Zusammenfassung
Die Kunstbeschreibungen Friedrich Schlegels künden von Entdeckungen: »[…] es steht diese Kirche [Notre Dame in Paris; M.S.] an einer niedrigen und abgelegenen Gegend, wo sie nicht ins Auge fällt; die Vorderseite sieht man gut, aber den Anblick des übrigen muß man mühsam zusammen suchen, weil es teils versteckt, teils verbaut ist.«1 Nach 1800 reist Schlegel durch das napoleonisch neugeordnete Europa, erkundet Landschaften, Städte, Museen, Bibliotheken und entdeckt dort eine Welt, die — obwohl in ihren Artefakten sichtbare Realität — seinen Zeitgenossen nicht präsent ist: das europäische Mittelalter. In Reise- und Kunstbeschreibungen entwirft Schlegel aus seinen ästhetischen Erfahrungen der gotischen Kirchen in Frankreich und Deutschland, der Burgen am Rhein, der deutschen, niederländischen und italienischen Malerei vor der Renaissance die Karte eines mittelalterlichen europäischen Kulturraumes. Programmatisch wird das Primat der Sinnlichkeit, des konkreten Eindrucks, des realen Ortes oder Gegenstands formuliert: »[D]ie Theorie der Kunst [darf] nie von der Anschauung getrennt werden, ohne unvermeidlich in willkürliche Hirngespinste oder in leere Allgemeinheiten zu geraten. […] Die Anschauung soll überall das Erste sein […].«2 Schlegel scheint damit avant la lettre einem Postulat neuester kultur- und literaturwissenschaftlicher Theoriebildung nachzukommen. »Sinnmuster werden in räumlich-geographischen Beziehungen und Bereichen gesucht, das Phänomen als Bild und Gestalt in situ wahrgenommen.
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Anmerkungen
Sombart, Nicolaus: »Nachrichten aus Ascona. Auf dem Wege zu einer kulturwissenschaftlichen Hermeneutik.« In: Prigge, Walter (Hg.): Städtische Intellektuelle. Urbane Milieus im 20. Jahrhundert. Frankfurt a.M. 1992, S. 107–117, hier S. 107.
Schlögel, Karl: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geo-politik. München/Wien 2003, S. 51. Die Zusammenführung von Friedrich Schlegels Kartierung Europas um 1800 und topographischer Methode geschieht hier nicht zufällig. Autoren des topographischen Ansatzes beziehen sich, wenn sie wie Karl Schlögel ihr Vorgehen auch historisch herleiten, auf im 18. Jahrhundert dominierende Ordnungskonzepte. ›Landkarte‹, ›map‹, ›mappemonde‹ oder ›mappae‹ werden während des 18. Jahrhunderts zu gefl ügelten Worten wissenschaftstheoretischer Programmschriften. Ob Albrecht von Haller den ›Theoretiker der Natur‹ mit einem ›Landver-messer‹ vergleicht, der eine ›Karte‹ anlegt, ob Carl von Linné ›mappae naturae‹ oder Ephraim Chambers eine ›map of knowledge‹ anvisieren oder ob wohl am berühmtesten D’Alembert in seinem Discours préliminaire de l’Encyclopédie von dieser als einer ›mappemonde‹ aller Wissenschaften spricht, immer wird versucht, der projektierten Ordnung einen anschaulichen Begriff beizulegen. Mit der topographischen Methode ist diese historische Semantik zum Theoriebegriff avanciert: ›Mental maps‹ oder ›maps of meaning‹ sind nicht zeitlich, sondern räumlich konstruiert. Unterschieden ist der topographische Ansatz damit historisch im wesentlichen vom Historismus des 19. Jahrhunderts. Friedrich Schlegel besetzt um 1800 genau die Schwelle zwischen diesen zwei wissenschaftsgeschichtlichen Ordnungsmodellen.
Schlegel, Friedrich: Versuch über den Begriff des Republikanismus. In: KFSA VII, S. 15. Peter Schnyder: »Politik und Sprache in der Frühromantik. Zu Friedrich Schlegels Rezeption der Französischen Revolution.« In: Athenäum. Jahrbuch für Romantik (2000), S. 39–66, hat herausgearbeitet, wie sich die kommunikationstheoretischen Konzepte bei Schlegel mit dem Projekt einer politischen Gemeinschaft verbinden.
Schierbaum, Martin: Friedrich von Hardenbergs poetisierte Rhetorik. Politische Ästhetik der Frühromantik. Paderborn u.a. 2002, zeigt in seiner Interpretation von Glauben und Liebe, daß Novalis elaborierte zeichentheoretische Konzepte als Antwort auf das Problem entwickelt, wie der funktionale Zusammenhalt des Gesellschaftskörpers nach der Aufl ösung stratifi katorischer Bindungen gesichert werden kann. — Der ungleich bekanntere Versuch Novalis’, einen politischen Mythos zu etablieren, geschieht natürlich mit Die Christenheit oder Europa.
Vgl. zu Novalis im besonderen und zu politischen Mythen als vergesellschaftenden Erzählungen allgemein: Münkler, Herfried: Reich, Nation, Europa. Modelle politischer Ordnung. Weinheim 1996. 9 Schlegel, Friedrich: Reise nach Frankreich. In: KFSA VII, S. 56.
Zu den kunsttheoretischen und -historischen Implikationen von Schlegels Präferenzfür altdeutsche Malerei und religiöse Sujets sowie zur Entgegenstellung zur Kunsttheorie Goethes vgl. Osterkamp, Ernst: Im Buchstabenbilde. Studien zum Verfahren Goethischer Bildbeschreibungen. Stuttgart 1991, S. 232–241.
Vgl. dazu auch Bisky, Jens: Poesie der Baukunst. Architekturästhetik von Winckelmann bis Boisserée. Weimar 2000. »Wir wissen, daß erst ein Hinweis der Brüder Melchior und Sulpiz ihrem Pariser Lehrer die Augen für die Baukunst des Mittelalters geöffnet hat« (217). Nach dieser anschaulichen Metaphorik Biskys waren es also offenbar nicht die Gebäude selbst, die Schlegels Sinne zuerst in ihren Bann gezogen haben, sondern erst die sprachliche Vermittlung hat seine »Augen« für die sinnliche Wahrnehmung geöffnet. Karl Schlögels eingangs zitiertem topographischen Diktum ›Der Raum ist — auch ohne uns‹ ist somit zu entgegnen, daß die gotischen Kathedralen natürlich auch ohne Schlegel existieren, aber durch und für ihn erst zum Faktum werden, als er sie durch die Vermittlung seiner Freunde zuerst wahrnimmt und in seinen Reisebeschreibungen sprachlich zu fi xieren versucht.
Vgl. zu dieser Umstellung vom Paradigma der ›Vollständigkeit‹ zur »Idee des Ganzen« im wissenschaftsgeschichtlichen Kontext auch Pabst, Stephan: »Vollständigkeit und Totalität. Die Allgemeine-Literatur-Zeitung und die Ordnung des Wissens um 1800.« In: Matuschek, Stefan (Hg.): Organisation der Kritik. Die »Allgemeine-Literatur-Zeitung« in Jena 1785–1803. Heidelberg 2004, S. 55–76.
Schlegel, Friedrich: Geschichte der alten und neuen Literatur. In: KFSA VI, S. 7. Vgl. zu diesem Konzeptwechsel Matuschek, Stefan: »Poesie der Erinnerung. Friedrich Schlegels Wiener Literaturgeschichte.« In: Oesterle, Günter (Hg.): Erinnern und Vergessen in der europäischen Romantik. Würzburg 2001, S. 193–205.
Anderson, Benedict: Imagined Communities. Refl ections on the Origin and Spread of Nationalism. Revised Edition, London/New York 1991, hat ausführlich dargestellt, inwiefern es sich bei dem für Westeuropa maßgeblichen Integrationskonzept politischer Gemeinschaften, der Nation, um eine ›vorgestellte‹ Größe handelt: »[…] I propose the following defi nition of the nation: it is an imagined political community […]. It is imagined because the members of even the smallest nation will never know most of their fellow-members, meet them, or even hear of them, yet in the minds of each lives the image of their communion. […] In fact, all communities larger than primordial villages of face-to-face contact […] are imagined« (5–6). Zur Realität der Vorstellung von ›Nation‹ vgl.
auch Sarazin, Philip: »Die Wirklichkeit der Fiktion. Zum Konzept der ›imagined communities‹«. In: ders.: Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse. Frankfurt a.M. 2003, 150–176.
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Steiger, M. (2005). Eine ›Große Karte‹ Europas. In: Böhme, H. (eds) Topographien der Literatur. Germanistische Symposien Berichtsbände. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-05571-2_15
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