Zusammenfassung
Zahlreiche Studien zur Frage kultureller Raumkonstitution haben in den letzten Jahren die Aufmerksamkeit dafür geschärft, daß Räume, die wir als unveränderliche Wahrnehmungsbedingungen aufzufassen geneigt sind, durch kulturelle bzw. mediale Praktiken hervorgebracht und verändert werden.1 Literatur ist in diesem Sinn nicht nur Teil einer kulturellen Raumordnung, wie z.B. der Nationalliteratur. Auch leistet sie mehr, als Räume einfach semiotisch zu repräsentieren: Als mediale Praxis wirkt sie in bestimmter Weise mit an der Konstitution kultureller Räume überhaupt.
Access this chapter
Tax calculation will be finalised at checkout
Purchases are for personal use only
Preview
Unable to display preview. Download preview PDF.
Anmerkungen
Vgl. stellvertretend Reichert, Dagmar (Hg.): Räumliches Denken. Zürich 1996,
sowie Schlögel, Karl: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik. München 2004.
Zur systematischen Beschreibung dieser Dynamik auf der Basis einer differenztheoretischen Medienanthropologie, vgl. Verf./Doetsch, Hermann/Lüdeke, Roger (Hg.): Von Pilgerwegen, Schriftspuren und Blickpunkten. Raumpraktiken in medienhistorischer Perspektive. Würzburg 2004, darin insbesondere den Beitrag von Hermann Doetsch: »Intervall. Überlegungen zu einer Theorie von Räumlichkeit und Medialität«, S. 23– 56.
Vgl. speziell zu Reiseberichten als Modell der Wissensorganisation, welches mittelalterliche Kosmographien ablöst, Defert, Daniel: »Collections et nations au XVIe siècle«. In: Duchet, Michèle (Hg.): L’Amérique de Théodore de Bry. Une collection de voyages protestante du XVI e siècle. Quatre études d’iconographie. Paris 1987, S. 47–67. Deferts Überlegungen verdanke ich wichtige Anregungen, selbst wenn ich den bei ihm im Vordergrund stehenden Gedanken der Formierung von Nationen zugunsten medienhistorischer Reflexionen zurückstelle.
Vgl. dazu Weigel, Sigrid: »Zum ›topographical turn‹ — Kartographie, Topographie und Raumkonzepte in den Kulturwissenschaften«. In: Kultur Poetik 2/2 (2002), S. 151–165, hier S. 151f.
Vgl. Schäffner, Wolfgang: »Operationale Topographie — Repräsentationsräume in den Niederlanden um 1600«. In: Rheinberger, Hans-Jörg u.a. (Hg.): Räume des Wissens — Repräsentation, Codierung, Spur. Berlin 1997, S. 63–90.
Vgl. zum Spiel von Karte und Territorium Iser, Wolfgang: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie. Frankfurt a.M. 1991, S. 426–430. Im Gegensatz zu Iser geht es mir allerdings nicht um das Hervortreten einer an sich überzeitlichen Dynamik des Imaginären in bestimmten, metaphorisch als Spiel von Karte und Territorium zu bezeichnenden Strukturen von Fiktionalität, sondern um das ›materielle‹ Medium Karte als Auslöser konkreter, frühneuzeitlicher Techniken der Imagination.
Der America-Sammlung, die in den ersten Bänden noch in vier (Deutsch, Latein, Englisch, Französisch) und später in zwei Sprachen (Deutsch, Latein) publiziert wird, tritt ab 1597 eine weitere, 13-teilige Sammlung von Reisen in das Östliche Indien an die Seite. Eine knappe Zusammenfassung der Entstehungsgeschichte der Reisen mit weiterer Literatur findet sich bei Sievernich, Gereon (Hg.): America de Bry 1590–1634. Amerika oder die Neue Welt. Die ›Entdeckung‹ eines Kontinents in 346 Kupferstichen. Berlin/New York 1990, S. 436–440.
Vgl. den Überblick bei Böhme, Max: Die großen Reisesammlungen des 16. Jahrhunderts und ihre Bedeutung. Amsterdam 1962 [Reprint der Erstausgabe von 1904].
Vgl. den Titel des gleichlautenden Sammelbandes von López-Baralt, Mercedes (Hg.): La iconografía política del nuevo mundo. Río Piedras 1990, sowie zum spezifisch protestantischen Hintergrund der
Unternehmung Lestringant, Frank: Le Huguenot et le sauvage, Paris 1990, v.a. S. 149–182 (Kap. V).
Bucher, Bernadette: La sauvage aux seins pendants. Paris 1977.
Vgl. Eisenstein, Elizabeth L: The Printing Press as an Agent of Change. Cambridge 1980 —
Giesecke, Michael: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit — Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien. Frankfurt a.M. 1998.
Die »Erfindung« Amerikas (die gegen die übliche Redeweise von der ›Entdeckung‹ gerichtete Formulierung stammt von O’Gorman, Edmundo: La invención de América, México D.F. 1956) ist nur durch mediale Dispositive überhaupt möglich. Zur »Einschreibung« der Eroberer in eine orale Kultur vgl.
Certeau, Michel de: L’écriture de l’histoire. Paris 1975;
zu den Folgen der Gutenberg-Galaxis vgl. die Beiträge in Wenzel, Horst (Hg.): Gutenberg und die Neue Welt. München 1994.
Vgl. stellvertretend Crary, Jonathan: Techniques of the Observer — On Vision and Modernity in the Nineteenth Century. Cambridge 1990, bzw. zur Kartographie Schäffner (s. Anm. 5)
Skelton, Raleigh A. (Hg.): The Mariners Mirror. Amsterdam 1966 [Reprint der englischen Ausgabe London 1588; vgl. zum folgenden die Einleitung von Skelton]. Bereits die holländische Erstausgabe (De Spieghel de Zeevaerdt) von 1584/5 bei dem renommierten Amsterdamer Verleger Plantin stößt nicht nur lokal, sondern auch international auf große Nachfrage. 1586 erscheint deshalb eine lateinische und zwei Jahre später die bereits erwähnte englische Fassung, die um Karten der englischen Küsten erweitert wird. Von den insgesamt 45 Seekarten sind 17 signiert, darunter 10 von Theodor de Bry. Die Stiche folgen in ihrer kartographischen Konzeption der Maßstabsgleichheit und in ihrer Dekoration dem zu dieser Zeit bereits berühmten Theatrum orbis Terrarum von Abraham Ortelius, das erstmals 1570 erscheint. Die Stecher arbeiten sowohl bei Ortelius als auch bei Waghenaer in weitreichender Eigenverantwortung, was gute kartographische Kenntnisse voraussetzt.
Die schriftliche Dokumentation von Amerikareisen wird in Spanien bereits 1504 durch die Einführung eines Bordschreibers angeordnet — vgl. dazu Siegert, Bernhard: Passage des Digitalen. Zeichenpraktiken in den neuzeitlichen Wissenschaften 1500–1900. Berlin 2003, S. 76. Zur Ausdifferenzierung der Aufzeichnung in skripturale und visuelle Medien im Laufe des 16. Jahrhunderts vgl.: »Introduction«. In: Hulton, Paul/Quinn, David Beers (Hg.): The American Drawings of John White, 1577–1590. 2 Bde. Chapel Hill 1964, hier Bd. 1, S. 29–36. Zitiert wird dort u.a. die Anweisung, die Sir Richard Hakluyt in seiner Korrespondenz zur Ausstattung der englischen Nordamerikareisen gibt: »A skillful painter is also to be carried with you, which the Spaniards used commonly in all their discoveries to bring the descriptions of all beasts, birds, fishes, trees, townes, etc.« (ebd., S. 34). Zur Absicht Richard Hakluyts, de Bry durch eine Publikation protestantischer Reiseberichte für seinen (zunächst erfolglosen) Versuch einzuspannen, die englische Königin zu einem stärkeren kolonialen Engagement zu bewegen, vgl. Lestringant (s. Anm. 10), v.a. S. 212.
Zur Einordnung de Brys in eine manieristische, via Étienne Delaune von der Schule von Fontainebleau beeinflußten Strömung der Druckgraphik vgl. Hind, Arthur M.: A History of Engraving & Etching. New York 31963, S. 124f.
Vgl. allgemein zur beglaubigenden ›Vorgängigkeit‹ des Bilds vor der Sprache Giesecke (s. Anm. 13), S. 597–639, v.a. S. 624. Zum Realitätseffekt der Abbildungen in den America-Bänden vgl. bereits Duchet, Michèle: »Le texte gravé de Théodore de Bry«. In: dies.: L’Amérique de Théodore de Bry. Une collection de voyages protestante du XVI e siècle. Quatre études d’iconographie. Paris 1987, S. 9–46, hier S. 37.
Die frühneuzeitliche Koexistenz von Schrift- und Bildmedien auf der Karte erfüllt somit die Bedingungen einer medienimmanenten Intermedialität in ausgezeichneter Weise. Vgl. hierzu grundlegend Paech, Joachim: »Intermedialität«. In: Albersmeier, Franz-Josef (Hg.): Texte zur Theorie des Films. Stuttgart 42001, S. 447–475.
Zitiert nach Büttner, Nils: Die Erfindung der Landschaft. Kosmographie und Landschaftskunst im Zeitalter Bruegels. Göttingen 2000, S. 18f. Büttners Studie liefert weiteres Material zu diesem Topos der frühneuzeitlichen geographischen Literatur und stellt auch die enge Verbindung zu Ortelius ausführlich heraus (vgl. S. 166–172).
Vgl. zu der Tatsache, daß die Karte im Zeitalter der Atlanten sich nicht mehr selbst genügt und ›verweisungsbedürftig‹ wird, d.h. nach Ergänzung durch Texte verlangt, Jacob, Christian: L’empire des cartes. Approche théorique de la cartographie à travers l’histoire. Paris 1992, S. 103.
Zur kunstwissenschaftlichen Diskussion um Räume in Bilderzählungen vgl. Kemp, Wolfgang: Die Räume der Maler. Zur Bilderzählung seit Giotto. München 1996.
Textuelle Formen des Beschreibens von Räumen in der Frühen Neuzeit untersucht in wissens- bzw. mediengeschichtlicher Perspektive Stagl, Justin: »Ars apodemica: Bildungsreise und Reisemethodik von 1560 bis 1600. In: Ertzdorff, Xenia v./Neukirch, Dieter (Hg.): Reisen und Reiseliteratur im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Amsterdam 1992, S. 141–189, insbes. S 156–158 (zu Fragebögen, die die Beschreibung von Reisestationen in ramistischer Tradition methodisieren).
Vgl. zu dem Gegensatzpaar von »parcours« und »carte« Certeau, Michel de: L’invention du quotidien (Bd.1): Arts de faire. Paris 21990, S. 175–180.
Im Bildkommentar heißt es lediglich, daß man durch die Untiefe bei der Anfahrt auf Roanoke bereits »großen Schaden« erlitten hätte (I, i). Nach dem Bericht von Ralph Lane, dem Anführer der ersten englischen Expedition, sind dort Schiffe tatsächlich verlorengegangen, jedoch nicht an den hier als mögliche Schiffbruch-Orte bezeichneten Stellen, Vgl. den Bericht Lanes bei Lorant, Stefan: The New World. The First Pictures of America. New York 1946, S. 135–149, hier S. 148.
Das ›Untiefen‹ bezeichnende konventionelle Symbol der gepunkteten Wasserfläche verwendet de Bry mit anderen Kupferstechern bereits im Mariners Mirror. Zum Faszinosum des Schiffbruchs in der Frühen Neuzeit vgl. allgemein Blumenberg, Hans: Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher. Frankfurt a.M. 1979.
Der Begriff »Ereignis« wird im Sinn von Jurij Lotman verwendet, der die Sujetkonstitution von Erzählungen auf der Grundlage eines Raummodells definiert, das hier topographisch in Form einer kartographischen Fläche konkretisiert ist. Vgl. Lotman, Jurij M.: Die Struktur literarischer Texte. Aus dem Russischen übers. von Rolf-Dietrich Keil. München 1972, S. 311–347.
Vgl. Foucault, Michel: Les mots et les choses — Une archéologie des sciences humaines. Paris 1966, v.a. S.60–91,
sowie explizit zur Verknüpfung von Karte und Repräsentation Marin, Louis: »Les voies de la carte«. In: Ausst.-Kat. Cartes et figures de la terre. Paris 1980, S. 47–54.
Es ist anzunehmen, daß die bis auf eine Ausnahme heute nicht mehr erhaltenen Zeichnungen sowie auch der Reisebericht Le Moynes von seiner Florida-Reise bei dem spanischen Überfall auf das französische Fort verlorengegangen sind und erst lange danach, d.h. wohl in den späten 1580er Jahren, von ihm u.a. durch Rekurs auf fremde, bereits schriftlich aufgezeichnete bzw. im Druck verfügbare Quellen rekonstruiert werden. Nicht erst de Bry, sondern auch der Augenzeuge Le Moyne selbst suppleiert also seine eigene Augenzeugenschaft mit der Exteriorität visueller und textueller Medien. Vgl. dazu einmal mehr Lestringant (s. Anm. 10), S. 183–202, sowie allgemein zu Leben, historischem Kontext und Quellen für Karten und Bilder Le Moynes: »Introduction«: In: Hulton, Paul (Hg.): The Work of Jacques Le Moyne de Morgues. A Huguenot Artist in France, Florida and England. 2 Bde. London 1977, Bd. 1, S. 1–84.
Dieselbe Szene findet sich in leicht veränderter Form auch in René de Laudonnières Histoire notable de la Floride sitvée es Indes, Paris 1946 [Reprint der Ausgabe von 1586], S. 37f.
Vgl. zu dieser Diskrepanz von Text und Bild Burghartz, Susanna: »Transformation und Polysemie. Zur Dynamik zwischen Bild, Text und Kontext in den ›Americae‹ der de Bry«. In: Ilg, Ulrike (Hg.): Text- und Bildtraditionen in Reiseberichten des 16. Jahrhunderts. Florenz 2004 [im Druck]; im Internet unter: http://www.hist.net/debry/polysemie.htm [08.11.2004]; im folgenden zitiere ich nach den Seitenangaben der unter genannter URL abrufbaren pdf-Version des Aufsatzes.
Vgl. zur Karte als deiktischer Zeigfläche Stockhammer, Robert: »›An dieser Stelle‹. Kartographie und die Literatur der Moderne«. In: Poetica 33/3–4 (2001), S. 273–306.
Cervantes, Miguel de: Don Quijote de la Mancha. 2 Bde. Hg. Francisco Rico. Barcelona 1998, Bd. 2, S. 672 [II, 6]. Deutsche Übersetzung von Ludwig Braunfels (München 161988, S. 586): »[…] Denn die Ritter vom Hof, ohne ihre Gemächer zu verlassen und die Schwelle des Königshauses zu überschreiten, die spazieren auf einer Landkarte durch die ganze Welt, und es kostet sie keinen Pfennig, und sie erdulden dabei nicht Hitze noch Kälte, weder Hunger noch Durst […]«.
Schäffner, Wolfgang: »Die Verwaltung der Endlichkeit. Zur Geburt des neuzeitlichen Romans in Spanien.« In: Goebel, Eckart/Koppenfels, Martin von (Hg.): Die Endlichkeit der Literatur. Berlin 2002, S. 1–12.
Vgl. zum Beginn einer »política do sigilo« (Politik der Geheimhaltung) bei der portugiesischen und spanischen Krone zu Beginn des 16. Jahrhunderts Pinto, João Rocha: A viagem: Memoria e espaço. A literatura portuguesa de viagens. Lissabon 1989, hier S. 157. Zur in dieser Hinsicht exemplarischen Doppelfunktion von Juan López de Velasco als Kosmograph und Zensor vgl. Schäffner (s. Anm. 52), S. 7f.
Author information
Authors and Affiliations
Editor information
Rights and permissions
Copyright information
© 2005 Springer-Verlag GmbH Deutschland
About this chapter
Cite this chapter
Dünne, J. (2005). Die Karte als imaginierter Ursprung. In: Böhme, H. (eds) Topographien der Literatur. Germanistische Symposien Berichtsbände. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-05571-2_4
Download citation
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-476-05571-2_4
Publisher Name: J.B. Metzler, Stuttgart
Print ISBN: 978-3-476-02117-5
Online ISBN: 978-3-476-05571-2
eBook Packages: J.B. Metzler Humanities (German Language)