Zusammenfassung
Der Titel enthält eine Paradoxie: Inszenierungen1 sind notwendig etwas Absichtliches. Unabsichtlichkeit als Ereignis von Inszenierung setzt deshalb im Erfolgsfalle voraus, daß die Inszenierung nicht sichtbar wird. Denn sonst ›spürt man die Absicht, und man ist verstimmt‹ Jedenfalls gilt das für Inszenierungen des wirklichen Lebens. Im Theater ist das vielleicht anders, obwohl auch hier zumindest klassischerweise galt, daß jene Inszenierung die beste ist, der man nicht anmerkt, daß sie eine ist. Immerhin weiß der Theaterbesucher — auch ohne daß ihn besondere Techniken der Verfremdung mit der Nase darauf stoßen — daß er an einer Vorführung teilnimmt, selbst wenn diese so gut ist, daß er das für zwei Stunden fast vergessen kann. Im Ernstfall alltäglichen Lebens braucht es Takt, wenn man erkennt, daß man Zuschauer einer Inszenierung von Unabsichtlichkeit geworden ist. Generell stellt Takt eine Verhaltensstrategie dar, die darauf abzielt, »[…] die Selbstdarstellung und die Selbstdarstellungsgeschichte der Beteiligten nach Möglichkeit zu schonen und ihnen goldene Brücken zu bauen, auf denen sie das sichere Ufer des Gewesenen verlassen können.«2 Dieser besteht dann darin, daß man zwar nicht vergißt, daß einem etwas vorgespielt wird, es sich aber auch nicht anmerken läßt. Dieses ›Es-sich-nicht-anmerken-lassen‹ gelingt allerdings auch nur, wenn man über sicher abrufbare Ressourcen der Selbstinszenierung verfügt.
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Notizen
Zur soziologischen Analyse von Inszenierungen vgl. den gründlichen und präzisen, ja in gewisser Weise unverzichtbaren, Aufsatz von Willems, Herbert: »Insze-nierungsgesellschaft? Zum Theater als Modell, Theatralität und Praxis«. In: Willems, Herbert/Jurga, Martin (Hg.): Inszenierungsgesellschaft. Ein einführendes Handbuch. Opladen 1998, S. 23–83. Dort findet sich auch eine Fülle weiterer einschlägiger Beiträge. Speziell zur Inszenierung im Kontext von Theater: Fischer-Lichte, Erika: »Inszenierung und Theatralität«. In: ebd., S. 81–92 und dies.: Semiotik des Theaters. Tübingen, 31994.
Luhmann, Niklas: Funktionen und Folgen formaler Organisation. Berlin 1964, S. 147.
Vgl. Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt/M. 1997, S. 478.
Goffman, Erving: Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag. München 1969, S. 62.
Vgl. hierzu ausführlicher: Hahn, Alois: »Ehrlichkeit und Selbstbeherrschung«. In: Franz, Hans Werner (Hg.): 22. Deutscher Soziologentag. Opladen 1984, S. 221–223.
Weber, Max: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, herausgegeben Johannes Winckelmann,. Tübingen 31968, S. 279ff.
Vgl. hierzu: Lyman, Stanford M./Scott, Marvin B.: A Sociology of the Absurd. New York 1970, S. 111–144. Accounts in diesem Sinne sind entweder Rechtfertigungen (»justifications«) oder Entschuldigungen (»excuses«), mit deren Hilfe ein Normverstoß ›unschädlich‹ gemacht werden soll, ohne daß es zu gravierenderen negativen Sanktionen kommen müßte. Dabei gehören Hinweise auf Unfälle, Wissensdefizite, fehlende Absicht oder Freiwilligkeit, z.B. aufgrund körperlicher oder seelischer Schwächen zu den Haupttypen der in unserem Kontext relevanten Entschuldigungen. Die Rechtfertigungen bestreiten einfach, daß ein Verstoß stattgefunden hat, und sollen uns in diesem Zusammenhang nicht weiter beschäftigen.
Eine immer noch lesenswerte Studie zu diesem Thema: Krappmann, Lothar: Soziologische Dimensionen der Identität. Strukturelle Bedingungen für die Teilnahme an Interaktionsprozessen. Stuttgart 1971, und als Kommentar dazu: Hahn, Alois: Religion und der Verlust der Sinngebung. Identitätsprobleme in der modernen Gesellschaft. Frankfurt/M. und New York 1974, S. 107–135.
Für eine Fülle von Beispielen höchst komplexer Arrangements dieser Art vgl. Goffman, Erving: »Footing«. In: ders.: Forms of Talk. Philadelphia 21997, S. 124–159 (zuerst 1979).
Vgl. Watzlawick, Paul/Beavin, Janet /Jackson, Don D.: Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien. Bern/Stuttgart/Wien 41974 (Orig. engl. 1967) S. 62 passim. Die mit Schriftlichkeit verknüpfte andere ›Präzisionsgestalt‹ gegenüber der oralen Kommunikation hebt eindrücklich hervor: Bohn, Cornelia: Schriftlichkeit und Gesellschaft. Kommunikation und Sozialität der Neuzeit. Opladen 1999, S. 142 ff.
Goffman, Erving: Das Individuum im öffentlichen Austausch. Mikrostudien zur öffentlichen Ordnung. Frankfurt/M. 1974 (Orig. engl. 1971), S. 249 f.
Hier zitiert nach der Ausgabe: Mann, Thomas: Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull Der Memoiren erster Teil. Frankfurt/M. und Hamburg 1967 (zuerst: 1954).
Die Problematik der Simulation und der Dissimulation hat eine sehr lange Tradition. Dabei hat vor allem die Simulation es schwer gehabt, Verteidiger zu finden. Daß es gelegentlich besser ist zu dissimulieren, als durch Ehrlichkeit Ärgernis zu geben, wird aber mindestens seit dem 17. Jahrhundert sowohl von den Theologen als auch von weltlichen Beobachtern der Moral zugestanden. Vgl. dazu den schönen Aufsatz von Kruse, Margot: »Justification et critique du concept de la dissimulation dans l’oeuvre des moralistes du XVIIe siècle«. In: Tietz, Manfred/ Kapp, Volker (Hg.): La pensée religieuse dans la littérature et la civilisation du XVIIe siècle en France. Paris/Seattle/Tübingen 1984, S. 147–170.
Der für die neuere soziologische Theorie einflußreichste Text, der solche Bühnenmetaphern zur Analyse von Darstellungsproblemen auch im Alltag verwendet, ist bekanntlich Goffman, Erving: The Presentation of Self in Everyday Life. New York 1959. Die umfassendste und systematischste kritische Würdigung der Ansätze Goffmans in: Willems, Herbert: Rahmen und Habitus. Zum theoretischen und methodischen Ansatz Erving Goffmans: Vergleiche, Anschlüsse und Anwendungen. Frankfurt/M. 1997.
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Hahn, A. (2001). Inszenierung von Unabsichtlichkeit. In: Theatralität und die Krisen der Repräsentation. Germanistische Symposien Berichtsbände. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-05566-8_9
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