Zusammenfassung
Löst man den Begriff der Theatralität aus dem Kontext der Theaterwissenschaft und verwendet man ihn als einen allgemeinen kulturphilosophischen,1 dann ist eine Entontologisierung zu beobachten. Es geht nicht mehr allein um das Medium Theater und seine in einer Theatersemiotik beschreibbaren gegenständlichen und zeichentheoretischen Eigenschaften,2 sondern um die allgemeine soziale Struktur der Inszenierung. Sie scheint nahezu global zu sein und kann überall, wo kulturelle Zeichenpraxis zirkuliert, durch Beobachtungshinsichten erzeugt werden. Alltägliches Verhalten mag theatral intendiert sein oder nicht. Stets aber kann es so beobachtet werden, als ob es theatral sei. Die unabwendbare Semiotisierung, die in der Kultur jeden Gebrauch zum Zeichen seines Gebrauchs machen kann3 und für einen semiotisierenden Beobachter auch macht, versieht die soziale Praxis mit einem stets aktualisierbaren zeichentheoretischen Gehalt. Selbst das ›Normale‹ kann immer als inszeniertes Normales entziffert werden,4 indem Theatralität, verstanden als Beobachtungshinsicht, Ereignisse entsprechend kodiert.
Dieser Text kann hier nicht veröffentlicht werden, ohne daß ich meinen Vorbehalt anmelde. Eine Sektion, deren Heterogenität ein gelingendes Gespräch erst gar nicht möglich werden läßt und folglich eine Diskussion, die sichtbar uninteressiert war, mögen Gründe zur Verstimmung sein. Substantieller aber ist, daß das Thema Theatralität in diesem DFG-Symposion ganz offensichtlich von einem Definitionskartell beherrscht wurde. Seine diskursiven Regularitäten verbieten definitorische Anstrengungen — so formal und offen sie auch sein mögen —, einzig um den Begriff der Theatralität einer zweifelhaften Allgemeinheit zuzuführen. So werden wissenschaftsgeschichtliche, soziologische und theaterwissenschaftliche Ansätze unter dem Sammelbegriff des Theatralen einer Literaturwissenschaft zugeführt, die auf diese Weise die Literatur loszuwerden als ihr nicht ungewolltes Ziel entdeckt. Bewegten sich die Reaktionen auf meine Vorlage zwischen Totschweigen und globaler, an der Spezifik der Begründungsverhältnisse nicht interessierter Polemik, so stellt sich für mich die Frage, ob überhaupt der Kontext dieser Sektion geeignet sei, einen Text zu plazieren, der an literaturwissenschaftlicher Begriffsarbeit festzuhalten bestrebt ist und ausdrücklich eine Grenze des Theatralen zu benennen versucht. — Es war allein die Solidarität mit einigen anderen Beiträgen dieser Tagung, die mich bewogen hat, meinen Beitrag nicht zurückzuziehen.
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Notizen
Vgl. dazu die Ausführungen von Helmar Schramm: Karneval des Denkens. Theatralität im Spiegel philosophischer Texte des 16. und 17. Jahrhunderts, Berlin 1996, bes. Kap. 1.1. Theater/Kunst und ›Realität‹. Schramm argumentiert, daß die Entgrenzung der fachwissenschaftlichen Theaterbegrifflichkeit zu einer kultursemiotischen Terminologie einerseits einem »umgangssprachlichen Verschleiß zuarbeitet« (S. 23), andererseits aber präzis auf die zunehmende Theatralität der modernen Lebenswelten reagiert. Anstatt den konstatierten Verschleiß durch definitorische Rigorismen zu kontern, sei es fruchtbarer, den eröffneten Bedeutungsraum auszunutzen.
Vgl. dazu Fischer-Lichte, Erika: Semiotik des Theaters. 3 Bde., Tübingen, 41998, 31995, 31995. Weitere Hinweise in: Nöth, Winfried: Handbuch der Semiotik. Stuttgart 1985, S. 499–507.
Vgl. Barthes, Roland: Elemente der Semiologie. Frankfurt/M. 21981, S. 36.
Zu dem gegebenen Schaubild, das eine vereinfachende Schematisierung des Konnotationsmodells von Hjelmslev ist, vgl. Barthes, Roland: Mythen des Alltags. Frankfurt/M. 1964, S. 93. Barthes benutzt das Modell des sekundären semi-otischen Systems für seine Definition des Mythos. Jurij M. Lotman (Die Struktur literarischer Texte. München 21981, S. 22ff.) folgt derselben Gedankenfigur, um den Begriff der Kunst zu bestimmen. Offensichtlich taugt die Struktur des sekundären semiotischen Systems dazu, umfangreichere Sinnsysteme, die auf den natürlichen Sprachen aufbauen, zu erklären.
Vgl. neuerdings zusammenfassend: Wetz, Franz Josef: Hans Blumenberg zur Einführung. Hamburg 1993, S. 17–28. — Blumenberg nennt diejenigen Metaphern absolut, die nicht durch die Überschneidung zweier semantischer Bereiche entstehen, sondern durch Identifikation eines kleineren Bereichs (Theater, Schiffahrt, Buch) mit einem totalisierenden (Welt: Welt als Theater; Leben: Schiffahrt des Lebens, Natur: Buch der Natur).
Martinet, André: »La double articulation linguistique« In: Travaux du Cercle Linguistique de Copenhague 5 (1949). — Eine Diskussion dieser These findet sich bei Eco, Umberto: Einführung in die Semiotik. München 51985, S. 231–235.
Rapp, Uri: Handeln und Zuschauen, Darmstadt/Neuwied 1973.
Brechtzitate erfolgen unter der Sigle wa (Bandzahl, Seitenzahl) nach: Brecht, Bertolt: Gesammelte Werke. 20 Bde., Frankfurt/M. 1973. Davon abweichend benutze ich im fortlaufenden Text ohne weitere Angabe für Dreigroschenoper, -prozeß, -film, -roman sowie für einige Texte über die Dreigroschenarbeiten (Abkürzungen: DGO, DGP, DGF, DGR und für die Anmerkungen zur DGO die Abkürzung DGOA) die Ausgabe: Unseld, Siegfried (Hg.): Bertolt Brechts Dreigroschenbuch. Texte, Materialien, Dokumente. Frankfurt/M. 1973. Den Seitennachweisen sind jeweils die Abkürzungen beigegeben, so daß die Zitate den jeweiligen Texten zugeordnet werden können.
Vgl. diesen Gedanken bei: Wöhrle, Dieter: »Bertolt Brechts Dreigroschenprozeß. Selbstverständigung durch Ideologiezertrümmerung« In: Sprachkunst 11 (1980), S. 46.
Daß die DGO die ästhetische Kraft nicht hat, ihren Rezipienten von der Oberflächensemantik zur gemeinten Tiefenstruktur zu leiten, erhellt aus Rezensionen, die von linker Seite kamen. In Die Rote Fahne erscheint am 4. 9. 1928 eine kurze Besprechung, in der Brecht als Bohemien bezeichnet wird, der im Jargon des Lumpenmilieus einen unterhaltsamen Mischmasch darbiete, aber keine soziale oder politische Satire zeige (In: Wyss, Monika (Hg.): Brecht in der Kritik. Rezensionen aller Brecht-Uraufführungen. München 1977, S. 83). -Adorno betont in seiner Besprechung der Musik der DGO, daß »eine Fülle an ungebrochen Vitalem aus der Jazzregion« auf eine spiegelnde und bunte parodische Oberfläche zeige, die die Musik eben auch als die »leichte Musik von 1930« konsumierbar mache (in: Wyss, S. 276). Ähnlich wie Adorno findet zwar auch Ernst Bloch subversive Elemente in der Musik, muß dann aber doch konstatieren, daß das Kulinarische eine kritische und systemverändernde Sicht nicht garantieren könne: »Der Genuß überhaupt, den solche Musik mit sich führt, steht der Verwandlung der Gesellschaft — wenn nicht im Weg, so nicht immer auf dem Weg; ihr Ton hat nur bisweilen sein Schwert« (in: Wyss, S. 289). — Allen drei Stimmen ist die Ambivalenz eigen, an der DGO eine marxistische Intention ablesen zu können, aber deren zwingende Formulierung durch ein affirmatives und kulinarisches Gebaren zugleich verhindert zu sehen. Die skizzierte bürgerliche Rezeption, die dem physiognomischen Blick eines Adorno oder Bloch nicht folgen mag, hat genug Anhaltspunkte, um die DGO als Apotheose fröhlichen Ausbeutertums zu verstehen.
Zur Differenz von analoger und digitaler Kommunikation vgl. Watzlawik, Paul u.a.(Hg.): Menschliche Kommunikation. Bern 71985, S. 61ff. Theatralität ist eine notwendige Kommunikationsform, wo Ereignisse in ihrer mimischen und gestischen Qualität nicht mehr durch die Bedeutungsdifferenzen der Worte dargestellt werden können. An deren Stelle bzw. zu deren Begleitung finden sich dann mimetische Verhaltensweisen ein: Ein Akteur spielt dem anderen vor, was er verbal in dieser Weise nicht zu Ausdruck bringen kann.
Goffman, Erving: Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen. Frankfurt/M. 1980, S. 19.
Vgl. diese Terminologie bei Schütz, Alfred und Luckmann, Thomas (Hg.): Strukturen der Lebenswelt. 2 Bde., Frankfurt/M. 1979 und 1984.
Zur Metaphorologie vgl.: Blumenberg, Hans: Paradigmen zu einer Metaphorologie. Frankfurt/M. 21999. Neben der Arbeit Rapps finden sich in soziologischen Abhandlungen dort, wo Rollenstrukturen untersucht werden, zuweilen umfangreichere Reflexionen zur metaphorologischen Basis des Theatermodells. Stellvertretend sei das Büchlein von Ralf Dahrendort (Homo Sociologicus. Opladen 151977) genannt, das einen begriffsgeschichtlichen Exkurs zum persona-Begriff explizit in das Theatermodell einbettet.
Vgl. zum Begriff des Gesellschaftlich-Komischen bei Brecht: Knopf, Jan: Brecht-Handbuch. 2 Bde., Stuttgart 1980, Bd. »Theater«, S. 400–402 und Giese, Peter Christian: Das Gesellschaftlich-Komische. Zu Komik und Komödie am Beispiel der Stücke und Bearbeitungen Brechts. Stuttgart 1974.
Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften. Frankfurt/M. 1980, Bd. 4, S. 295–310.
Theodor W. Adorno: »Rückblickend auf den Surrealismus (1956)« In: ders.: Noten zur Literatur. Frankfurt/M. 1981, S. 103.
Der DGP läßt sich auch als Romanpoetik lesen: In den Roman solle die induktive Wirklichkeitsauffassung einziehen, die der Film durch seine Apparatstruktur habe; das filmische Vonaußensehen solle zu einer behavioristischen Behandlung der Prozesse fuhren und die psychologische Einfühlung des bürgerlichen Romans ersetzen; die kollektive Produktion habe die individuelle und am Produktionsprozeß nicht beteiligte Kopfarbeit des Romanciers zu überwinden; die funktionale Sicht müsse das Sichausdrücken der bürgerlichen Literatur unmöglich machen. — Der DGR wird diese aus dem Film gefolgerten Verfahrensweisen übernehmen. Es finden sich in ihm außerdem Kameraschwenks, Zeitlupen, Zeitraffer und Rückblenden. Insgesamt übernimmt der Romantext die mediale Struktur des filmischen Apparats (vgl. dazu ausführlicher Knopf, Jan: Brecht-Handbuch. 2 Bde., Band: Lyrik, Prosa, Schriften. Stuttgart 1996, S. 351–365 und Müller, Klaus-Detlev (Hg.): Bertolt Brecht. Epoche-Werk-Wirkung. München 1995, S. 162–200).
Bürger, Peter: Theorie der Avantgarde. Frankfurt/M. 41982, S. 24ff.
Lethen, Helmut: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen. Frankfurt/M. 1994.
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Simon, R. (2001). Medienwechsel der Theatralität? Zu Brechts Dreigroschenprojekt (Oper, Roman, Film, Prozeß). In: Theatralität und die Krisen der Repräsentation. Germanistische Symposien Berichtsbände. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-05566-8_12
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Publisher Name: J.B. Metzler, Stuttgart
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