Zusammenfassung
Die Frage, wie in den Wissenschaften neues, das heißt dem bisherigen Erkenntnisstand unbekanntes und möglicherweise inkommensurables Wissen entsteht, gehört zu den klassischen Fragen der Wissenschaftsforschung und -Soziologie. Dabei ist klar, daß die Herausbildung des Neuen unter rein ideen- und mentalitätsgeschichtlichen Gesichtspunkten nicht zureichend beschrieben werden kann; die alte Vorstellung von Wissensgeschichte als einer kumulativen Serie von ingeniösen Einfällen und großen Entdeckungen darf wohl spätestens seit den Arbeiten Thomas S. Kuhns als überholt beziehungsweise revisionsbedürftig gelten. Grundlegend in diesem Zusammenhang ist vor allem die Einsicht, daß wissenschaftliche Ideen nicht in einem abgehobenen Raum gleichsam ungebundener Erkenntnisproduktion entstehen, sondern in Relation zu einem durch vorhergehende Selektionen strukturierten Feld hervorgebracht und entwickelt werden. Wissenschaftliche Innovation ist, mit anderen Worten, unabdingbar an spezifische Kontexte gebunden, die durch fachgeschichtliche Traditionen und etablierte Forschungskonventionen ebenso bestimmt werden wie durch institutionelle Bedingungen und Strukturen. Als ein möglicher Weg, den damit angesprochenen unhintergehbaren Kontextbezug wissenschaftlicher Erkenntnis zu konzeptualisieren, wird hier ein Modell wissenschaftlichen Wandels vorgeschlagen, das auf folgende Theorieelemente zurückgreift:
(1) Vorausgesetzt sei zunächst das Kuhnsche Konzept der paradigmageleiteten Form wissenschaftlichen Arbeitens: Das Paradigma — als zumeist unentwirrbares Ensemble von Theorieannahmen, Methodik, anerkannten Standards und klassischen Fallbeispielen — bestimmt die wissenschaftliche Praxis der ›scientific community‹.1
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Literaturverzeichnis
Vgl. Thomas S. Kuhn: The Structure of Scientific Revolutions. 2. Aufl. Chicago 1970, insbes. Kap. 5.
Vgl. Niklas Luhmann: »Die Ausdifferenzierung von Erkenntnisgewinn«. In: Nico Stehr/Volker Meja (Hrsg.): Wissenssoziologie. (Sonderheft 22 der Kölner Zs. für Soziologie und Sozialpsychologie). Opladen 1981, S. 101–139, und ders.: Die Wissenschaft der Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1990.
Dies impliziert vor allem, daß sich Wissenschaft als ein selbstreferentiell geschlossener, eigenständiger Kommunikationszusammenhang aus einer nichtwissenschaftlichen Umwelt ausdifferenziert hat, der die Elemente, aus denen er besteht (i. e. publikationsförmige wissenschaftliche Kommunikation), selbst produziert. Vgl. Rudolf Stichweh: »Die Autopoiesis der Wissenschaft«. In: Dirk Baecker u. a. (Hrsg.): Theorie als Passion. Niklas Luhmann zum 60. Geburtstag. Frankfurt a.M. 1987, S. 447–481, hier S. 453.
Siehe Stephen Toulmin: »Die evolutionäre Entwicklung der Naturwissenschaft«. In: Werner Diederich (Hrsg.): Theorien der Wissenschaftsgeschichte. Beiträge zur diachronen Wissenschaftstheorie. Frankfurt a.M. 1974, S. 249–275.
Niklas Luhmann: »Gesellschaftliche Struktur und semantische Tradition«. In: N. L.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Bd. 1. Frankfurt a.M. 1980, S. 9–71, hier S. 41–58.
Niklas Luhmann: »Selbstreferenz und binäre Schematisierung«. In: N. L.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Bd. 1. Frankfurt a.M. 1980, S. 301–313, hier S. 303.
Vgl. die Beiträge des Bandes: Christoph König/Eberhard Lämmert (Hrsg.): Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 1910 bis 1925. Frankfurt a.M. 1993. 10 Die Bedingungen für Innendifferenzierung sind günstig: Die Literaturwissenschaft, insbesondere die Neugermanistik, verzeichnet gegen Ende des Jahrhunderts ein beachtliches Größenwachstum und eine Steigerung innerer Komplexität,
vgl. Holger Dainat: »Von der Neueren Deutschen Literaturgeschichte zur Literaturwissenschaft. Die Fachentwicklung von 1890 bis 1913/14«. In: Jürgen Fohrmann/Wilhelm Voßkamp (Hrsg.): Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert. Stuttgart/Weimar 1994, S. 494–537, hier S. 514.
Siehe besonders Oskar Walzel: Gehalt und Gestalt im Kunstwerk des Dichters. Berlin 1924, ders.: Das Wortkunstwerk. Mittel zu seiner Erforschung. Leipzig 1926,
sowie Leo Spitzer: Aufsätze zur romanischen Syntax und Stilistik. Halle 1918, und ders.: Romanische Stil- und Literaturstudien. 2 Bde. Marburg 1931.
Georg Lukács: »Zur Theorie der Literaturgeschichte«. (1910). In: Ludwig Arnold (Hrsg.): Georg Lukács. Text+Kritik. Bd. 39/40, München 1973, S. 24–51;
Levin L. Schücking: Soziologie der literarischen Geschmacksbildung. 1923, 2., erw. Aufl. Berlin/Leipzig 1931.
Paul Merker: Neue Aufgaben der deutschen Literaturgeschichte. Leipzig, Berlin 1921,
Arnold Hirsch: ??Soziologie und Literaturgeschichte«. In: Euphorion 29 (1928), S. 74–82, ders.: Bürgertum und Barock im deutschen Roman. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte des bürgerlichen Weltbildes. (Frankfurt a. M. 1934). 2. Aufl. besorgt von Herbert Singer. Köln/Graz 1957.
Vgl. diesbezüglich den Überblicksessay von Wilhelm Voßkamp: »Literatursoziologie: Eine Alternative zur Geistesgeschichte? ›Sozialliterarische‹ Methoden in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts«. In: Christoph König/Eberhard Lämmert (Hrsg.): Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 1910 bis 1925. Frankfurt a.M. 1993, S. 291–306, hier S. 300.
Vgl. ferner: Linda Simonis: »Reflexion der Moderne im Zeichen von Kunst. Max Weber und Georg Simmel zwischen Entzauberung und Ästhetisierung«. In: Gerhart v. Graevenitz (Hrsg.): Konzepte der Moderne. DFG-Symposion 1997. Stuttgart/Weimar 1999, S. 612–632.
Vgl. ferner: Linda Simonis: »Reflexion der Moderne im Zeichen von Kunst. Max Weber und Georg Simmel zwischen Entzauberung und Ästhetisierung«. In: Gerhart v. Graevenitz (Hrsg.): Konzepte der Moderne. DFG-Symposion 1997. Stuttgart/Weimar 1999, S. 612–632.
Vgl. Max Weber: »Die Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus«. In: M. W.: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie. 9. Aufl. Tübingen 1988, Bd. 1, S. 17–206, hier S. 84–163.
Vgl. Stephen Greenblatt: Shakespearean Negotiations. The Circulation of Social Energy in Renaissance England. Oxford 1988.
Leo Spitzer: »›Fait accompli‹-Darstellung im Spanischen. Ein Versuch der Erfassung von Wesenszügen eines Sprachstils«. (1928). In: Helmut Hatzfeld (Hrsg.): Romanistische Stilforschung. Darmstadt 1975, S. 61–89, hier S. 77.
Karl Vossler: »Stil, Rhythmus und Reim in ihrer Wechselwirkung bei Petrarca und Leopardi«. (1903). In: Helmut Hatzfeld (Hrsg.): Romanistische Stilforschung. Darmstadt 1975, S. 10–35, hier S. 12.
Oskar Walzel: Wechselseitige Erhellung der Künste. Ein Beitrag zur Würdigung kunstgeschichtlicher Begriffe. Berlin 1917.
Vgl. Leo Spitzer: »Wortkunst und Sprachwissenschaft«. In: GRM 13 (1928), S. 169–186, hier S. 171.
Vgl. Christian von Ehrenfels: »Über ›Gestaltqualitäten‹«. (1890). In: Chr. v. E.: Philosophische Schriften. Hrsg. von Reinhard Fabian. Mit einer Einleitung von Peter Simons. München/Wien 1988, Bd. 3: Psychologie, Ethik, Erkenntnistheorie, S. 128–155.
Oskar Walzel: »Shaftesbury und das deutsche Geistesleben des 18. Jahrhunderts«. In: GRM 1 (1909), S. 416–437.
Oskar Walzel: Gehalt und Gestalt im Kunstwerk des Dichters. Berlin 1924, S. 7, vgl. auch S. 14.
Erich Rothacker: »Zur Philosophie des Geistes. Ein Literaturbericht«. In: DVjs 4 (1926), S. 315–337, hier S. 336.
Vgl. dazu auch Wilhelm Voßkamp: »Deutsche Barockforschung in den zwanziger und dreißiger Jahren«. In: Klaus Garber (Hrsg.): Europäische Barock-Rezeption. Teil 1. (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung. In Zusammenarbeit mit dem Internationalen Arbeitskreis für Barockliteratur hrsg. von der Herzog August Bibliothek 20). Wiesbaden 1991, S. 683–703.
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Simonis, A. (2000). Paradigmatische Innovationen und interne Differenzierung. Wandel durch Interdisziplinarität? Am Beispiel von Tendenzen der deutschen Literaturwissenschaft 1910–1930. In: Schönert, J. (eds) Literaturwissenschaft und Wissenschaftsforschung. Germanistische Symposien Berichtsbände. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-05573-6_12
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Publisher Name: J.B. Metzler, Stuttgart
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Online ISBN: 978-3-476-05573-6
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