Zusammenfassung
Als die jungen Dichter der achtziger Jahre mitten im tiefsten deutschen Litteratur-frieden plötzlich über die aufgeschreckte Bourgeoisie herfielen und die Gelbveiglein aus ihren Versen reuteten, um dafür Kartoffeln zu pflanzen, glaubten sie damit die Lyrik, wie der Kunstausdruck lautete, „revolutioniert“ zu haben. Ich schlug auch die Trommel, schwenkte abwechselnd auch die Fahne, rasselte mit meinem eingebildeten Zahnstocher ebenfalls und bin also über die Stimmung, die damals rumorte, einigermaßen informiert. Wir hatten Glück und stehen heute in den Konversationslexicis als Begründer der sogenannten „Großstadtlyrik.“ Dann kam das Jahr 1890, in dem das neue Drama geboren wurde — ich weiß, Spaßvögel behaupten, es sei schon längst wieder gestorben —, und die Lyrik, die bis dahin das Interesse, wenigstens der Produzenten, fast ausschließlich behauptet hatte, gerieth im Handumdrehen wieder in Geringschätzung. Die eben noch auf der Barrikade gestanden, die eben noch, eine neue Welt in ihrer Leier, von einem nahen Morgenrot geträumt, das den Speckigen, die nicht durch das Nadelöhr gingen, das Jüngste Gericht bedeuten sollte, den Mühsäligen und Beladenen aber die Auferstehung, — die Göttin von gestern irrte wieder umher, geächtet wie Genoveva. Nur wenige Getreue, die ein versorgliches Geschick mit begüterten Vätern gesegnet, folgten ihr in die Einöde, wo der Mond sich in ihren Brillantringen spiegelte; und unter seltsamen Pappeln, die unter seltsamen Himmeln ein seltsames Rauschen vollführten, trieb nun ein seltsamer Kultus sein seltsames Wesen. Ich kondensire nur; ich übertreibe nicht.
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Notizen
Friederike Kempner (1856–1904), auch der „schlesische Schwan“ genannt, erregte mit der unfreiwilligen Komik ihrer Gedichte (1873) in ganz Deutschland Heiterkeit.
Johanna Ambrosius (1854–1938), ostpreußische Dienstmagd; ihre 1895 von dem Wiener Journalisten Karl Weiß herausgegebenen poetischen Versuche galten als schlichte, unverfälschte Volkskunst.
Ludwig Börne (1786–1837), kritisches und theoretisches Haupt des „Jungen Deutschland“. Der als Binsenweisheit zitierte Gedanke gehört in die „Briefe aus Paris“ (1832/34).
Victor Hugo (1802–1885), Dichter der französischen Romantik; nach deutschen Begriffen vor allem in seinem Frühwerk mehr lyrischer Rhetor als Poet.
Holz zielt, obwohl er in der Mehrzahl spricht, auf Hauptmann, der in der „Versunkenen Glocke“ (1896) plötzlich wieder den Blankvers benutzt hatte.
Die Bewegung des „vers libre“ (frz.: „freier“, d.h. nicht metrisch gebundener Vers) ging von der sogenannten jüngeren Generation der Symbolisten um Mallarmé aus. Ihre Hauptvertreter waren Gustave Kahn (1859–1955), Jules Laforgue (1860–1887) und Francis Vielé-Griffin (1864–1937). Als erster hat den vers libre Rimbaud gebraucht; Mallarmé selber lehnte ihn, wie auch Verlaine, ab. Obschon die von Holz vermuteten Übereinstimmungen in der ästhetischen Tendenz bestehen, ist die Theorie des vers libre von seiner eigenen „gegenmusikalischen“ in vielen Zügen verschieden.
Alfred Mombert (1872–1942), den die Expressionisten zu ihren Vorläufern rechneten, hatte bis dahin die Bände „Tag und Nacht“ (1894), „Der Glühende“ (1896) und „Die Schöpfung“ (1897) veröffentlicht. Holz’ Vorbehalt, es handle sich auch hier nur um ein „Tappen“, trifft insofern vorbei, als es Mombert — wie Liliencron — nicht auf die experimentelle Gewinnung „natürlicher Rhythmen“ ankam, sondern auf das Nachbilden visionärer Inhalte. Eben dies schloß bei beiden den Rückgriff auf traditionelle Metren und Strophenmuster nicht aus.
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Ruprecht, E., Bänsch, D. (1970). Arno Holz [»›Selbstanzeige‹ zum Erscheinen des ›Phantasus‹«]. In: Ruprecht, E., Bänsch, D. (eds) Literarische Manifeste der Jahrhundertwende 1890–1910. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-99502-5_3
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Publisher Name: J.B. Metzler, Stuttgart
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