Zusammenfassung
In welchem Sinne ist das Haus, von dem Mignon in der zweiten Strophe ihres Sehnsuchtsliedes singt, eine Villa des Baumeisters Andrea Palladio? Schon diese Frage könnte mich leicht in den Verdacht naiv-abwegiger Modellschnüffelei bringen. Deshalb soll einem möglichen Mißverständnis gleich anfangs vorgebeugt werden. Das Haus „ist” ein Palladiobau, das kann nimmer bedeuten : es ist einfach ein Abbild eines empirischen Urbildes, sondern: es „ist” ein Palladiobau in der Weise der Dichtung, in dem Sinne, wie überhaupt ein Erfahrungselement dichterische Wirklichkeit werden kann, nämlich durch Transsubstantiation des Erfahrungselements ins Idealtypische und Mythische. Glanz und Schimmer, Saal und Gemach, Säulen und Marmorbilder sind Aufbauelemente jener eigenständig nur-dichterischen Wirklichkeit, die eben von der zweiten Strophe des Mignonliedes konstituiert wird*. Sie sind dies aber als eidetischverwesentlichende Konzentrierung der Schönheitsvorstellung, die sich dem Dichter nun gerade aus dem idealtypischen Erleben von Palladios Baukunst ergab; ja sie sind, das wird zu zeigen sein, in mythischer Verallgemeinerung genau die Elemente, die Goethe in prägnantem Sinn als palladianisch empfand.
Kennst du das Haus ? auf Säulen ruht sein Dach,
Es glänzt der Saal, es schimmert das Gemach,
Und Marmorbilder stehn und sehn mich an:
Was hat man dir, du armes Kind, getan? —
Kennst du es wohl?
Dahin ! Dahin Möcht’ ich mit dir, o mein Beschützer, ziehn !
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Anmerkungen
vgl. zum Thema jetzt auch die wertvolle Studie von Herbert von Einem »Goethe und Palladio«, zuerst veröffentlicht in den›Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen‹, 1956, dann in dem Sammelbd des Verf. »Beiträge zu Goethes Kunstanschauung«, 1956.
Biedermann »Goethes Gespräche«, Bd 2, S. 322. Zum Thema vgl. Helmut Prang »Goethe und die Kunst der italienischen Renaissance«, Diss. Berlin 1937.
Joh. Caspar Goethe »Viaggio in Italia«, hrsg. v. Arturo Farinelli, 2 Bde, Rom 1932/33, Bd 1, S. 353.
vgl. Fritz Burger »Die Villen des Andrea Palladio«, 1909, S. 55: „Schon zur Zeit Palladios und mehr noch nachher wurde durch Dichtermund der Bau verherrlicht, in dem man zugleich die Wiedergeburt klassischer Schönheit feierte.”
vgl. Gustav Cohen »Mignon«, in: ›Jb. der Goethe-Ges.‹, 7, 1920, S. 144: „Man darf die Frage für berechtigt halten, ob Goethe sie (die Vorgeschichte) überhaupt gebracht haben würde, wenn es für ihn nicht von zwingender Bedeutung gewesen wäre, die Entstehung der Mignon auf einen Inzest zwischen nächsten Blutsverwandten zurückzuführen; daneben scheint es ihm wichtig gewesen zu sein, in ihren Eltern vornehme Charaktere darzustellen.”
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Meyer, H. (1963). Kennst du das Haus?. In: Zarte Empirie. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-99620-6_9
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DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-476-99620-6_9
Publisher Name: J.B. Metzler, Stuttgart
Print ISBN: 978-3-476-99621-3
Online ISBN: 978-3-476-99620-6
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