Zusammenfassung
Hrotsvith, Nonne des sächsischen Klosters Gandersheim im Umkreis der ersten Ottonen, trägt seit ihrer Wiederentdeckung durch deutsch-altertumsfreundliche Humanisten des 15. und 16. Jahrhunderts den Ruf der ‘ersten deutschen Dichterin’ und des ersten und fast einzigen ‘Dramatikers’ in Jahrhunderten des Mittelalters. Schon diese Tatsachen scheinen bedeutsam, dazu vieles an Hrotsviths anziehender Persönlichkeit selbst; und doch wurde sie bisher, wenigstens in Deutschland, nur den wenigen Kennern lebendig1. Verständlich genug, denn schon die Sprache ihrer Werke, das künstliche Latein der Ottonenzeit, macht den Zugang nicht leicht, und noch verschlossener bleibt im allgemeinen ihre geistige Welt—obgleich sich darin neben den christlichen Legenden, deren damals überwältigende Wunderwelt uns heute so nicht mehr fühlbar ist, auch die herzlich familienhaften Gedichte über die Taten Ottos des Großen und die Gründung ihres Klosters finden, die den Ton dieser ‘deutschen Frühe’ vernehmbar zu uns herübertragen. Den Kern und Grund ihrer Persönlichkeit wie ihres Werkes aber muß man doch aus ihrer christlich-sächsischen Klosterwelt ergraben. Und da steht man vor dem ganzen Komplex von christlicher Überlieferung in klösterlicher Lebenspraxis, vererbter und neuerworbener antiker Bildung, byzantinischer Kulturwirkung, beginnendem europäischen ‘Mittelalter’ und sächsisch-deutscher Volkssubstanz, den man seit einiger Zeit ‘Ottonische Renaissance’ zu nennen pflegt. Die neuere wissenschaftliche Arbeit hat viel zu seiner Entwirrung getan, indem sie Quellen, Vorbilder, Parallelen aufsuchte, um durch Subtraktion alles Übernommenen und Typischen zur schöpferischen ‘Persönlichkeit’ selbst vorzudringen: höchst notwendig, und doch mit dem Ergebnis, daß das Urteil noch heute schwankt zwischen stärksten Extremen2.
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Anmerkungen
Vor allem durch Paul von Winterfeld. Die Ausgabe (Script, rer. germ, in usum schol. 17, 1902) gibt die wichtigsten und meisten Materialien. Neue Ausgabe von Karl Strecker, 21930, nach der zitiert ist. Vollständige Übersetzung von Helene Homeyer 1936. Zusammenfassende Darstellung und ältere Literatur bei Max Manitius, Gesch. d. lat. Lit. d. Mittelalters, 1911, I, 619 und Gustav Ehrismann, Gesch. d. dt. Lit. bis zum Ausgang d. Mittelalters, 21933, I, 389.
So heißt es von Hrotsvith z. B. bei F. J. E. Raby, A History of Christian-Latin Poetry, 21953,I,208: »the verses display the smallest degree of talent, though they must have cost much pains«; bei G. de Reynold, L’hellénisme et le génie européen, 1944, S. 188: »dialogue… vif, fort crû parfois«.
E. R. Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, 21954, S.491f.
Zur ‘literarischen Technik’ in ähnlichem Sinn: Walter Stach, Die Gongolf-legende bei Hrotsvit, Hist.Vjs. 30 (1935), S. 168.
Karl Streckers Ausgabe und H. Menhardt, Eine unbekannte Hrotsvitha-handschrift, ZfdA 62 (1925), S. 233–236.
s. besonders Ehrismann a.a.O.
Wilhelm Creizenach, Geschichte des neueren Dramas, 21911, I, 17.
Zur ‘Unfähigkeitsformel’ s. zuletzt E. R. Curtius a.a.O. S. 410–415.
Dazu weiter: Fritz Preissl, Hrotswith von Gandersheim und die Entstehung des mittelalterlichen Heldenbilds, Diss. Erlangen 1939, S. 1ff.
Über die Ursprünge ‘hagiographischer Komik’: E. R. Curtius a.a.O. S. 425 bis 428. Unter den Beispielen bei H. Günter, Psychologie der Legende, 1949, S. 25–27 (zum Dulcitiusstoff ebd. S. 138f.) sind Dulcitius und Gangolf Hauptstücke!
K. Strecker, Progr. Dortmund 1902; Neue Jbb. f, d. klass. Altert. 11 (1903), S. 575f.; AfdA 29 (1904), S. 34–53.
W. Stach, Die Gongolflegende bei Hrotsvit, Hist. Vjs. 30 (1935), S. 168–174 und 361–397.
s. Stach a.a.O. S. 366f., 380.
R. Köpke, Ottonische Studien, 1869, II, 76ff.
Worauf schon P. v. Winterfeld a.a.O. S. VIII hinweist.
H. Günter a.a.O. S. 122f.
113,1 ff.: Plures inveniuntur catholici, cuius non penitus expurgare nequimus facti, qui pro cultioris facundia sermonis gentilium vanitatem librorum utilitati praeferunt sacrarum sripturarum. Sunt etiam alii, sacris inhaerentes paginis, qui licet alia gentilium spernant, Terentii tarnen fingmenta frequentius lectitant et, dum dulcedine sermonis delectantur, ne-fandarum notitia rerum maculantur, Unde ego, Clamor validus Gandeshemensis, non recusavi illum imitari dictando, dum alii colunt legendo, quo eodem dictationis genere, quo turpia lascivarum incesta feminarum recitabantur, laudabilis sacrarum castimonia virginum iuxta mei facultatem ingenioli celebraretur.
Die alte Frage, ob Hrotsvith ihre Stücke zur Aufführung geschrieben habe, wird auch von E. H. Zeydel (Speculum 20 [1945], S. 443–456) nicht wesentlich gefördert. Dramatische Rede und sogar dramaturgische Vorstellungen schließen keine dramatische Praxis ein, sondern begegnen im Mittelalter z. B auch als ausdrücklich epische Stilmittel.
Paul v. Winterfeld hat a.a.O. aus den verschiedenen Vorreden und Widmungen eine Folge von Teilausgaben vor der erhaltenen Gesamtausgabe erschlossen, worauf hier nicht näher eingegangen wird. Die hier folgenden Erwägungen müssen aber seine Aufstellungen modifizieren.
Auf die symbolische Bedeutung der Komposition und vor allem der Kreisform in der Ottonischen Kunst—man vgl. etwa nur die berühmten Evangelistenbilder im Evangeliar Ottos III.—sei hier nur hingewiesen. Zur ‘programmatischen’ Dekoration besonders der etwas späteren Regensburger Buchmalerei: Hans Jantzen, Ottonische Kunst, 1947, S. 119f.; Werner Weisbach, Ausdrucksgestaltung in mittelalterlicher Kunst, 1946, S. 55 ff.
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Kuhn, H. (1959). Hrotsviths von Gandersheim dichterisches Programm. In: Dichtung und Welt im Mittelalter. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-99164-5_7
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