Zusammenfassung
Heinrich Hoffmanns Struwwelpeter-Bilderbuch, das auf Anhieb einen Erfolg erlebte, wie er kaum seinesgleichen hat [1], ist 1844/45 »in auffallender Nähe zur bürgerlichen Revolution« [2] mehr aus einer Laune Hoffmanns heraus entstanden und veröffentlicht worden. [3] So wenig es möglich ist, bei einer kritischen Analyse des Struwwelpeter davon abzusehen, so wenig sinnvoll erscheint es, den Erfolg apologetisch einzusetzen im Sinn von ›Millionen Kinder können sich nicht irren‹, um so jeder möglichen Kritik das Wort abzuschneiden.
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Anmerkungen
Bereits 31 Jahre nach Erscheinen der Erstausgabe, 1876, kam die 100. Auflage heraus, die 200. erschien zwanzig Jahre später, 1896; bis zum Ablauf der Schutzfrist 1925 waren mehr als 500 Auflagen erschienen. Der »Struwwelpeter« wurde in alle Sprachen, auch ins Ägyptische und Lateinische übersetzt; kaum zu zählen sind die Nachahmungen, Persiflagen und Bearbeitungen. Bis heute finden »Struwwelpeter«-Motive in der Werbung Verwendung (Apfelsineneinwickelpapier, Lutscher, Kinderfertignahrung, Malbücher, Taschentücher etc.); in allen Kaufhäusern liegen grellbunte billige Ausgaben herum. cf hierzu: Helmut Müller, Der »Struwwelpeter« — Der langanhaltende Erfolg und das wandlungsreiche Leben eines deutschen Bilderbuches, In: Klaus Doderer, Klassische Kinder- und Jugendbücher. Kritische Betrachtungen, Weinheim, Berlin, Basel 1969, p. 55–97
Johannes Merkel, Wirklichkeit verändernde Phantasie oder Kompensation durch phantastische Wirklichkeiten? Zur Rolle der Phantasie in der Kinder- und Jugendliteratur, In: Dieter Richter und Jochen Vogt (ed.), Die heimlichen Erzieher. Kinderbücher und politisches Lernen, Hamburg 1974, p. 73 Weder Merkel noch Elke und Jochen Vogt in ihrer Untersuchung (cf Anm. 7) ziehen jedoch daraus irgendwelche Konsequenzen für ihre Interpretation.
Über die Entstehung des »Struwwelpeter« berichtet Hoffmann in seinen Lebenserinnerungen. Eduard Hessenberg (ed.), »Struwwelpeter—Hoffmann« erzählt aus seinem Leben. Lebenserinnerungen Dr. Heinrich Hoffmanns, Frankfurt/M 1926, p. 105–111; cf p. 13ff dieser Arbeit
Lebenserinnerungen, l. c. p. 108
Der Struwwelpeter oder lustige Geschichten und drollige Bilder von Dr. Heinrich Hoffmann, Frankfurt/M 1957, p. 1
»Zwei Einwände pflegt man dem Struwwelpeter gegenüber zu machen … die geschilderten Unarten könnten auf die Kinder verderblich wirken, und die Häßlichkeit der Bilder verdürbe ihren Geschmack.« Hermann L. Köster, Geschichte der deutschen Jugendliteratur, Hamburg 1906, p. 17
cf aus den letzten Jahren besonders: Elke und Jochen Vogt, ›Und höre nur wie bös er war‹. Randbemerkungen zu einem Klassiker für Kinder, In: Richter, Vogt, l. c. p. 11–30, passim und: Christa Hunscha, Struwwelpeter und Antistruwwelpeter, In: Ch. H., Struwwelpeter und Krümelmonster. Die Darstellung der Wirklichkeit in Kinderbüchern und Kinderfernsehen, Frankfurt/M 1974: »Form und Inhalt des ›Struwwelpeter‹ sind gleichermaßen entmenscht, auf die nackte Unterdrückung bis Zermalmung des Individuums aus.« (p. 121)
Gustav Adolf Bogeng, Der Struwwelpeter und sein Vater. Geschichte eines Bilderbuchs, Potsdam 1939, p. 88
Vogt, l. c. p. 25
Horst Kunze, Der Schatzbehalter. Vom Besten aus der älteren deutschen Kinderliteratur, Berlin 1964, p. 246
Zu nennen wäre vor allem Dreßler, der eine Art Wissenschaftsparodie verfaßt: »Mit dieser Feststellung wahrt sich Verfasser die Priorität, die Priorität des Struwwelpeterdichters als Begründer einer Epoche nachgewiesen zu haben.« Dreßler, Der philosophische Gehalt des Struwwelpeter, Süddeutsche Monatshefte, 5. Jg. H. 7 (1908), p. 20 Mit philosophischer Spitzfindigkeit unternimmt es Dreßler, vorab jeden Versuch, über das in Bild und Text unmittelbar Gegebene hinauszugehen, ad absurdum zu führen; Bogeng bemerkt dazu: »Dreßler hat in einer satirischen Skizze gezeigt, was sich aus dem berühmten Kinderbuch von einem ehrgeizigen Doktoranden für die Geistes- und Schrifttumsgeschichte alles herausarbeiten ließe, wenn man es nur richtig anfängt.« (l. c. p. 87) Hier überträgt sich das aus Herablassung, freundlicher Geringschätzung und sentimentaler Rückerinnerung gebildete Verhältnis zum Kind und zur Kinderliteratur auch auf diejenigen Erwachsenen, die versuchen, »dem Ernst als der Kindern gemäßen Sphäre« gerecht zu werden. cf Walter Benjamin, Spielzeug und Spielen. Randbemerkungen zu einem Monumentalwerk, In: W. B., Über Kinder, Jugend und Erziehung. Mit Abbildungen aus der Sammlung Benjamin, Frankfurt/M 1969, p. 68 An der Arbeit von Angela von Randow: Das Erziehungsmodell des »Struwwelpeter« und seine Aufnahme bei Vorschulkindern, Jugendschriften-Warte 7/8 1971, bemängelt ein Leser im nächsten Heft dieser Zeitschrift »die für eine Frau befremdend theoretisch-lederne Angelegenheit anstelle von natürlicher Einfühlung, von unbefangen weiblichem Sinn für die Wirklichkeit der Kinderwelt.«
Für Bogeng z. B. ist Hoffmann der »Kopernikus des Kinderbilderbuches … weil er seinen Standort, den des Erwachsenen, mit dem des Kindes vertauschte«. l. c. p. 103
Heinrich Hoffmann, Wie der Struwwelpeter entstand, In: Die Gartenlaube, Jg. 1871, p. 768
Darüber geht m. E. auch Helmut Müller in seiner sehr materialreichen (unter Anm. 1 zitiert) Arbeit nicht hinaus, die mit einigen Veränderungen und Erweiterungen wieder abgedruckt ist in: Klaus Doderer, Helmut Müller (ed.), Das Bilderbuch. Geschichte und Entwicklung des Bilderbuchs in Deutschland von den Anfängen bis zur Gegenwart, Weinheim und Basel 1973, p. 141–182
Walter Scherf, Von der Schwierigkeit, die Geschichte des Kinderbuchs zu schreiben, In: Jörg Drews (ed.), Zum Kinderbuch. Kritisches. Praktisches, Frankfurt/M 1975, p. 166
Für Methodik und Theoriebildung dieser Arbeit erwies sich als besonders wichtig und anregend die Untersuchung von Norbert Elias »Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen«, Basel 1935, in dem die »Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes« im Übergang von der feudalanarchischen zur feudalabsolutistischen Gesellschaftsordnung beschrieben werden. Für die Darstellung der historischen Veränderungen ist als wichtigstes und materialreichstes Werk zu nennen: Philippe Ariès, L’enfant et la vie familiale sous l’ancien règime, Paris 1960, jetzt auch auf deutsch erschienen unter dem Titel: Geschichte der Kindheit, München und Wien 1975
Herder, dessen Volksliedkonzeption die Sammel- und Herausgebertätigkeit der Romantiker anregt, übernimmt von Rousseau die Gleichsetzung von Kindern und Wilden, d. h. denen, die noch über eine von bürgerlich-pedantischen Festlegungen freie sprachliche Phantasie verfügen: »Unsre Pedanten, die alles vorher zusammenstoppeln und auswendig lernen müssen, um alsdann recht methodisch zu stammeln; unsre Schulmeister, Küster, Halbgelehrten: Apotheker und alle, die den Gelehrten durchs Haus laufen und nichts erbeuten … — diese gelehrten Leute, was wären die gegen die Wilden? — Wer noch bei uns Spuren von dieser Festigkeit finden will, der suche sie ja nicht bei solchen; — unverdorbne Kinder, Frauenzimmer, Leute von gutem Naturverstande, mehr durch Tätigkeit als durch Spekulation gebildet, die sind, wenn das, was ich anführte, Beredsamkeit ist, alsdann die einzigen und besten Redner unsrer Zeit.« Johann Gottfried Herder, Über Ossian und die Lieder alter Völker, In: J. G. H., Schriften. Eine Auswahl aus dem Gesamtwerk, München 1960, p. 252
Über die »Vorgesetzten des Menschengeschlechts« sagt Georg Forster: Einigen unter ihnen insbesondere heißen die Völker … ewige Kinder. Es ist in ihrem Sinne ausgemacht, daß die Pflege dieser Kinder, die Verwaltung ihrer Angelegenheiten, die Einrichtung des großen Haushalts, die gemeinschaftliche Anwendung ihrer Kräfte ihnen selbst nicht überlassen werden dürfen, daß sie ihres Ursprungs unkundig, auf Treue und Glauben annehmen müssen, was ihre Vormünder ihnen darüber mitzuteilen für nötig erachten, daß sie endlich nur insofern glücklich sein können, wie sie gläubig und folgsam sind.« (Hervorheb. vom Verf.) Georg Forster, Über die Beziehung der Staatskunst auf das Glück der Menschheit, In: Forsters Werke in zwei Bänden, Berlin und Weimar 1968, Bd. 1, p. 124
Franz Dingelstedt, Der Struwwelpeter als Radikaler, In: Fliegende Blätter, Jg. 1848 Nr. 137, p. 131 Zu der Glosse von Dingelstedt cf Anm. V, 15 a, und p. 210f dieser Arbeit.
zitiert nach Helmut Brandts Einleitung zu Kleists Werken in zwei Bänden. Erster Band. Gedichte. Erzählungen. Anekdoten. Kleine Schriften, Weimar 1961 p. (34)
mit Hilfe der Differenzierung verschiedener »Lesemodelle« kommt Arno Schmidt in der Analyse der Romane Karl Mays zu wichtigen, der oberflächlichen »LI«-Rezeption unzugänglichen Ergebnissen. Auch für die vorliegende Untersuchung gilt indessen Schmidts Voraussetzung, daß »in Wirklichkeit die im Fall MAY auftretenden 4 Einstellungen zur Lektüre seiner Bücher nie gesondert auftreten; vielmehr unerkannt & sehr kompliziert durcheinanderwölken.« Arno Schmidt, Sitara und der Weg dorthin. Eine Studie über Wesen, Werk & Wirkung Karl Mays, Frankfurt/M 1969, p. 154
Wilhelm F. Arntz, Der Struwwelpeter und andere Original-Manuskripte des Struwwelpeter-Hoffmann, Stuttgart 1954, p. 2–17 (= Beilage der 19. Kunstauktion des Stuttgarter Kunstkabinetts)
Bogeng, l. c. p. 88
Bettina Hürlimann, Europäische Kinderbücher in drei Jahrhunderten, TB-Ausgabe, München und Hamburg 1968, p. 107 und Helmut Müller, l. c. p. 62
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Könneker, ML. (1975). Der »Struwwelpeter« als Modell bürgerlicher Sozialisation und Selbstdarstellung. In: Untersuchungen zum Entstehungs- und Funktionszusammenhang von Dr. Heinrich Hoffmanns »Struwwelpeter«. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-99603-9_1
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