Zusammenfassung
In einer Jugendsendung des ZDF im Dezember 1987, die die Einstellung Jugendlicher zum Staat erörterte, sagte eine junge Frau, die vor einigen Jahren aus der DDR gekommen ist, sinngemäß: die DDR habe sich vom Nationalsozialismus vollkommen abgekehrt, die Bundesrepublik Deutschland dagegen nur halbherzig. Diese aus meiner Sicht abwegige Aussage, der übrigens in der Sendung niemand widersprach, zeigt schlaglichtartig das Ineinander von Vergangenheitsdeutung und Gegenwartsbewußtsein. Dasselbe tut in seiner Weise der Historikerstreit; denn im Kern ist er kein historischer, sondern ein ausgesprochen politischer Streit. Der ihn auslösende Vorwurf von Jürgen Habermas lautete, eine Umdeutung und Verharmlosung der nationalsozialistischen Vergangenheit durch eine Gruppe von konservativen Historikern diene der auf heutige Politik bezogenen Produktion von Ideologie [1].
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Anmerkungen
Vgl. den zuerst in der »Zeit« vom 11. Juli 1986 erschienenen Aufsatz: Eine Art Schadensabwicklung; in: Historikerstreit. Dokumentation in der Serie Piper, München 1987, S. 62 ff., hier besonders S. 72 ff.
Über Abgrenzungen und Zuordnungen von Geschichte, Zeitgeschichte und Politikunterricht vgl. meinen Beitrag: Politische Bildung als Allgemeinbildung im geschichtlichen Kontext; in: Siegfried Schiele/Herbert Schneider (Hrsg.): Konsens und Dissens in der politischen Bildung, Stuttgart 1987, S. 178 ff.
ebda. S. 190
Sebastian Haffner: Anmerkungen zu Hitler, München 1978, S. 43–45.
Martin Broszat: Plädoyer für eine Historisierung des Nationalsozialismus; in: Hermann Graml und Klaus-Dietmar Henke (Hrsg.): Nach Hitler. Der schwierige Umgang mit unserer Geschichte. Beiträge von Martin Broszat, München 1986, S. 159 ff., hier S. 170.
ebda. S. 170
Die Beispiele und Hinweise in dem eben genannten Aufsatz.
Die entsprechenden Belege und bibliographischen Angaben bei Klaus Hildebrand: Das Dritte Reich, 3., überarbeitete und erweiterte Auflage, München 1987, wo der Teil II einen umfangreichen Forschungsbericht bietet; dort S. 202 f.
Vgl. die Beiträge von Ernst Nolte im Dokumentationsband »Historikerstreit« (Anm. 1), besonders S. 223 ff., ferner Ernst Nolte: Der europäische Bürgerkrieg 1917–1945, Berlin 1987.
Hilfreich dazu u. a. der in Anm. 8 genannte Forschungsbericht von Klaus Hildebrand, wo die wesentlichen Ansätze etwa der Faschismus- und der Totalitarismus-Theorie, der biographischen und der strukturgeschichtlichen Geschichtsschreibung ebenso dargestellt und bibliographisch belegt sind wie die Kontroversen über den Charakter der NS-Politik (ideologisch programmiert oder situationsbezogen opportunistisch) und über die Einordnung des Nationalsozialismus in die deutsche Geschichte (Kontinuität und »Deutscher Sonderweg« oder Bruch und »Betriebsunfall«).
Einem Hinweis von Eckhard Jesse entnehme ich, daß das Wort von der Gnade der späten Geburt nicht von Helmut Kohl bzw. seinen Ghost-Writern, sondern von Günter Gaus stammt; E. Jesse: Ist der »Historikerstreit« ein »historischer Streit«?; in: Zeitschrift für Politik, Heft 2/1988 S. 163 ff., hier S. 192.
Hans Buchheim: Totalitäre Herrschaft. Wesen und Merkmale, München 1962.
Nur beispielhaft sei auf zwei prominente Fälle hingewiesen: Ernst von Weizsäcker, Staatssekretär im Auswärtigen Amt, und die Generäle von Stülpnagel, Militärbefehlshaber in Paris. Vgl. dazu Marion Thielenhaus: Zwischen Anpassung und Widerstand. Deutsche Diplomaten 1938–1941, 2. Auflage, Paderborn 1985; Walter Bargatzky: Hotel Majestic. Ein Deutscher im besetzten Frankreich, Herderbücherei, Freiburg 1987.
Nicht zur »Entlarvung«, sondern zum Nachdenken für solche, die in unseren Ausführungen die Tendenz der Verharmlosung und Entschuldigung wittern, folgendes Zitat: »Aus den jüngsten Chorublikationen des Verlags Merseburger, meist Festchöre zu deutschen Anlässen, hebt sich weit heraus der Zyklus von Herbert Müntzel. Nicht bloß weil er durch die Wahl der Gedichte (Baldur von) Schirachs als bewußt nationalsozialistisch markiert ist, sondern auch durch seine Qualität: ein ungewöhnlicher Gestaltungswille. Es geht nicht um patriotische Stimmung und vage Begeisterung, sondern die Frage nach neuer Volksmusik selber wird, durch die Komposition, ernst gestellt … Gegenüber der herkömmlichen, unerträglichen und untragbaren Männerchorweise wird eine Korrektur versucht durch Rückgriff auf das ältere mehrstimmige deutsche Volkslied … Es wird dem Bild einer neuen Romantik nachgefragt; vielleicht von der Art, die Goebbels als »romantischen Realismus« bestimmt hat.« Das Zitat steht in der Zeitschrift »Die Musik« vom Juli 1934, es stammt von keinem anderen als von Theodor Wiesengrund, später Theodor W. Adorno. Hier zitiert nach Werner Ross: Sieger-Tribunale. Bemerkungen über ein laufendes Verfahren, in: Die politische Meinung, Nr. 1/1988, S. 33–35, wo der Autor den »Fall Höfer« kommentiert.
Vgl. etwa Dan Diner: Zwischen Aporie und Apologie. Über Grenzen der Historisierbarkeit des Nationalsozialismus; in: Dan Diner (Hrsg.): Ist der Nationalsozialismus Geschichte? Zu Historisierung und Historikerstreit, Fischer-Taschenbuch, Frankfurt 1987.
Vgl. Ernst Fraenkel: Der Doppelstaat. Recht und Justiz im »Dritten Reich«. (Amerikanische Ausgabe 1940). Fischer-TB, Frankfurt 1984. Fraenkel bezeichnet dort als Doppelstaat des Neben- und Gegeneinanders der am herkömmlichen und geltenden Gesetz orientierten staatlichen Institutionen und der Partei- und SS-Organe. Er stellt sie als Normenstaat und als Maßnahmestaat einander gegenüber.
Vgl. die zusammenfassende Darstellung des langjährigen Leiters der Ludwigsburger Zentralstelle, Adalbert Rückerl: NS-Verbrechen vor Gericht. Versuch einer Vergangenheitsbewältigung, Heidelberg 1982; ferner Jürgen Weber/Peter Steinbach (Hrsg.): Vergangenheitsbewältigung durch Strafverfahren? NS-Prozesse in der Bundesrepublik Deutschland, München 1984.
Gegen diese pauschale Aussage eines Referenten auf der Stuttgarter Tagung vgl. man die Darstellung bei Rückerl S. 136 f. und die von ihm ebenfalls dargestellte Vorgeschichte und Gründung der Ludwigsburger Zentralstelle, zu der es ohne vorangegangene Prozesse gar nicht gekommen wäre. Freilich wurde sie Gegründet aus der Erkenntnis bisheriger Versäumnisse.
Die hier skizzierten Schwierigkeiten begegnen uns auch in dem Streit um die Errichtung eines Mahnmals in Bonn, daß »Den Opfern von Krieg und Gewaltherrschaft« gewidmet sein soll. Die Einheit politischer Gemeinwesen symbolisiert sich auf der ganzen Welt vielfältig auch in der Form gemeinsamer Erinnerung an die Toten, deren Tod in Bezug steht zu Geschichte und Politik des jeweiligen Staates. Die Frage, über die gestritten wird, lautet, ob uns Deutschen solche Erinnerung nach den Verbrechen des Nationalsozialismus noch möglich ist. Es besteht die Gefahr, durch pauschales Gedenken das Geschehene zu verharmlosen und die Unterscheidung von Opfern und Tätern zu verwischen. Die Verfechter des Mahnmals stehen vor einer Aufgabe, die der Quadratur des Kreises gleichkommt. Kann ein Denkmal eine deutliche Erinnerung an die Verbrechen sein und zugleich ein Mal der Versöhnung? Dies wäre nur in einem gemeinsamen christlichen Glauben möglich, der Verbrechen und Schuld nicht leugnet, aber im Vertrauen auf Gottes Barmherzigkeit den Willen zur Versöhnung zum Ausdruck bringt. Der weltliche Staat unserer pluralistischen Gesellschaft kann aber auf diese Gemeinsamkeit nicht bauen.
Vgl. Eugen Kogon: Das Recht auf den politischen Irrtum, in: Frankfurter Hefte, 2/1947, S. 641 ff. Vgl. ferner Hans Buchheim: Politische Kriterien der Schuld an der NS-Herrschaft und deren Verbrechen; in: Festschrift für Wilhelm Hennis, hrsg. von Hans Maier u. a., Stuttgart 1988, S. 513 ff.
In der Diskussion auf der Stuttgarter Tagung zu meinen Ausführungen wurde gefragt, ob die hier skizzierten Differenzierungen in der Schuldfrage für Schüler nicht zu kompliziert seien; ob nicht die didaktische Reduktion stärker vereinfachen müsse. Ich meine hingegen, daß in diesem schwierigen Bereich, in dem es darum geht, Menschen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, das Recht der didaktischen Reduktion an eindeutigen Grenzen stößt. Im übrigen dürfte der Nachvollzug unserer Unterscheidungen auch für den Schüler der Sekundarstufe I möglich sein, wenn man mit konkreten Beispielen arbeitet. Daß der Hitler-Wähler von 1933 und der, der damals rasch in die Partei eintrat, sich politisch geirrt hat und vielleicht Opportunist, aber deswegen noch lange kein Verbrecher gewesen ist, dürfte ebenso einsichtig zu machen sein wie die Tatsache, daß Viele moralisch schuldig wurden, indem sie etwa bei Verbrechen wegsahen und schwiegen, während andere durch aktive Beteiligung an Verbrechen sich auch im Sinne des Strafrechts schuldig gemacht haben.
Gegen die allzu schematische Schwarz-Weiß-Darstellung, die Dieter Schmidt-Sinns in Stuttgart bezüglich Vergangenheitsbewältigung gegeben hat, habe ich erhebliche Einwände. Zunächst ist daran zu erinnern, daß die 1945 in der Tat gegebene anti-faschistische Einheitsfront durch die Politik der Kommunisten in Deutschland aufgekündigt wurde, indem sie nämlich den Antifaschismus als Legitimationsbasis für den Aufbau einer »sozialistischen« Ordnung in der SBZ benutzten. Sodann sind zwar viele Widerstände und Versäumnisse in den 50er und 60er Jahren, die Aufarbeitung der Vergangenheit betreffend, nicht zu bestreiten. Aber man darf das Kind nicht mit dem Bade ausschütten. Das Institut für Zeitgeschichte in München ist 1950 gegründet worden. Die Darstellung und Dokumentation von Walther Hofer zum Nationalsozialismus in einem umfangreichen Fischer-Taschenbuch erreichte bis 1960 eine Auflage von über 300 000. Sie wurde in vielen Schulen ausgiebig benutzt. Die Auseinandersetzung über Möglichkeiten, Notwendigkeit und Grenzen der Beschäftigung mit der jüngsten Vergangenheit im Geschichtsunterricht in den 50er Jahren habe ich selbst miterlebt; natürlich gab es in der Generation der älteren Lehrer zähen Widerstand auch aus durchsichtigen Gründen, aber um 1960 hatte sich allgemein, auch mit Unterstützung der Kultusbehörden und durch entsprechende Erlasse, die Einsicht durchgesetzt, daß die Schule sich dieser Aufgabe nicht entziehen dürfe. Was die NS-Prozesse der 50er und 60er Jahre betrifft, so verweise ich auf die in Anmerkung 17 angegebene Literatur. Zu beachten wäre ferner die tiefgreifende Auseinandersetzung über die Verjährung oder Nicht-Verjährung von NS-Verbrechen in den 60er Jahren. Der Aufbau der Bundeswehr erzwang schon in den 50er Jahren die Einrichtung von sogenannten Gutachter-Ausschüssen zur Überprüfung der Vergangenheit wieder einzustellender Offiziere. Schließlich waren auch Literatur und Theater nicht so frei von der Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit, wie die pauschalen Vorwürfe von Verdrängung und Restauration suggerieren. Carl Zuckmayers Drama »Des Teufels General« ging schon Ende der 40er und Anfang der 50er Jahre über fast alle deutschen Bühnen. Ich erinnere mich an eine leidenschaftliche Diskussion, die wir als Primaner 1949 darüber mit unserer Deutschlehrerin hatten. Schließlich erschien auch bereits in den 50er Jahren eine stattliche Reihe von Veröffentlichungen über den deutschen Widerstand, und zum 10. Jahrestag des 20. Juli 1944 liefen in den deutschen Kinos gleich zwei Spielfilme zu dem Ereignis. Über ihre historische Zuverlässigkeit und künstlerische Qualität wurde gestritten, aber sie gaben jedenfalls Anlaß zur Beschäftigung mit den Vorgängen und zum Nachdenken.
Man vergleiche das Urteil eines verdienstvollen, durchaus nicht »konservativen« Lehrers und Didaktikers der Zeitgeschichte, Werner Klose: »Wenn unser »System« (eine Vokabel Hitlers für die parlamentarische Demokratie!) durch Demagogen in den ungeschichtlichen Haßbegriff des »Faschismus« hineingezerrt wird, ist für Teile der Jugend die geschichtliche Realität des Nationalsozialismus nicht mehr erfaßbar.« Zitiert bei Gordon A. Craig: Über die Deutschen, München 1982, S. 91.
Hier nur knappe Hinweise auf einige Beispiele: Karl Jaspers sah Ende der 60er Jahre in der Notstandsgesetzgebung die Vorbereitung einer Rückkehr zur Diktatur. Heinrich Böll meinte 1974 im Zusammenhang mit dem Streit um den »Radikalenerlaß« und um die Bekämpfung von Terroristen, jetzt würden nach den »Linken« die »Linksliberalen« und dann auch die »Konservativen« abgeschossen; und zwar nicht von den Gegnern, sondern von den Beschützern dieses Staates. Günter Grass rief in einer Rede im Reichstag in Berlin am 30. Januar 1983, also zum 50. Jahrestag der »Machtergreifung« Hitlers, alle oppostionellen Kräfte zum »Widerstand« auf, den man damals versäumt habe; jetzt sei es wieder soweit. Anlaß und Beweis waren für ihn die Volkszählung und die sogenannte Nachrüstung. Petra Kelly schließlich brachte es fertig, den Protest der Friedensbewegung gegen die Nachrüstung als Fortsetzung des Werkes der Geschwister Scholl zu rühmen.
Martin Broszat a. a. O. (vgl. Anm. 5) S. 172.
Vgl. Christian Meier: 40 Jahre nach Auschwitz. Deutsche Geschichtserinnerung heute, München 1987, S. 72 ff. und S 86 ff.
Christian Meier ebda. S. 85.
Jürgen Habermas in »Historikerstreit« S. 74.
Heinrich August Winkler ebda. S. 263.
Jürgen Habermas edba. S. 75.
Wenn ich recht sehe, hat Dolf Sternberger den Begriff Verfassungspatriotismus in die öffentliche Diskussion eingeführt in einen Leitartikel der F. A. Z. vom 23. Mai 1979, also zum 30. Jahrestag des Grundgesetzes. Ausführlicher zu dem hier angesprochenen Problem Alexander Schwan: Verfassungspatriotismus und nationale Frage, in: Akademie für politische Bildung (Hrsg.): Zum Staatsverständnis der Gegenwart, München 1987, S. 85 ff.
Vgl. Dieter Schmidt-Sinns: Didaktische Anmerkungen zum Historikerstreit, in: Materialien zur Politischen Bildung, Heft 4/1987, S. 40 ff.
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Sutor, B. (1989). Der NS-Totalitarismus als Herausforderung für politische Bildung. In: Oesterle, K., Schiele, S. (eds) Historikerstreit und politische Bildung. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-98967-3_5
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