Zusammenfassung
Heinrich Rickert hat die Kulturwissenschaft dahingehend von der Naturwissenschaft abgegrenzt, dass er ihr ein »wertbeziehendes Verfahren« zuschrieb, das den Gegenstand ihrer Erkenntnis nicht nur ordne, benenne und der Beobachtung zugänglich mache, sondern a priori als Form mit spezifischem Wert begreife, zu dem sie sich in eine analytisch ergiebige Relation zu setzen habe.1 Der Terminus ›Wert‹ markiert eine historisch und systematisch variable Kategorie, deren jeweiliger Sinn durch den Verstehensvorgang stets neu aktualisiert werden muss.2 Zwar ist Rickerts Wertbegriff mit seinem impliziten Distinktionsimpuls gegenüber Natur und Technik für eine moderne Kulturwissenschaft nicht mehr akzeptabel, doch bleibt er dort im Grundsätzlichen instruktiv, wo er die epistemische Dimension der Interferenz zwischen wissenschaftlichem Betrachter und Betrachtungsobjekt bezeichnet. Diese Interferenz, die auf naturwissenschaftlichem Forschungsgebiet nicht zutage tritt, erlaubt es, durch die Beschreibung kulturellen Wissens in den Strukturen seiner geschichtlich veränderbaren Repräsentation stets auch die eigene Wahrnehmungsposition zu bedenken und zu kontrollieren. Das Prozessieren der Selbstreflexion, so wird sich zeigen, bildet jedoch nicht nur den produktiven Impuls, sondern zugleich die Problemlast kulturwissenschaftlicher Untersuchungsverfahren.
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Notizen
Rickert, Heinrich: Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft. 6. und 7. durchgesehene Aufl. Tübingen 1926, S. 85.
Mittelstrass, Jürgen: »Die Geisteswissenschaften im System der Wissenschaft«. In: Frühwald, Wolfgang u.a.: Geisteswissenschaften heute. Eine Denkschrift. Frankfurt a. M. 1991, S. 15–44, S. 39.
Vgl. dazu Graevenitz, Gerhart von: »Literaturwissenschaft und Kulturwissenschaften. Eine Erwiderung«. In: DVjs 73 (1999), S. 94–115, bes. S. 98.
Vgl. Schnädelbach, Herbert: »Kritik der Kompensation«. In: Wozu Geisteswissenschaften. Kursbuch 91 (1988), S. 35–45, ferner Mittelstrass: Die Geisteswissenschaften im System der Wissenschaft (s. Anm. 3), bes. S. 40 ff.
Vgl. auch Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns. 2 Bde. Frankfurt a. M. 1981. Bd. I, S. 82 ff., der die Differenzierung von Natur- und Kulturbegriff als Teil einer Binnengeschichte der entmythisierten Zivilisation betrachtet.
Luhmann, Niklas: Die Wissenschaft der Gesellschaft. 3. Aufl. Frankfurt a. M. 1998 (zuerst 1990), S. 123.
Luhmann, Niklas: »Die Soziologie des Wissens: Probleme ihrer theoretischen Konstruktion«. In: ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Bd. IV. Frankfurt a.M. 1999 (zuerst 1995), S. 151–181, S. 178.
Dilthey, Wilhelm: »Weltanschauungslehre. Abhandlungen zur Philosophie der Philosophie.«. In: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. VIII. Hrsg. von Bernhard Groet-huysen. 3. Aufl. Stuttgart/Göttingen 1962, S. 30 ff.
Weber, Max: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Dritte und erweiterte Aufl. Hrsg. von Johannes Winckelmann. Tübingen 1968, S. 368 ff.
Geertz, Clifford: Die künstlichen Wilden. Der Anthropologe als Schriftsteller. Aus dem Amerikanischen von Martin Pfeiffer. Frankfurt a.M. 1993, S. 29 (= Works and Lives. The Athropologist as Author, 1988).
Luhmann, Niklas: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1997 (zuerst 1995), S. 294 ff.
Schlaffer, Heinz: Poesie und Wissen. Die Entstehung des ästhetischen Bewußtseins und der philologischen Erkenntnis. Frankfurt a.M. 1990, S. 149.
Vgl. Marquard, Odo: »Über die Unvermeidlichkeit der Geisteswissenschaften«. In: ders.: Apologie des Zufälligen. Stuttgart 1986, S. 98–116.
Vgl. dazu Blumenberg, Hans: Die Genesis der kopernikanischen Welt. 3 Bde. Frankfurt a.M. 1989 (zuerst 1975), Bd. II, S. 310 ff.
Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft. In: ders.: Werke. Hrsg. von Wilhelm Weischedel. Frankfurt a.M. 1977. Bd. III, S. 175 (A 119).
Anders gewichtet hier Vogl, Joseph: »Für eine Poetologie des Wissens«. In: Richter, Karl/Schönert, Jörg: Die Literatur und die Wissenschaften 1770–1930. Stuttgart 1997, S. 107–127.
Vgl. Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Aus dem Französischen v. Ulrich Köppen. Frankfurt a. M. 1974 (=Les mots et les choses, 1966), S. 456 ff.
Iser, Wolfgang: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie. Frankfurt a.M. 1991, S. 24 ff., 377 ff.
Vgl. dazu Ort, Claus-Michael: »Vom Text zum Wissen«. In: Danneberg, Lutz/Voll-hardt, Friedrich (Hg.): Vom Umgang mit Literatur und Literaturgeschichte. Positionen und Perspektiven nach der »Theoriedebatte«. Stuttgart 1992, S. 409–441, hier S. 420 ff. (unter Bezug auf systemtheoretische Überlegungen von Walter L. Bühl und Heinz-Günter Vester).
Zur »Komik des Wissens« als Darstellungseffekt des literarischen Textes vgl. das Nachwort von Uwe Japp in: Flaubert, Gustave: Bouvard und Pécuchet. Aus dem Französischen v. Georg Goyert. Frankfurt a.M. 1979, S. 409–441.
Vgl. Iser, Wolfgang: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung. München 1976, S. 110ff.
Foucault, Michel: Archäologie des Wissens. Aus dem Französischen v. Ulrich Koppen. Frankfurt a.M. 1981 (= L’archéologie du savoir, 1969), S. 35 f.
de Man, Paul: Allegorien des Lesens (=Allegories of Reading). Aus dem Amerikanischen v. Werner Hamacher und Peter Krumme. Frankfurt a.M. 1988, bes. S. 31–51.
White, Hayden: Die Bedeutung der Form. Erzählstrukturen in der Geschichtsschreibung. Aus dem Amerikanischen v. Margit Smuda. Frankfurt a.M. 1990, bes. S. 65 ff.
Vgl. bereits die Diagnose bei Gumbrecht, Hans Ulrich: »Who is Afraid of Deconstruction?« In: Fohrmann, Jürgen/Müller, Harro (Hg.): Diskurstheorien und Literaturwissenschaft. Frankfurt a. M. 1988, S. 95–114, S. 105 ff.
ferner Baßler, Moritz: »Einleitung«. In: ders. (Hg.): New Historicism. Literaturgeschichte als Poetik der Kultur. Frankfurt a. M. 1995, S. 7–18, bes. S. 8 f.
Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. 7. Aufl. Frankfurt a. M. 1999 (zuerst 1984), S. 43 f.
Culler, Jonathan: Structuralist Poetics, Structuralism, Linguistics and the Study of Literature. London 1975, S. 261.
Hörisch, Jochen: »Minima Banalia«. In: Literaturen 05 (2002) S. 56–58, hier S. 58.
In anderem Zusammenhang hat Hörisch selbst zutreffender vom ›differen-ten‹ Wissen der Literatur gesprochen, siehe Hörisch, Jochen: Kopf oder Zahl. Die Poesie des Geldes. Frankfurt a.M. 1996, S. 47.
Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie. Hrsg. v. Gretel Adorno und Rolf Tiedemann. 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1974 (zuerst 1970), S. 55 ff.
zuletzt Bohrer, Karl Heinz: Ästhetische Negativität. München 2002.
Nietzsche, Friedrich: »Die fröhliche Wissenschaft«. In: ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Berlin/New York 1999. Bd. III, S. 627 (Nr. 374).
Ausgangspunkt für diese Definition: Brown, George Spencer: Laws of Form. New York 1972.
Zu den Aporien der Beobachterrolle siehe Koschorke, Albrecht: »Die Grenzen des Systems und die Rhetorik der Systemtheorie«. In: ders./Vismann, Cornelia (Hg.): Widerstände der Systemtheorie — Kulturtheoretische Analysen zum Werk von Niklas Luhmann. Berlin 1999, S. 49–63
vgl. ders.: »Derealisierung als Theorie. Das System und die operative Unzugänglichkeit seiner Umwelt bei Niklas Luhmann«. In: Porombka, Stephan/Scharnowski, Susanne (Hg.): Phänomene der Derealisierung. Wien 1999, S. 139–155.
Zum Sonderproblem der Selbstbeobachtung, das sich innerhalb des Settings einer Beobachtung zweiter Ordnung stellt, vgl. Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Bd. II. Frankfurt a.M. 1998, S. 879 ff.
Vgl. Luhmann, Niklas: »Erkenntnis als Konstruktion«. In: ders: Aufsätze und Reden. Hrsg. von Oliver Jahraus. Stuttgart 2001, S. 218–242.
Menninghaus, Winfried: »›Darstellung‹. Friedrich Gottlieb Klopstocks Eröffnung eines neuen Paradigmas«. In: Haart Nibbrig, Christian L. (Hg.): Was heißt ›Dar-stellen‹? Frankfurt a.M. 1994, S. 205–226.
Nach Bohrer, Karl Heinz: Ekstasen der Zeit. Augenblick, Gegenwart, Erinnerung. München 2003, S. 129 f.
Vgl. Greenblatt, Stephen: Verhandlungen mit Shakespeare. Innenansichten der englischen Renaissance. Aus dem Amerikanischen v. Robert Cackett. Frankfurt a.M. 1993 (= Shakespearean Negotiations, 1988), S. 24 ff.
Vgl. zur wissenschaftsgeschichtlichen Grundlegung Japp, Uwe: Beziehungssinn. Ein Konzept der Literaturgeschichte. Frankfurt a.M. 1980, bes. S. 219 ff.
und Fohrmann, Jürgen: »Über das Schreiben von Literaturgeschichte«. In: Brenner, Peter J. (Hg.): Geld, Geist und Wissenschaft. Arbeits- und Darstellungsformen der Literaturwissenschaft. Frankfurt a. M. 1993, S. 175–203
Gumbrecht, Hans Ulrich: Die Macht der Philologie. Über einen verborgenen Impuls im wissenschaftlichen Umgang mit Texten. Aus dem Amerikanischen v. Joachim Schulte. Frankfurt a.M. 2003, S. 98 ff.
Vgl. Müller, Jan-Dirk: »Der Widerspenstigen Zähmung. Anmerkungen zu einer mediävistischen Kulturwissenschaft«. In: Huber, Martin/Lauer, Gerhard: Nach der Sozialgeschichte. Konzepte für eine Literaturwissenschaft zwischen Historischer Anthropologie, Kulturgeschichte und Medientheorie. Tübingen 2000, S. 461–481, hier 466 f.
Dazu Voßkamp, Wilhelm: »Medien — Kultur — Kommunikation. Zur Geschichte emblematischer Verhältnisse.«. In: Huber/Lauer: Nach der Sozialgeschichte (s. Anm. 66), S. 317–335, S. 320 f. Vgl. ders.: »Einheit in der Differenz. Zur Situation der Literaturwissenschaft in wissenschaftstheoretischer Perspektive.«. In: Jäger, Ludwig (Hg.): Germanistik. Vorträge des Deutschen Germanistentages 1994. Disziplinäre Identität und kulturelle Leistung. Weinheim 1994, S. 29–45, bes. S. 40.
Blumenberg, Hans: Die Legitimität der Neuzeit. Erneuerte Ausgabe. 2. Aufl. Frankfurt a.M. 1988 (zuerst 1983–85), S. 234.
Opitz, Martin: Buch von der deutschen Poeterey (1624). Studienausgabe. Hrsg. von Herbert Jaumann. Stuttgart 2002, S. 17.
Kritische und zugleich hoffnungsvolle Zwischenbilanz: von Heydebrand, Renate/Pfau, Dieter/Schönert, Jörg (Hg.): Zur theoretischen Grundlegung einer Sozialgeschichte der Literatur. Ein struktural-funktionaler Entwurf. Tübingen 1988.
ferner Erhart, Walter: »Nach der Aufklärungsforschung?« In: Dainat, Holger/Vosskamp, Wilhelm (Hg.): Aufklärungsforschung in Deutschland. Heidelberg 1999, S. 99–128.
Vgl. hier nur die Beiträge in: Wolfgang Küttler u. a. (Hg.): Geschichtsdiskurs. Bd. II, Frankfurt a.M. 1994.
Vgl. dazu Koschorke, Albrecht: »Wissenschaften des Arbiträren. Die Revolutionierung des Sinnesphysiologie und die Entstehung der modernen Hermeneutik«. In: Vogl, Joseph (Hg.): Poetologien des Wissens. München 1999, S. 19–52, hier S. 20, 42.
Vgl. am Beispiel von literarischem Traum und Traumtheorie Alt, Peter-André: Der Schlaf der Vernunft. Literatur und Traum in der Kulturgeschichte der Neuzeit. München 2002, bes. S. 92 ff., 331 ff.
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Alt, PA. (2004). Beobachtungen dritter Ordnung. Literaturgeschichte als Funktionsgeschichte kulturellen Wissens. In: Erhart, W. (eds) Grenzen der Germanistik. Germanistische Symposien Berichtsbände. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-05570-5_12
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