Von der Aufklärung zum Sturm und Drang 1700–1775

Zusammenfassung

Erstaunlich ist, mit welcher wegsicheren Entschiedenheit sich um die Jahrhundertwende 1700 bei allen fortschrittlichen und wachen Geistern der Wille zu einer neuen Bildung, zu neuen gesellschaftlich-moralischen Lebensformen abzeichnet; gleichsam als begriffe die sich entfaltende deutsche Aufklärung den Wechsel der Jahreszahl als Signal ihres Durchbruchs und als hätten die Deutschen im Beginn des 18. Jahrhunderts den Aufruf zu einer völligen geistigen Wandlung vernommen. Sie holten damit, zögernd und dürftiger, nach, was sich in Frankreich und England seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts als Krise des europäischen Geistes mit leidenschaftlich gereizter Energie und intellektueller Abenteuerlust vollzog¹). So vielfältig die sich nun entwickelnde Kultur der Aufklärung, des Pietismus und des Rokoko an Leistungen und Entdeckungen des Barock anschließt — sie bedeutet dennoch eine allmählich immer tiefer greifende, immer radikalere Konsequenzen herausarbeitende Umschaltung des geistig-seelischen Daseins in allen Formen und Bezügen. Mit seltener Folgerichtigkeit hat das 18. Jahrhundert seine Eigentümlichkeit ausgeprägt; nicht in heftigen Stößen und Sprüngen, sondern in planvoll-zäher Arbeit, in langsamer Klärung und Differenzierung der Denkformen — ein Prozeß, der zugleich die Entwicklungsstufen einer nicht mehr nur bürgerlich fundierten, sondern auch durchaus bürgerlich gerichteten Kultur abzeichnet.