Zusammenfassung
Nach Jahrzehnten einer weitgehenden religiösen Indifferenz vollzieht sich in der deutschen Literatur der späten neunziger Jahre plötzlich eine ‚metaphysische‘ Wende, die man häufig mit dem Protest der Romantik gegen die Aufklärung verglichen hat.1 Überall melden sich Stimmen, die den positivistischen Determinismus und seinen zweckgebundenen Fortschrittsglauben als eine zunehmende Verengung der menschlichen ‚Substanz‘ empfinden. Um diese Verfremdung, ja Verkrustung der seelischen Antriebskräfte wieder rückgängig zu machen, entsinnt man sich wie in den Tagen Schleiermachers auf jenes mythischirrationale Bild des ‚Homo religiosus‘, das im Zeitalter der saturierten Bürgerlichkeit und seiner rein diesseitigen Weltanschauung ins literarische Unterbewußtsein abgesunken war. Während die Impressionisten fast ausschließlich das flüchtige Sinnenglück umbuhlt hatten, wodurch sie einem relativistischen Solipsismus verfallen waren, bemüht man sich jetzt um eine geheimnisvolle Übereinstimmung mit allen sogenannten ‚Schicksalsmächten‘, um so der Welt des hastenden Tuns und der tausendfältigen Zerstreuungen etwas Würdiges, Bedeutungsvolles, Göttliches entgegenzusetzen.
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Anmerkungen
vgl. hierzu auch das Kapitel ‚Religio statt Liberatio‘ in Richard Hamann/Jost Hermand, Stilkunst um 1900 (Berlin 1967, Deutsche Kunst und Kultur von der Gründerzeit bis zum Expressionismus 4), S. 131–67.
vgl. Wolfgang Golther, Parzival und der Gral in der Dichtung des Mittelalters und der Neuzeit (Stuttgart 1925), der jedoch die neuere Gralsdichtung nur anhangsweise behandelt und obendrein am Maßstab Wolframs mißt. Sein Lob gilt in nationalistischer Überspitzung nur Lienhard, Chamberlain und Wolzogen, deren Werke mit Adjektiven wie „sinnig“ oder „gedankentief“ ausgezeichnet werden (S. 306 ff.). Rein motivgeschichtlich orientiert ist die Arbeit von Margarete Pertold, Die Parzivalgestalt in der neuen Dichtung (Diss. Wien 1935), die sich um eine möglichst lückenlose Erfassung der Gralsmotivik bemüht, während sie die weltanschaulichreligiösen Hintergründe dieser Werke recht oberflächlich behandelt.
Heinrich Rickert, Der Gegenstand der Erkenntnis, 2. Aufl. (Tübingen 1904), S. 166.
Friedrich Lienhard, Der Meister der Menschheit (Stuttgart 1919–21), Bd III, S. 33.
Eine der ersten kritischen Auseinandersetzungen mit Lienhard findet sich bei Ernst Stadler (Dichtungen, hrsg. von K. L. Schneider, Hamburg 1954, Bd II, S. 61 ff.), dessen Gedicht ‚Parzival vor der Gralsburg‘ (Bd I, S. 147) eine entschiedene Absage an jeden idealistischen Optimismus darstellt.
Rudolf Hans Bartsch, Zwölf aus der Steiermark (Leipzig 1908), S.271.
vgl. Jost Hermand, Die Ur-Frühe. Zum Prozeß des mythischen ‚Bilderns‘ bei Mombert. In: Monatshefte 53 (1961), S. 105–14.
Eduard Stucken, Gesammelte Werke (Berlin 1924), Bd I, S. 403.
Stefan George, Der Stern des Bundes (Berlin 1914), S. 101.
Emanuel von Bodman, Die gesamten Werke (Stuttgart 1957), Bd V, S. 266.
Hans Blüher, Werke und Tage, 2. Aufl. (München 1953), S. 245.
vgl. zum Folgenden auch George L. Mosse, The Crisis of German Ideology. Intellectual Origins of the Third Reich (New York 1964), S. 31 ft, 204 ff.
Will Vesper, Parzival (München 1911), S. 256.
Heinrich Driesmans, Von der Eugenik deutschen Wesens. In: Werdandi-Jahrbuch (1913), S. 100.
vgl. auch Peter Horwath, Der Weg vom liberalen zum nationalen Pathos. Die Literatur Tirols. In: Literatur und Kritik 8 (Nov. 1966), S. 25 f.
Auf breiter Basis dargestellt bei Wilfried Daim, Der Mann, der Hitler die Ideen gab (München 1958), einer psychoanalytisch orientierten Untersuchung, die trotz aller monokausalen Verzerrungen einen beachtlichen Dokumentarwert besitzt.
Adolf Hitler, Mein Kampf, 4. Aufl. (München 1925), S. 21.
Hermann Rauschning, Gespräche mit Hitler (New York 1940), S. 216.
Alfred Schuler, Fragmente und Vorträge, hrsg. von L. Klages (Leipzig 1940), S. 174.
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Hermand, J. (1969). Gralsmotive um die Jahrhundertwende. In: Von Mainz nach Weimar (1793–1919). J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-99280-2_9
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