Zusammenfassung
Wie bei fast allen Periodisierungsfragen ist auch bei der Literatur des sogenannten ‚bürgerlichen Realismus‘ das Problem der zeitlichen Begrenzung noch immer recht umstritten. Lediglich über den Auftakt dieser Epoche scheint man sich langsam zu einigen. Nachdem man ihn über Jahrzehnte hinaus in den Jahren 1830 (Julirevolution) und 1852 (Goethes Tod) gesucht hatte, neigt man im Augenblick — unter dem Einfluß Martinis, Lukács’ und der neueren Biedermeierforschung — mehr dazu, die entscheidende Wendemarke in der gescheiterten Achtundvierziger Revolution zu sehen.2 Völlig kontrovers ist jedoch nach wie vor die Frage nach dem Ende dieser Bewegung. Burger3 und Lukács4 legen den Akzent auf die Jahre 1889 und 1890, also auf den Durchbruch des Naturalismus. Martini greift bis zum Todesjahr Fontanes (1898) aus, obwohl auch er den Naturalismus schon als eine „Opposition gegen die Dichtungsformen des bürgerlichen Realismus“ bezeichnet.5 Brinkmann schließt sogar noch Keyserlings »Beate und Mareile« (1903) in die realistische Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts ein.6 Andere haben diese Linie bis zum frühen Thomas Mann weitergezogen. Man sieht, gegen Ende der Entwicklung wird der Realismus zu einem Strang unter anderen, zu dem sich in steigendem Maße naturalistische, impressionistische und symbolistische Strömungen gesellen.
Was auch der deutsche Künstler der Zukunft schaffen möge — so entfernt auch der Gegenstand seines Werkes von irgend einer Beziehung zu den Ereignissen von 1870 und 71 sei — sein Werk wird eine nationale Bedeutung haben. Ein Erlebnis wie das, welches die Seele der deutschen Nation durchgemacht, will und muß, auf welche Weise es auch sei, seinen künstlerischen Ausdruck finden.
(Karl Hillebrand, 1874).1
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Anmerkungen
Karl Hillehrand, Zwölf Briefe eines ästhetischen Ketzers (Berlin 1874), S.117 f.
vgl. Fritz Martini, Deutsche Literatur im bürgerlichen Realismus. 1848–1898, 2. Aufl. (Stuttgart 1964);
Georg Lukács, Skizze einer Geschichte der neueren deutschen Literatur (Neuwied 1963), S. 122.
Heinz Otto Burger, Der Realismus des 19. Jahrhunderts. 1832–1889. In: Annalen der deutschen Literatur (Stuttgart 1952).
Richard Brinkmann, Wirklichkeit und Illusion (Tübingen 1957), S. 216 ff.
Erich Auerbach, Mimesis, 2. Aufl. (Bern 1959), S. 420.
Die Gegenthese vertritt Wolfgang Preisendanz, Humor als dichterische Einbildungskraft (München 1963), S. 9 ff.
Richard Hamann/Jost Hermand, Gründerzeit (Berlin 1965, Deutsche Kunst und Kultur von der Gründerzeit bis zum Expressionismus 1).
Oskar Walzel, Die deutsche Dichtung seit Goethes Tod (Berlin 1920), S. 169 ff.
Claude David, Von Richard Wagner zu Bertolt Brecht (Frankfurt/Main 1964), S. 9 ff. u ebd. S. 12, 61.
Karl Hillebrand, Zeiten, Völker und Menschen (Straßburg 1875), Bd II, S. 311.
vgl. Franz Mehring, Die Literatur im deutschen Reiche (1874). In: Meisterwerke deutscher Literaturkritik, hrsg. von H. Mayer (Berlin 1956), Bd II, S. 899 ff.
Emanuel Geibel, Gesammelte Werke (Stuttgart 1883), Bd IV, S. 259.
Adolf Friedrich von Schack, Gesammelte Werke (Stuttgart 1883), Bd IV, S. 167.
Ernst von Wildenbruch, Gesammelte Werke (Berlin 1912), Bd XV, S. 421.
Hermann Lingg, Zeitgedichte (Berlin 1870), S. 7.
Heinrich Leuthold, Gesammelte Dichtungen, hrsg. von G. Bohnenblust (Frauenfeld 1914), Bd I, S. 261.
Conrad Ferdinand Meyer, Werke, hrsg. von H. Engelhard (Stuttgart 1960), Bd II, S. 582.
Eduard Grisebach, Tanhäuser in Rom (Leipzig 1875), S. 110.
Paul Heyse, Gesammelte Werke (Berlin 1882 ff.), Bd VII, S. 272.
Friedrich Nietzsche, Werke (Leipzig 1899 ff.), Bd VII, S. 331.
Carl Spitteler, Gesammelte Werke (Zürich 1945), Bd I, S. 5.
Paul Heyse, Jugenderinnerungen und Bekenntnisse, 5. Aufl. (Stuttgart 1912), Bd I, S. 68.
Franz Nissel, Mein Lehen (Stuttgart 1894), S. 258.
Georg Brandes, Paul Heyse. In: Deutsche Rundschau 4 (1875), S. 269.
Georg Lukács, Der historische Roman (Berlin 1955), S. 238.
Friedrich Sengle, Das deutsche Geschichtsdrama (Stuttgart 1952), S. 176.
Wilhelm Jordan, Epische Briefe (Frankfurt 1876), S. 31 f.
Felix Dahn, Sämtliche Werke poetischen Inhalts (Leipzig 1898), Bd XX, S. 158.
Über die Nibelungendramen dieser Ära vgl. Jost Hermand, Hebbels ‚Nibelungen‘. Ein deutsches Trauerspiel. In: Hebbel in neuer Sicht, hrsg. von H. Kreuzer (Stuttgart 1963), S. 332 ff.
Hermann Lingg, Vaterländische Balladen und Gesänge (Stuttgart 1869), S. 181 f.
Wilhelm Jordan, Nibelunge (Frankfurt 1867–74), Bd I, S. 49.
Arthur Fitger, Adalbert von Bremen (Oldenburg 1874), S. 87.
Hermann Lingg, Die Völkerwanderung (Stuttgart 1866–68), Bd II, S. 130.
Friedrich Theodor Vischer, Der Krieg und die Künste (Stuttgart 1872), S. 1.
Heinrich von Treitschke, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, (Leipzig 1879–1894), Bd I, S. 28.
Hans Schwerte, Deutsche Literatur im wilhelminischen Zeitalter. In: Wirkendes Wort 14 (1964), S. 256–70.
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Hermand, J. (1969). Zur Literatur der Gründerzeit. In: Von Mainz nach Weimar (1793–1919). J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-99280-2_7
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