Zusammenfassung
Wenn der Poeta doctus einen bestimmten Dichtertypus darstellt, so darf vielleicht ohne Übertreibung gesagt werden, daß Thomas Mann der bedeutendste Vertreter dieses Typus in unserem Jahrhundert ist. Die eigentümliche Größe seines Dichtertums besteht nicht zuletzt darin, daß er als Neuerer zugleich ein Bewahrer ist, der verantwortungsvolle Verwalter eines mächtigen geistigen Erbes, das die Grundlage abgibt, auf der seine eigene Dichtung weiterbaut. Dies geschieht unter anderem dadurch, daß er das als gültig und verpflichtend erfahrene Bildungsgut als eine Art von sinngebender Oberschicht, auf welche die Erzählinhalte ausgerichtet und bezogen werden, in seine erzählenden Werke eingehen läßt. Es ist genugsam bekannt, welche Ausweitung und Aufgipfelung des Sinngefüges schon in seinen frühen Dichtungen die anverwandelnde Hineinnahme schon geprägten Literaturguts bedeutet: Man denke etwa an Schopenhauers Kapitel »Über den Tod und sein Verhältnis zur Unzerstörbarkeit unseres Wesens an sich« in den »Buddenbrooks«1, an Wagners »Tristan und Isolde« in der »Tristan-Novelle und an Piatons »Phaidros« im »Tod in Venedig«. Und noch bekannter dürfte die raffinierte »Montage« des gültig Vorgeprägten — sowohl eigentlicher Zitate wie ganzer Gehaltskomplexe — in den späten Romanen und vor allem in »Doktor Faustus« sein.
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Anmerkungen
Zum Thema Thomas Mann und Sterne vgl. den geistreichen Aufsatz von Oskar Seidlin »Laurence Sterne’s Tristram Shandy and Thomas Mann’s Joseph the Provider« in: »Modern Language Review«, Vol. 8 (1947), S. 101–118, in deutscher Fassung: »Ironische Brüderschaft, Thomas Manns Joseph der Ernährer und Laurence Sternes Tristram Shandy«, in: »Orbis Litterarum«, Tome 13, Fasc. 1–2, 1958, S. 44–63.
Hermann J. Weigand »Thomas Mann’s Novel Der Zauberberg«, New York und London 1933, S. 47.
Die „Taubenfüße“ beruhen vielleicht auf einer Reminiszenz an »Also sprach Zarathustra«, Kapitel »Die stillste Stunde«; vgl. Erika A. Wirtz »Zitat und Leitmotiv bei Thomas Mann«, in: »German Life and Letters«, New Series 7 (1953/54), S. 126–136, daselbst S. 134.
vgl. Hermann J. Weigand »Thomas Mann’s Gregorius«, in: »The Germanic Review«, Vol. 27 (1952), S. 10–50 und S. 83–95, sowohl wegen der verblüffend scharfsinnigen Feststellung vieler Entlehnungen wie wegen der feinsinnigen Deutung der „transmutation into an integrated new work of art“.
Gerhard Lange »Der Goethe-Roman Thomas Manns im Vergleich zu den Quellen«, Diss. Bonn 1954 (nicht gedruckt), hat Thomas Manns Kenntnis der Goethe-Literatur (sowohl der Goetheschen Schriften wie der Sekundärliteratur) sehr gründlich und ergebnisreich untersucht. Die Arbeit war mir leider noch unbekannt, als der vorliegende Abschnitt über »Lotte in Weimar« erstmalig in der Festschrift für Hermann J. Weigand »Wächter und Hüter«, Yale University 1957, erschien. Gerhard Lange stellt „eine Belesenheit Thomas Manns in den Schriften Goethes“ fest, „die wohl nur in Kreisen von Fachgermanisten ihresgleichen findet: und zwar eine Kenntnis aller Teile des Goetheschen Gesamtwerks, ob es nun meteorologische Aufzeichnungen oder irgendwelche Paralipomena sind“ (S. 34).
vgl. Ernst Cassirer »Thomas Manns Goethe-Bild. Eine Studie über Lotte in Weimar«, in: »The Germanic Review«, Vol. 20 (1945). Cassirer wendet in höchst erhellender Weise Goethes Begriff der „wiederholten Spiegelung“ auf Thomas Manns erzählerisches Verfahren an.
s.: Hans Wahl und Anton Kippenberg »Goethe und seine Welt«, 1932, S. 169.
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Mann, T. (1961). »Der Zauberberg« und »Lotte in Weimar«. In: Das Zitat in der Erzählkunst. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-99172-0_10
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