deutschen des Mittelalters ein2, während im Bereich der philosophischen Anthropologie die Besinnung auf den natürlichen Menschen in seiner historischen Umwelt erfolgte, auch dies im Umkreis ästhetischer Überlegungen und mit dem nämlichen Ziele der Vergewisserung der Natur — oder dessen, was man dafür hielt. Findet sich die Ermunterung zum Studium der Affekte in der Natur auch schon in Gottscheds ›Critischer Dichtkunst‹3, so werden — im Gegensatz zu Gottsched — die Vorbilder der Antike und der französischen Klassik, die dessen naturalistische Intention durchkreuzt hatten, durch angemessenere ersetzt.
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Literatur
Vgl. etwa Chr. Fr. D. Schubarts, ›Vorlesungen über die schönen Wissenschaften für Unstudierte‹, Augsburg 1777; die Skizze eines Studium generale für Originalgenies, deren Literaturverzeichnis der Entdeckung der altdeutschen Literatur durch die Schweizer Ästhetiker Rechnung tragt.
Friedrich Justus Riedel, Theorie der schönen Künste und Wissenschaften. 1767, S. 257.
Auch in: Johann Georg Heinzmann, Literarische Chronik in drei Bänden. Bd 2, Bern 1786.
J. B. Dubos, Kritische Betrachtungen über die Poesie und Mahlerey in drei Theilen. Dt. Übersetzung 1760–61. (Zuerst anonym als ›Réflexions critiques sur la poésie la peinture et la musique‹. 1719). Bes. Teil II, Abschnitt 17–20.
Hans Ruppert, Die Darstellung der Leidenschaften und Affekte im Drama des Sturmes und Dranges. 1941, S. 124.
Vgl. Gustav Arthur Bieber, Der Melancholikertypus Shakespeares und sein Ursprung. 1913, S. 73.
s. Jean Starobinski, Geschichte der Melancholiebehandlung von den Anfängen bis 1900. 1960, S. 55.
Walter Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels (zuerst 1928). — 3. Aufl. hg. von Rolf Tiedemann. 1963, S. 161.
Benjamin Fawcett, Über Melancholie, ihre Beschaffenheit, Ursachen und Heilung, vornehmlich über die sogenannte religiöse Melancholie. 1785 (zuerst 1780), S. 13 und 16.
Christian Janentzky, Lavaters Sturm und Drang. 1916, S. 133 ff.
Vgl. hierzu auch Johann Friedrich Zückert, Medizinisch-moralische Abhandlung von den Leidenschaften. 4. Aufl. 1784 (zuerst 1764), Vorrede und S. 81 f.
sowie Aubrey J. Lewis, Melancholia: a historical review. 1934, S. 5.
Vgl. hierzu Joh. Joachim Spalding, Die Bestimmung des Menschen (zuerst 1763). 2. Aufl. 1774, S. 56 f.
Ernst von Bracken, Die Selbstbeobachtung bei Lavater. 1932, S. 91.
Johann Georg Zimmermann, Über die Einsamkeit (zuerst 1784). 2. Aufl. 1785, Bd I, S. 130, 184 und 311.
s. Günter Bandmann, Melancholie und Musik. 1960, S. 79.
Vgl. hierzu: Susi Bing, Die Naturnachahmungstheorien bei Gottsched und den Schweizern und ihre Beziehung zu der Dichtungstheorie der Zeit. Diss. phil. Köln 1934, S. 77 ff. und S. 106.
Frederick Antal, Fuseli-Studies. 1956, S. 33 und ff.
Christian Garve, Über den Charakter der Bauern und ihr Verhältnis gegen die Gutsherren und gegen die Regierung. In: Vermischte Aufsätze Bd 1, 1796. Die Schrift Garves stellt einen unmittelbaren Vorläufer von Garlieb Merkels ›Die Letten, vorzüglich in Liefland am Ende des philosophischen Jahrhunderts‹ (1797) dar. (Freimütiges aus den Schriften Garlieb Merkels. 1959). — Besonders augenfällig ist die Nähe des zweiten Abschnitts (»Charakteristik der Letten«) in dem Buch Merkels zu Diagnose und Deutung von Bauerncharakteren bei Garve. Ist dessen Schrift auch weit behutsamer als die Merkels, so berühren sich doch die Intentionen beider Autoren aufs Engste. — Eine Darstellung der Gedanken Garves, der bislang fast nur in der Kant-Forschung Beachtung fand, hätte sich — außer auf die genannte Schrift — zumal auf dessen Werk ›Über Einsamkeit und Gesellschaft‹ (1797) zu stützen (vgl. die Hinweise hierzu bei Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung. Bd 2 [1959], S. 1130), sowie auf die Überlegungen Garves zur Sprachphilosophie. — Weitere Schriften s. Goedeke, Bd IV, 1. — Zu seiner Biographie muß auf den unzulänglichen Aufsatz von Werner Milch (Johann Christian Garve. In: Schlesische Lebensbilder, Bd II [1926], S. 60 ff.) verwiesen werden. — Ansätze zu einer Untersuchung über Garve und ihm verwandter Autoren finden sich in Heinz Stolpes wichtiger Arbeit zur Sozialgeschichte des späten 18. Jahrhunderts (Versuch einer Analyse der gesellschaftsgeschichtlichen Grundlagen und Hauptmerkmale der Sturm-und-Drang-Bewegung der deutschen Literatur im 18. Jahrhundert. 1953/54).
Vgl. Hellmut Flashar, Melancholie und Melancholiker in den medizinischen Theorien der Antike. 1966. — S. auch Hubert Tellenbach, Melancholie, S. 6 ff.
s. Erwin Panofsky und Fritz Saxl, Dürers Melencolia I. 1923, S. 18 (danach Walter Benjamin, Trauerspiel, S. 163 f.). Vgl. auch die erweiterte Fassung: Saturn und Melancholy. 1964. — Ähnlich werden bei Dante, im Anschluß an die Ethik des Aristoteles, polare Extreme als Abweichungen der gleichen Leidenschaft begriffen. Jähzornige und Verdrossene werden auf der selben Höllenstufe als Sünder der iracundia und der acedia angesiedelt. (Dante Alighieri, Die Göttliche Komödie. Übersetzt u. kommentiert von Hermann Gmelin. Stuttgart 1954. Bd I, S. 89 ff. und Bd II, S. 148 ff.). Vgl. auch Rochus Frh. von Liliencron, Die Bewohnern des vierten danteschen Sünderkreises. 1890, S. 32.
Vgl. Karl Biedermann, Deutschland im 18. Jahrhundert. Bd 1, 2. Aufl. 1880 (zuerst 1854), S. 164: »Das alte, auf die eigene Kraft stolze Bürgertum war selbst in den freien Reichsstädten kaum noch zu finden […] der an seine Stelle getretene Gewerbs- und Handelsstand in den monarchischen Staaten hatte ganz andere Grundlagen seiner materiellen Existenz; er hing fast durchweg, mittelbar oder unmittelbar, von der Gunst der Fürsten, der Höfe, der Regierungs-behörden oder einzelner Beamten ab; er hatte von dieser Seite her für seine Geschäftsunternehmungen Unterstützung zu hoffen oder Hemmung zu fürchten. Ein großer Teil der Handwerker lebte von dem Erwerbe, welchen der Luxus der vielen Höfe und des zahlreichen verschwenderischen Adels ihm zuwendete, und war daher von diesen Kreisen abhängig; der Fabrikant mußte sich der Gunst der Behörden zu versichern suchen, um Privilegien, Vorschüsse, Zollfreiheiten zu erlangen, der Kaufmann durfte es mit dem Accise-Beamten nicht verderben, um nicht der Vorteile eines einträglichen Schmuggelgeschäftes verlustig zu gehen. So waren mehr oder weniger alle Klassen der Gewerbetreibenden durch ihr Interesse an die Träger des bestehenden Systems, ja sogar an dessen Mißbräuche gefesselt und konnten daher kaum ernstlich daran denken, gegen dieses System oder diese Mißbräuche aufzutreten.« (Zit. nach H. Stolpe, Sturm-und-Drang-Bewegung, S. 351).
So etwa W. Heinrich Berisch, Tempel der Unsterblichen oder Analogien großer Männer aus der alten und neuen Welt. In drei Teilen. Münster und Leipzig 1777, S. 104; sowie: E. Young, Nachtgedanken, 6. Nacht. Übersetzung Ebert, S. 158.
William Rose, Die Anfänge des Weltschmerzes in der deutschen Literatur. In: GRM XII (1924), S. 140 ff.
Vgl. Fritz Schalk, Diderots Artikel ›Mélancholie‹. In: Zs. für frz. Sprache und Literatur 66 (1956), S. 175 ff., mit dem vollständigen Ahdruck des Diderot-Artikels.
J. B. Basedow, Practische Philosophie für alle Stände. 1758. Bd 1, §§ 19–21 (›Von der langen Weile und den Gegenmitteln‹). — Vgl. auch J. A. Bergk, Die Kunst, Bücher zu lesen. 1799, S. 21 ; sowie Walther Rehm, Gontscharow, S. 8–14 und die ausführliche Bibliographie S. 159 ff.
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Mattenklott, G. (1968). Interpretation psychologischer Aspekte der Melancholie. In: Melancholie in der Dramatik des Sturm und Drang. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-99671-8_1
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DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-476-99671-8_1
Publisher Name: J.B. Metzler, Stuttgart
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