Zusammenfassung
Aufbruchstimmung ist spürbar in den Sozial- und Geisteswissenschaften. Avantgarde ist Pflicht. Epochen und wissenschaftliche Trends, selbst Staatsformen,1 werden mit dem Poststempel versehen und mit dem ausgehenden Jahrhundert verabschiedet. Doch nicht allein die seit alters zu beobachtende Unruhe vor Jahrhundertwechseln läßt die Sozial- und Geisteswissenschaften die Suche nach ihren jeweiligen disziplinären Identitäten intensivieren. Spezialisierung und Ausdifferenzierung haben dazu geführt, daß die meisten Disziplinen im Verlauf der letzten Jahrzehnte an Kontur verloren haben. Es ist zudem die immer schwieriger zu erzielende Akzeptanz wissenschaftlicher Ergebnisse in der Öffentlichkeit, es sind die schmaler werdenden Etats der Kultus- und Wissenschaftsbehörden, es sind — kaum mag man es noch schreiben — die Wirkungen von Globalisierung und Medialisierung sowie die Innovationserfolge der Naturwissenschaften2 und der Informationswissenschaften, die den Druck auf die Geisteswissenschaften erhöhen und ihnen für ihre Existenz im Ensemble der Wissenschaften immer neue Legitimationsnöte auferlegen und Selbstbeschreibungen abverlangen. Dies ist um so ungewohnter, als sich die Geisteswissenschaften seit ihrer Etablierung an den von Wilhelm von Humboldt neukonzipierten Universitäten bar aller Nützlichkeitserwägungen haben entwickeln können, ja sollen. Lange Zeit haben sie einen nicht unbeträchtlichen Teil ihres Selbstbewußtseins gerade daraus bezogen, auf die Produktion von pragmatischem Wissen niemals verpflichtet worden zu sein — wogegen nicht erst seit heute Einspruch erhoben wird.3
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Literaturverzeichnis
Gleichwohl geht die Wissenschaftsphilosophie mit ihnen auch nicht zimperlich um, vgl. etwa Ian Hacking: Einführung in die Philosophie der Naturwissenschaften. (1983). Stuttgart 1996, S. 13, der seinen Aufsatzband nicht eben schmeichelhaft beginnt: »Schon seit langem haben die Philosophen aus der Wissenschaft eine Mumie gemacht. Als sie endlich den Leichnam auswickelten und die Überbleibsel eines historischen Vorgangs des Werdens und Entdeckens erblickten, führten sie zu eigenem Behufe eine Rationalitätskrise herbei. Das geschah um das Jahr 1960.«
Vgl. Hermann von Helmholtz: »Über das Verhältniss der Naturwissenschaften zur Gesammtheit der Wissenschaft. Akademische Festrede gehalten zu Heidelberg beim Antritt des Prorectorats. 1862«. In: H. v. H.: Vorträge und Reden I. Braunschweig 1896, S. 157–185.
Vgl. Walter Erhart: »Internationalisierung — Pluralisierung — Interpretation. Eine wissenschaftsgeschichtliche Fallstudie am Beispiel des Internationalen Referatenorgans Germanistik.« In: Lutz Danneberg/Friedrich Vollhardt (Hrsg.): Wie international ist die Literaturwissenschaft? Methoden- und Theoriediskussion in den Literaturwissenschaften: kulturelle Besonderheiten und interkultureller Austausch am Beispiel des Interpretationsproblems (1950–1990). Stuttgart/Weimar 1996, S. 305–328.
Aus Erharts Studie wird vor allem das Moment der Verspätung deutlich, denn »der poststrukturalistische Angriff auf die Grundlagen der Bewußtseinsphilosophie und der dekonstruktivistische Widerstand gegen Interpretation gelangen offensichtlich erst dann ins germanistische Bewußtsein, wenn sie international bereits wieder verabschiedet werden« (S. 324). — Aus der Fülle der Bände, die die unterschiedlichsten Beiträge geisteswissenschaftlicher Identitätssuche versammeln, sei angeführt der Band von Hartmut Böhme/Klaus R. Scherpe (Hrsg.): Literatur und Kulturwissenschaften. Positionen, Theorien, Modelle. Reinbek 1996.
Vgl. dazu Lutz Danneberg/Jörg Schönert: »Zur Transnationalität und Internationalisierung von Wissenschaft.« In: Danneberg/Vollhardt (Anm. 4), S. 7–85. Dannebergs/Schönerts diachrone und synchrone Untersuchung zeigt auf, daß es zwar regen internationalen wissenschaftlichen Austausch gibt, daß er aber auf einer schiefen Ebene stattfindet, daß die germanistische Literaturwissenschaft »zu einem immer größeren Innovationsschuldner in internationaler wie interdisziplinärer Hinsicht wird«, daß sie mithin eine »negative Handelsbilanz« aufweise (S. 57). Vgl. auch Hartmut Böhme: »Die umstrittene Position der Germanistik im System der Wissenschaften«. In: Ludwig Jäger (Hrsg.): Germanistik. Vorträge des deutschen Germanistentages 1994. Disziplinäre Identität und kulturelle Leistung. Weinheim 1995, S. 46–53. Eine der Ursachen für die zumeist negativen Befunde der betriebsamen disziplinären Identitätssuche mag die beinahe hermetische Selbstreferentialität vieler an dieser Suche Beteiligter sein. Vor allem aber sollte die unerträgliche Krisendebatte, die kaum zu Ergebnissen, sondern nur zu erhöhtem Papierausstoß führt, aufgegeben werden zugunsten einer Diskussion, bei der der Wille zur Selbstreflexion nicht immer nur beteuert wird.
Ein Zitat, das Wolfgang Maaz in einem Beitrag von Caroline Bynum in der Zeitschrift Historische Anthropologie 4 (1996), S. 30f., aufgespießt hat, vgl. Wolfgang Maaz: »›Der Verzweiflung oder dem Solipsismus nachgeben?‹ Zum Beispiel Wissenschaftsgeschichte«. In: Mittellateinisches Jahrbuch 32 (1997), S. 113–119. So Gerhard Neumann in der Einleitung zu dem von ihm herausgegebenen Symposiumsband — G. N. (Hrsg.): Poststrukturalismus. Herausforderung an die Literaturwissenschaft. Stuttgart/Weimar 1997, S. 3f.
Das heißt genauer deren kognitive Identität, also die Kohärenz von theoretischer und methodologischer Ausrichtung, von gemeinsamen Paradigmen und wissenschaftlichen Instrumentarien und Terminologien innerhalb eines Problemfeldes, die es erlauben, die Grenzen zu den Nachbardisziplinen zu bestimmen — zumindest legen dies die innerdisziplinären wissenschaftsgeschichtlichen Studien nahe, die sich neben dem Nachweis der kognitiven besonders um einen solchen der historischen Identität der Disziplin bemühen. Der historische Aspekt ist enthalten im Titel des 1987 von Jürgen Fohrmann und Wilhelm Voßkamp herausgegebenen Sonderheftes der DVjs mit dem Titel: Von der gelehrten zur disziplinären Gemeinschaft. — Vgl. vor allem den in seiner Konzeption gegenüber dem Vor-Projekt etwas veränderten Band von Jürgen Fohrmann/Wilhelm Voßkamp (Hrsg.): Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert. Stuttgart/Weimar 1994, darin besonders die Einleitung von Jürgen Fohrmann (S. 1–14), in der er die konzeptuellen Vorgaben des Projekts schildert, das gemäß einer »kategorialen Vierteilung in Sozialsystem, Entwicklung der literaturwissenschaftlichen Arbeitsweisen, Selbstreflexion und Leistungsbezug« (S. 14) entwickelt und durchgeführt wurde;
vgl. auch Klaus Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. München 1989.
Vgl. Neumann (Anm. 7). — Vgl. ferner Lutz Danneberg/Friedrich Vollhardt (Hrsg.): Vom Umgang mit Literatur und Literaturgeschichte. Positionen und Perspektiven nach der ›Theoriedebatte‹. Stuttgart 1992.
Zu denken ist z.B. an das Utopie-Projekt in Bielefeld, an die renommierte Forschungsgruppe »Poetik und Hermeneutik«, deren 17. und letzten Band Gerhart von Graevenitz und Odo Marquard in Zusammenarbeit mit Matthias Christen jüngst herausgegeben haben: Köntingenz. München 1998. Es ist weiterhin zu denken an Graduiertenkollegs, wie sie u. a. in Marburg, Konstanz oder neuerdings in Erlangen eingerichtet worden sind. Nicht zu vergessen ist auch das Wissenschaftskolleg in Berlin, wo die transdisziplinäre Debatte von Forscherinnen und Forschern aus unterschiedlichsten Wissenschaftskulturen eine, wie es Wolf Lepenies immer wieder betont, produktive Verunsicherung auslösen soll. (Immer funktioniert dies aber offenbar nicht, oder je nach Perspektive gerade doch, wie man einer Anekdote von Peter Jelavich entnehmen kann: Nach langem Flug in der Berliner Wallotstraße eingetroffen, zwang ihn die Kolleg-Disziplin an den gemeinsamen Frühstückstisch: »Außer mir war dort nur eine weitere Person, nämlich eine Slawistin aus der Bundesrepublik. Nach den üblichen Vorstellungsritualen — Name, Universität — stellte sie mir als dritte Frage: »Was ist Ihre Methodologie?« Meine ersten Gedanken waren: 1) Ich bin wieder in Deutschland! und 2) Wann geht der nächste Flug zurück nach Amerika?« — Peter Jelavich: »Methode? Welche Methode? Bekenntnisse eines gescheiterten Strukturalisten«. In: Christoph Conrad/Martina Kessel (Hrsg.): Kultur & Geschichte. Neue Einblicke in eine alte Beziehung. Stuttgart 1998. S. 141–159, hier S. 142. — Vgl. auch Wilhelm Voßkamp: »Jenseits der Nationalphilologie. Interdisziplinarität in der Literaturwissenschaft.« In: Danneberg/Vollhardt (Anm. 4), S. 87–98.
Jürgen Mittelstraß: »Wohin geht die Wissenschaft? Über Disziplinarität, Transdisziplinarität und das Wissen in einer Leibniz-Welt«. In: Konstanzer Blätter für Hochschulfragen 26 (1989), S. 97–115, hier S. 102.
Rudolf Stichweh: »Differenzierung der Wissenschaft.« In: R. St.: Wissenschaft, Universität, Professionen. Soziologische Analysen. Frankfurt a.M. 1994, S. 15–51, hier S. 19.
Vgl. zur Funktion und den Möglichkeiten einer Wissenschaftswissenschaft und zur Bedeutung von ›Beobachtung‹ Niklas Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft. Frankfurt a.M. 1990, insbes. S. 68–121.
Die Wissenschaftstheorie ist mehr mit der Lösung erkenntnistheoretischer Probleme wissenschaftlichen Wissens beschäftigt, und die Wissenschaftsgeschichte setzt sich die historische Entwicklung der verschiedenen Wissenschaften unter kultur- und medienwissenschaftlicher Perspektive zum Ziel. Die Wissenschaftsforschung untersucht mittels eines großen methodologischen Spektrums vor allem die »Wechselwirkungen von Wissenschaft, Technologie und Gesellschaft«, die »gesellschaftlichen und kulturellen Bedingtheiten«, die »Spezifika wissenschaftlicher Forschung« sowie die »soziale[n] Konstruktion wissenschaftlicher Erkenntnisse«. Die Geistes- und Sozialwissenschaften hat sie erst seit kurzem zum Forschungsfeld erklärt, d. h. von hier sind noch kaum verläßliche Ergebnisse in Hinblick auf die oben erörterten Fragen zu erwarten, vgl. Ulrike Felt u. a. (Hrsg.): Wissenschaftsforschung. Eine Einführung. Frankfurt a. M./New York 1995, hier S. 20f.
Clifford Geertz: »Blurred genres. The refiguration of social thought«. In: The American Scholar 49 (1980), S. 165–179, vgl. insbes. S. 168ff.
Mattie Dogan/Robert Pahre: Creative marginality: Innovation at the intersections of social sciences. Boulder, Colorado 1990, S. 87.
Vgl. Julie Thompson Klein: »Blurring, cracking, and crossing: permeation and the fracturing of discipline«. In: Ellen Messer-Davidow u. a. (Hrsg.): Knowledges. Historical and critical studies in disciplinarity. Charlottesville/London 1993. S. 185–211, hier S. 206.
David R. Shumway/Ellen Messer-Davidow: »Disciplinarity: An introduction.« In: Poetics today 12 (1991), S. 201–225, hier S. 212.
Scott Denham u. a. (Hrsg.): A User’s Guide to German Cultural Studies. Ann Arbor 1997.
Hubert Markl: »Zur disziplinären Struktur der Wissenschaftsförderung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft«. In: Konstanzer Blätter für Hochschulfragen 26 (1989). S. 66–76, hier S. 67.
Donald Preziosi: Rethinking art history. Meditations on a coy science. New Haven/London 1989. S. VI. Preziosi bezieht neben den wissenschaftsgeschichtlichen und -theoretischen soziale und kulturpolitische Überlegungen in seine Studie mit ein.
Thomas Rathmann: Geschehen und Geschichten des Konstanzer Konzils. Chroniken, Briefe, Lieder und Sprüche als Konstituenten eines Ereignisses. München 2000.
Vgl. Thomas F. Gieryn: »Boundary-work and the demarcation of science from nonscience: Strains and interests in professional ideologies of scientists.« In: American Sociological Review 48 (1983), S. 781–795.
In der Geschichtswissenschaft des 19. Jahrhunderts geriet die Erforschung des Konzils in die Auseinandersetzungen des Kulturkampfes. Nach der Reichsgründung wollten die vielfach unterrepräsentierten katholischen Historiker das — protestantische — düstere Bild der vorreformatorischen Zeit nicht länger gelten lassen, vgl. Lutz Raphael: »Historikerkontroversen im Spannungsfeld zwischen Berufshabitus, Fächerkonkurrenz und sozialen Deutungsmustern«. In: Historische Zeitschrift 251 (1990), S. 325–363. — Im heutigen Tschechien und in Polen wurden die Geschehnisse um Jan Hus und Johannes Falkenberg zumeist im Kontext von Fragen der nationalen Identität erforscht. In der deutschen Historiographie dieses Jahrhunderts, um zwei Ansätze nur herauszuheben, haben sich Hartmut Boockmann der politischen Bedeutung des Konzils und Jürgen Miethke und Johannes Helmrath der kommunikativen Aspekte des Konzils angenommen, vgl. insgesamt zur Forschungsgeschichte Ansgar Frenken: »Die Erforschung des Konstanzer Konzils (1414–1418) in den letzten 100 Jahren«. In: Annuarium historiae conciliorum 25 (1993) H. 1/2: Sonderheft.
Die dürfen wir jedoch neuerdings so nicht mehr nennen, vgl. dazu Karina Kellermann: Abschied vom »Historischen Volkslied«. Studien zu Funktion, Ästhetik und Publizität der Gattung Historisch-Politische-Ereignisdichtung. Tübingen 2000.
Otto Basler: »Das Konzil zu Konstanz im Spiegel deutscher Ereignislieder«. In: August Franzen/Wolfgang Müller (Hrsg.): Das Konzil von Konstanz. Beiträge zu seiner Geschichte und Theologie. Freiburg i.B. u.a. 1964, S. 429–446.; Konstanzer Arbeitskreis für mittelalterliche Geschichte (Hrsg.): Die Welt zur Zeit des Konstanzer Konzils. Reichenau-Vorträge im Herbst 1964. Konstanz/Stuttgart 1965; Ulrich Richental: Das Konzil zu Konstanz. Kommentar und Text. Bearbeitet von Otto Feger. Starnberg/Konstanz 1964;
Mathias Feldges: »Lyrik und Politik am Konstanzer Konzil. Eine neue Interpretation von Oswald von Wolkensteins Hussitenlied«. [!] In: Gert Kaiser (Hrsg.): Literatur — Publikum — historischer Kontext. Bern u.a. 1977, S. 137–181;
Hubert Herkommer: »Leiden und Sterben des Jan Hus als Ereignis und Erzählung«. In: Ludger Grenzmann/Karl Stackmann (Hrsg.): Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit. Symposion Wolfenbüttel 1981. Stuttgart 1984, S. 114–151.
Läßt man den ersten Punkt einmal beiseite, weil er gleichsam jenseits des Zaunes liegt und in erster Instanz gar nicht in die Zuständigkeit der Literarhistoriker fällt, für den zweiten verbleiben doch Konsequenzen. So ist einer der zur Zeit am intensivsten erforschten Gegenstände in der Mediävistik einmal mehr der Hof und seine spezifischen Bedingungen poetischer Interaktion und Kommunikation. Leider ist es aber nach wie vor sehr schwierig, des historischen Ortes von höfischer Epik und Lyrik habhaft zu werden, ja, mittlerweile wird sogar in Zweifel gezogen, ob wir uns wegen des Mangels an Belegen nicht auch von der Vorstellung des höfischen Festes, das als Anlaß für literarische Inszenierungen und Begegnungsstätte für Autoren und Publikum gedient hat, verabschieden sollten — vgl. Thomas Cramer: Waz hilfet âne sinne kunst? Lyrik im 13. Jahrhundert. Studien zu ihrer Ästhetik. Berlin 1998, S. 12f. — Selbst diejenigen, die so weit nicht gehen wollen, werden zugeben, daß die besondere, zeitlich und räumlich begrenzte Vergesellschaftungsform des Hofes, die sich so wenig auskunftsfreudig zeigt, eine Fülle von Problemen für die Analyse seiner interaktiven und kommunikativen Strukturen aufweist, die auf die Interpretation der Texte durchschlagen. Hier bietet sich das Konzil, mit seiner völlig anderen Zielsetzung und Funktion, aber mit vergleichbaren konstitutionellen und kommunikativen Strukturen als zu analysierender Ersatzschauplatz an.
Vgl. dazu die Diskussion verschiedener Konzeptionen von Kirchengeschichte (etwa als theologische Disziplin oder als Geschichte der Schriftauslegung) bei Wolfhart Pannenberg: Wissenschaftstheorie und Theologie. Frankfurt a.M. 1973, insbes. S. 393–406. Pannenberg macht vor allem auf die Problematik des doppelten Bemühens »um methodische Strenge auf der einen und um den theologischen Charakter der Kirchengeschichte auf der anderen Seite« (S. 400) aufmerksam. — Anders (nämlich aus der Perspektive des — katholischen — Kirchen- bzw. Konzilshistorikers) Walter Brandmüller: »Geschichtliche Kirche — kirchliche Geschichte«. In: Theologie und Glaube 75 (1985), S. 402–420. Aufgabe der Kirchengeschichtswissenschaft sei es, so Brandmüller, die »Paradosis als Lebensvollzug der Kirche« (S. 407) zu erforschen. Die Tradition der Kirche sei »ein eminenter locus theologicus« (S. 409); die hermeneutischen Probleme, die sich bei der Auslegung von z. B. konziliaren Texten ergeben, seien folglich auch nur mit den eigenen Methoden der Kirchengeschichtswissenschaft zu bearbeiten.
So Gerhard Ebeling: Kirchengeschichte als Geschichte der Auslegung der heiligen Schrift. o.O. 1947.
Schon Friedrich Schlegel hat in seinen philosophisch-philologischen Fragmenten über das schwierige Verhältnis von Philologie und Theologie nachgedacht. In den späten 1790er Jahren heißt es, noch mehr aus philologischer Perspektive, daß ein Exeget auch Philologe sein müsse: »Die Exegese ist durchaus irreligiösen Charakters« — vgl. Friedrich Schlegel: Philosophische Lehrjahre (1796–1806) nebst Philosophischen Manuskripten aus den Jahren 1796–1828. Erster Teil. Hrsg. von Ernst Behler. (Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe Bd. 18). München u.a. 1963, S. 260.
Später aber, zu Beginn seiner katholisierenden Phase, schreibt Schlegel der Philologie ins disziplinäre Stammbuch, sie solle sich nicht an religiösen Texten versuchen, und konstatiert somit die prinzipielle epistemologische Unvereinbarkeit von Theologie und Philologie: »Die religiöse(heilige) Schrift muß auch religiös gelesen werden. […] Die kritisch-philologische Exegesis ist ganz zu verwerfen« — zitiert nach Hermann Patsch: »Friedrich Schlegels Philosophie der Philologie und Schleiermachers frühe Entwürfe zur Hermeneutik. Zur Frühgeschichte der romantischen Hermeneutik«. In: Zs.f. Theologie und Kirche 63 (1966), S. 434–473, hier S. 449.
Brandmüller hat auf die Bedeutung der Konzilien für die Kirchengeschichtswissenschaft hingewiesen, seien doch »die bedeutendsten Formulierungen der kirchlichen Lehre« Werke von Konzilien; demzufolge spielen gerade konziliare Texte eine besondere Rolle bei der Bestimmung des spezifischen Wesens der geschichtlichen Kirche, vgl. Walter Brandmüller: »Die Aktualität der Konziliengeschichtsforschung oder Historia ancilla theologiae«. In: Theologie und Glauben 65 (1975), S. 203–220, hier S. 214. — Das gewichtigste Problem stellen die berüchtigten konziliaristischen Dekrete ›Haec sancta‹ und ›Frequens‹ dar, in deren Auslegungsgeschichte es um deren dogmatische Gültigkeit und damit um den Superioritätsstreit zwischen Papst und Konzil geht. Es lassen sich in Beantwortung dieser Fragen deutliche Unterschiede feststellen zwischen der Zeit des II. Vaticanums und den Jahren nach der Amtsübernahme Johannes Pauls II., in denen dem Konziliarismus weniger Aufgeschlossenheit entgegengebracht wird als während des Episkopats Johannes’ XXIII. — Selbstverständlich habe ich mich hier ausschließlich mit der Kirchengeschichtswissenschaft und in diesem speziellen Fall mit der Konziliengeschichtsschreibung am Beispiel des Konstanzer Konzils auseinandergesetzt. Daß ich damit lediglich einen kleinen Ausschnitt aus dem weiten Feld der theologisch-historischen Fächer streifen kann, ist mir bewußt. In das interdisziplinäre Gespräch eintreten ließe sich aber bestimmt mit Arnold Angenendt (darauf wies mich Wolfgang Rohe während der Tagung hin), vgl. A. A.: Geschichte der Religiosität im Mittelalter. Darmstadt 1997. Angenendt hat z.B. jüngst in einem Düsseldorfer Akademievortrag über »Historik und Liturgik« eine Brücke von der Methodologie der Historie zur Lehre vom Gottesdienst geschlagen, vgl. die Besprechung von Patrick Bahners: »Himmelsbrot«. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21.10.1998, S. N5.
Vgl. die Diskussion dieses Begriffs bei Peter Strohschneider: »Situationen des Textes. Okkasionelle Bemerkungen zur ›New Philology‹«. In: Helmut Tervooren/Horst Wenzel (Hrsg.): Philologie als Textwissenschaft. Alte und Neue Horizonte. ZfdPh 116: Sonderheft (1997), S. 62–86, hier S. 75–78. Strohschneider versucht, den Ort und Rahmen poetischer Kommunikation im Mittelalter, für den im allgemeinen der ›Hof‹ herhalten muß, aus kommunikationstheoretischer Perspektive genauer zu erforschen.
Gabrielle M. Spiegel: »History, historicism and the social logic of the text in the middle ages«. In: Speculum 65 (1990), S. 59–86, hier S. 60. — Selten erfolgt die Reaktion auf einen Beitrag so schnell und heftig wie in diesem Fall. Bereits ein Jahr nach dem Erscheinen von Spiegels Aufsatz in dem mittlerweile berühmt gewordenen 65. Heft des Speculum ließ sich Lawrence Stone vernehmen — vgl. L. St.:«History and Post-Modernism«. In: Past and Present 131 (1991), S. 217–218.
Karl Stackmann: »Neue Philologie?« In: Joachim Heinzle (Hrsg.): Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche. Frankfurt a. M./Leipzig 1994, S. 398–427.
— Zu der unnötigen, ja vielfach unberechtigten Polemik der wilden Philologen hat mit überzeugenden Argumenten Stellung bezogen Peter F. Dembowski: »Is there a new textual philology in Old French? Perennial problems, provisional solutions«. In: William D. Paden (Hrsg.): The future of the middle ages. Medieval literature in the 1990s. Gainesville, Florida. 1994, S. 87–112.
Herausgefordert sah sich wohl auch Joachim Bumke, der im ersten Teil seines neuesten Buches die ganze Diskussion zusammengefaßt hat und einen, beinahe möchte man sagen, philologischen Schlußstein gesetzt hat, vgl. Joachim Bumke: Die vier Fassungen der ›Nibelungenklage‹. Untersuchungen zur Überlieferungsgeschichte und Textkritik der höfischen Epik im 13. Jahrhundert. Berlin/New York 1996.
Die Auseinandersetzung hätte auch mit anderen Autoren geführt werden können; ich habe mich für den Spiegeischen Beitrag entschieden, weil darin pointiert und polemisch um eine Sache, die eigene Sache nämlich, gerungen wird — und zwar mit fairen Mitteln: denn sie hat sich die Arbeit mit den aus ihrer Sicht rivalisierenden Methodologien nicht leicht gemacht. Aus Nikolaus Wegmanns Aufsatz in diesem Band, lernt man, mit welchen Mitteln dieser mühsame Weg nur allzu oft umgangen wird. Klar aber ist auch, daß Spiegel den Weg der Gegner für überflüssig, für einen Irrweg hält, weil er an der Sache, um die es geht, vorbei führt und den Blick dafür versperrt, wie es eigentlich gewesen ist. — Die Diskussion der Historiker hierzulande hat jüngst zusammengefaßt Ute Daniel: »Clio unter Kulturschock. Zu den aktuellen Debatten der Geschichtswissenschaft«. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 48 (1997), S. 195–219 und S. 259–278.
— Position bezogen hat ebenfalls Lothar Gall: »Das Argument der Geschichte. Überlegungen zum gegenwärtigen Stand der Geschichtswissenschaft«. In: Historische Zeitschrift 264 (1997), S. 1–20.
Zu denken ist an Carl Gustav Hempel: »The function of general laws in history«. In: The Journal of Philosophy 39 (1942), S. 35–48. — Vgl. auch die Darstellung der Theorie Hempels bei Wolfgang Stegmüller: Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie. Bd. 1.: Wissenschaftliche Erklärung und Begründung. Berlin u.a. 1969, S. 335–352.
In ihrer Argumentation werden wissenschaftsgeschichtliche Aspekte völlig ausgeblendet. Es wird so getan, als sei das, was sie die »Eigentümlichkeit des Historischen« nennt, und die Methode seiner habhaft zu werden, innerhalb der eigenen Disziplin völlig unumstritten, wovon allerdings seit Anbeginn der Historie als akademischer Disziplin nicht die Rede sein kann. Sie steht nicht allein. In jüngerer Zeit gibt es, vor allem in den USA, eine ganze Reihe von Historikerinnen und Historikern, die angesichts des linguistic turn‹ ähnliche Befürchtungen hegen. Genannt seien aus der Fülle lediglich: Gertrude Himmelfarb: The new history and the old. Cambridge, Massachusetts 1987.
Robert F. Berkhofer, Jr.: Beyond the great story. History as text and discourse. Cambridge, Massachusetts/London 1995.
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Rathmann, T. (2000). Noch einmal: Zum Verhältnis von Disziplinarität und Interdisziplinarität: Das Konstanzer Konzil zwischen den Disziplinen. Neue Orte und neue Konturen eines alten Gegenstandes. In: Schönert, J. (eds) Literaturwissenschaft und Wissenschaftsforschung. Germanistische Symposien Berichtsbände. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-05573-6_20
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