Zusammenfassung
Die derzeit aktuellen Gesellschaftstheorien (Systemtheorie, Feldtheorie u. a.) stimmen sämtlich darin überein, dass moderne Gesellschaften durch einen hohen Grad an Differenzierung und zumindest relativer Autonomisierung spezifischer sozialer Mikrokosmen geprägt sind. Als Teilnahmebedingung für den erfolgreichen Eintritt in diese Mikrokosmen gilt der Besitz jeweils bereichsspezifischer und damit distinktiver Techniken und Fertigkeiten sowie die Kenntnis der maßgeblichen bereichskonstitutiven Verfahrensweisen. Die ›nationalphilologischen‹ wie auch die allgemeinen und vergleichenden Literaturwissenschaften bilden gemeinsam einen solchen disziplinaren Mikrokosmos mit ganz bestimmten, historisch gewachsenen, wenn auch vergleichsweise ›weichen‹ Spielregeln und methodischen Instrumentarien. Als zentrale und unabdingbare technische Voraussetzung literaturwissenschaftlicher Tätigkeit galt lange Zeit eine spezifisch philologische Kompetenz, welche nach der Auskunft eines der maßgeblichen Nachschlagewerke des germanistischen Fachs der Disziplin1 Literaturwissenschaft ganz allgemein als wissenschaftliche Fertigkeit definiert werden kann, »die Texte der Vergangenheit verfügbar [zu] mach[en] und ihr Verständnis [zu] erschließ [en]«. Mit anderen Worten: Auf einer ersten Stufe geht es darum, die »Überlieferung des jeweiligen Textes […] zu ermitteln« und »aus dem Überlieferungsbefund […] Regeln für die Konstituierung eines den jeweiligen Benutzerinteressen entsprechend eingerichteten Textes abzuleiten«, sodann ist »dieser Text […] unter allen das Verständnis fördernden Gesichtspunkten zu untersuchen.«2
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Notizen
Die Unterscheidung zwischen Disziplin, Fach und — zeitlich instabilem sowie häufig fächerübergreifendem — Forschungsgebiet entnehme ich Luhmann, Niklas: Die Wissenschaft der Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1992, S. 453 f.
Vgl. Stackmann, Karl: »Philologie«. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. III. Hrsg. v. Jan-Dirk Müller. Berlin/New York 2003, S. 74–79,
Wohl aus wissenschaftspolitischen Gründen nur auf die erste dieser beiden Begriffskomponenten von ›Philologie‹, nämlich »auf eine Konfiguration wissenschaftlicher Fertigkeiten, die der historischen Textpflege dienlich sein sollen«, bezieht sich dagegen Gumbrecht, Hans Ulrich: Die Macht der Philologie. Frankfurt a. M. 2003, S. 11
u. passim, wobei er sich in seiner Trennung zwischen philologisehen und hermeneutischen bzw. interpretatorischen Fragestellungen (S. 12 f.) auf ausgewählte englische, spanische und italienische (nicht aber deutschsprachige!) Wörterbücher stützt (vgl. allerdings auch S. 15, Anm. 6). Demgegenüber hatte Szondi, Peter: »Über philologische Erkenntnis«. In: ders.: Hölderlin-Studien. Mit einem Traktat über philologische Erkenntnis. Frankfurt a. M. 1970, S. 9–34,
Vgl. Strohschneider, Peter: »Alterität«. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. I. Hrsg. v. Klaus Weimar. Berlin/New York 1997, S. 58 f.;
Vgl. Hassauer, Friederike: Textverluste. Eine Streitschrift. München 1992, S. 48 f.
Vgl. Hassauer, Friederike: Textverluste. Eine Streitschrift. München 1992, S. 48 f. Weitere Gründe für den Rückzug hermeneutisch-historischer und philologischer Ansätze in der Literaturwissenschaft nennen Böhme, Hartmut/Scherpe, Klaus R.: »Zur Einführung«. In: dies. (Hg.): Literatur und Kulturwissenschaften. Positionen, Theorien, Modelle. Reinbek 1996, S. 7–24, bes. S. 10–13.
Voßkamp, Wilhelm: »Die Gegenstände der Literaturwissenschaft und ihre Einbindung in die Kulturwissenschaften«. In: JbDSG 42 (1998), S. 503–506, hier S. 505.
Barner, Wilfried: »Kommt der Literaturwissenschaft ihr Gegenstand abhanden? Vorüberlegungen zu einer Diskussion«. In: JbDSG 41 (1997), S. 1–8; für die Debatte selbst vgl. JbDSG 42 (1998), S. 457–507;
Barner, Wilfried: »Kommt der Literaturwissenschaft ihr Gegenstand abhanden? Zur dritten und letzten Diskussionsrunde«. In: JbDSG 44 (2000), S. 333–335, hier S. 333.
Roland, Barthes: »Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen«. In: ders.: Das semiologische Abenteuer. Frankfurt a. M. 1988, S. 102–143, hier S. 102. In einer Anmerkung fügt Barthes hinzu, »daß dies weder für die Lyrik noch für den Essay gilt, die auf das kulturelle Niveau der Leser angewiesen sind.« (ebd., S. 137).
Bourdieu, Pierre: Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft. Frankfurt a.M. 2001, passim, bes. S. 64–78.
Vgl. Jakobson, Roman: »Linguistik und Poetik«. In: ders.: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921–1971 Hrsg. von Elmar Holenstein und Tarcisius Schelbert. 2. Aufl. Frankfurt a.M. 1989, S. 83–121, hier S. 92 f.
Vgl. etwa Lämmert, Eberhard (Hg.): Die erzählerische Dimension. Eine Gemeinsamkeit der Künste. Berlin 1999.
So Bachmann-Medick, Doris: »Weltsprache der Literatur«. In: JbDSG 42 (1998), S. 463–469, hier S. 465.
Luhmann, Niklas: »Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst«. In: Gumbrecht, Hans Ulrich/Pfeiffer, K. Ludwig (Hg.): Stil. Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements. Frankfurt a. M. 1986, S. 620–672,
vgl. Bourdieu, Pierre: »Le marché des biens symboliques«. In: L’année sociologique 22 (1971), S. 49– 126, bes. S. 50–54.
Vgl. etwa »Funktionen der Literatur. Ein Interview mit Michel Foucault«. In: Erdmann, Eva (Hg.): Ethos der Moderne. Foucaults Kritik der Aufklärung. Frankfurt a.M./New York 1990, S. 229–234, bes. S. 231 f.;
dagegen aber die früheren Ausführungen in Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. 12. Aufl. Frankfurt a.M. 1994, S. 76 f., welche die »Autonomie« der Literatur betonen, die hier sogar emphatisch als »eine Art ›Gegen-diskurs‹« bezeichnet wird.
So Baßler, Moritz: »Stichwort Text. Die Literaturwissenschaft unterwegs zu ihrem Gegenstand«. In: JbDSG 42 (1998), S. 470–475, hier S. 474.
Bourdieu, Pierre: »Künstlerische Konzeption und intellektuelles Kräftefeld«. In: ders.: Zur Soziologie der symbolischen Formen. 4. Aufl. Frankfurt a. M. 1991, S. 75–
Vgl. Luhmann: Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst (s. Anm. 50), S. 620–623; ders.: Die Kunst der Gesellschaft. 3. Aufl. Frankfurt a. M. 1999, S. 218 f. u. passim.
Vgl. Weber, Max: »Die ›Objektivität‹ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis«. In: ders.: Schriften zur Wissenschaftslehre. Hrsg. von Michael Sukale. Stuttgart 1991, S. 21–101, hier S. 44.
Vgl. Bourdieu: Die Regeln der Kunst (s. Anm. 37), S. 449 ff., bes. S. 453; ders.: »Die historische Genese einer reinen Ästhetik«. In: Gebauer, Gunter/Wulf, Christoph (Hg.): Praxis und Ästhetik. Neue Perspektiven im Denken Pierre Bourdieus. Frankfurt a.M. 1993, S. 14–32, bes. S. 17.
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Wolf, N.C. (2004). Hoffnungslos veraltet? Zur Funktion der philologischen Kompetenz in einer sich verändernden Wissenschaftslandschaft. In: Erhart, W. (eds) Grenzen der Germanistik. Germanistische Symposien Berichtsbände. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-05570-5_17
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DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-476-05570-5_17
Publisher Name: J.B. Metzler, Stuttgart
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