Zusammenfassung
»Aus Bonn soll ein mir sehr liebenswürdiges Maß des Unpathetischen, des Gelassenen, des Entspannten mitgenommen werden.« Mit diesem Satz antwortete der studierte Kulturwissenschaftler und neue Bundestagspräsident Wolfgang Thierse in einem Interview auf die Frage, welche alt-bundesrepublikanischen Traditionen ihm in der künftigen ›Berliner Republik‹ erhaltenswert erscheinen.1 »Ist die Nation erwachsen?«, titelte DIE ZEIT zum Beginn des Kosovo-Krieges und schob zur Erläuterung folgende Zeile nach: »Ohne Pathos reagiert die Politik auf den ersten Kampfeinsatz der Bundeswehr«.2 Beide Aussagen dürften als weitgehend repräsentativ gelten für die zeitgenössische deutsche Einstellung zum öffentlichen Gebrauch von Pathos. Hierin der Abgrenzung Lessings gegenüber dem Geist des Barockzeitalters in der Hamburgischen Dramaturgie ähnlich, ist die spürbare Erleichterung, über diesen theatralen Modus operandi hinaus zu sein, noch geprägt von einer Furcht vor den vermeintlichen Rasereien und Exaltiertheiten der eigenen Vergangenheit.
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Notizen
Benjamin, Walter: Ursprung des deutschen Trauerspiels. Frankfurt/M. 1978, S. 38.
Spengler, Oswald: Der Untergang des Abendlandes. München 1923, S. 1186.
Meinecke, Friedrich: Zur nationalen Selbstkritik (1918). Politische Schriften und Reden, herausgegeben Georg Kotowski. Darmstadt 31968, S. 254.
Mann, Klaus: Der fromme Tanz. Das Abenteuerbuch einer Jugend (1925). Berlin 1982, S. 6.
Mann, Thomas: Die Bäume im Garten. Rede für Pan-Europa (1930). In: ders.: Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Oldenburg 1960, XI, S. 864.
Vgl. Goethe, Brief an Schiller vom 9. 12. 1797; dagegen Staiger, Emil: »Vom Pathos. Ein Beitrag zur Poetik.« In: Trivium II (1944), S. 80.
Vgl. hierzu Königseder, Karl: »Aby Warburg im ›Bellevue‹.« In: Galitz, Robert/ Reimers Brita (Hg.): Aby M. Warburg. ›Ekstatische Nymphe … trauernder Flußgott‹. Portrait eines Gelehrten. Hamburg 1995, S. 74–98.
Vgl. Rhet. 1378a -1388b; hierzu Fortenbaugh, William W.: »Aristotle’s Rhetoric on Emotions.« Archiv für Geschichte der Philosophie 52 (1970), S. 40–70; Wörner, Markus H.: »›Pathos‹ als Überzeugungsmittel in der Rhetorik des Aristoteles.« In: Craemer-Ruegenberg, Ingrid (Hg.): Pathos, Affekt, Gefühl: Philosophische Beiträge. München 1981, S. 53–78.
Warburg, Aby: »Einleitung zum Mnemosyne-Atlas.« (1929) In: Barta Fliedl, I./ Geissmar, C. (Hg.): Die Beredsamkeit des Leibes. Zur Körpersprache in der Kunst. Salzburg/Wien 1992, S. 171.
Iser, Wolfgang: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie. Frankfurt/M. 1991, S. 510.
Warburg, Aby: Notizbuch 1927, zitiert nach Gombrich, Ernst: Aby Warburg. Eine intellektuelle Biographie. Hamburg 1992, S. 338.
Warburg, Aby M.: Ausgewählte Schriften und Würdigungen (im folgenden ASW). herausgegeben Dieter Wuttke. Baden-Baden 31992, S. 130.
Vgl. ausführlich Port, Ulrich: »›Katharsis des Leidens‹. Aby Warburgs ›Pathosfor-meln‹ und ihre konzeptionellen Hintergründe in Rhetorik, Poetik und Tragödientheorie.« In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte Sonderheft 1999: Wege deutsch-jüdischen Denkens im 20. Jahrhundert, S. 5–42.
Archiv des Warburg Institute. Family Correspondance 1.1, Forts, des Briefes vom 26. Dez. aus Kreuzungen, zitiert nach Roeck, Bernd: Der junge Aby Warburg. München 1997, S. 107.
Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Freiburg 71966, S. 151.
Vgl. hierzu Kern, Peter Christoph: »Pathos. Vorläufige Überlegungen zu einer verpönten Kommunikationshaltung.« In: Löffler, Heinrich u. a. (Hg.): Texttyp, Sprechergruppe, Kommunikationsbereich. Studien zur deutschen Sprache in Geschichte und Gegenwart. Festschrift für Hugo Steger. Berlin 1994, S. 397.
Zu dieser Figur vgl. Lausberg, Heinrich: Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft, Stuttgart 31990, § 257,3 und 821.
Leonhard, Rudolf: »Vom Pathos«, Äonen des Fegefeuers, Berlin 1916, S. 54, zitiert nach: Pörtner, Paul (Hg.): Literaturrevolution 1910–1925. Dokumente, Manifeste, Programme, Darmstadt/Neuwied 1960, I, S. 143.
Edschmid, Kasimir: »Bilanz« In: ders.: Die doppelköpfige Nymphe. Aufsätze über die Literatur und die Gegenwart. Berlin 1920, S. 209.
Bühler, Karl: Ausdruckstheorie. Das System an der Geschichte aufgezeigt. Jena 1933, S. 50.
Erwin Loewenson im Rückblick 1962, zitiert nach Anz, Thomas/ Stark, Michael (Hg.): Expressionismus. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1910–1920. Stuttgart 1982, S. 572. Vgl. a. Loewensons Pamphlet »Die Décadance der Zeit und der Aufruf des Neuen Clubs« von 1909: Gegen die »reservierte Veraltung des deutschen Dandys« wird »tiefes Pathos und intensivstes Temperament« gesetzt (S. 198ff.). Im gleichen Jahr postuliert Stefan Zweig, die performative Dimension betonend: »Das neue Pathos muß den Willen nicht zu einer seelischen Vibration, zu einem feinen ästhetischen Wohlgefuhl enthalten, sondern zu einer Tat. Es muß mitreißen, muß die zersprengten Kräfte des Dichters von einst wieder in sich versammeln, muß im Dichter den Demagogen, den Musiker, den Schauspieler, den Redner für eine Stunde wiedererschaffen […]« (S. 577).
Meinecke, Friedrich: »Zur nationalen Selbstkritik« (1918) (s. Anm. 5).
Behrens, Peter: Feste des Lebens und der Kunst. Eine Betrachtung des Theaters als höchsten Kultursymbols. Leipzig 1900, zitiert nach Brauneck, Manfred (Hg.): Theater im 20. Jahrhundert. Programmschriften, Stilperioden, Reformmodelle. Reinbek 1986, S.49.
Vgl. hierzu in aller Differenziertheit Campe, Rüdiger: Affekt und Ausdruck. Zur Umwandlung der literarischen Rede im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 1990.
Vgl. Fischer-Lichte, Erika: Semiotik des Theaters. Eine Einführung. Tübingen 21988, Bd. 2. Vom »künstlichen« zum »natürlichen Zeichen« — Theater des Barock und der Aufklärung.
Vgl. Brandstetter, Gabriele: Tanz-Lektüren. Körperbilder und Raumfiguren der Avantgarde. Frankfurt/M. 1995.
Herald, Heinz: »Gedanken über ›Seeschlacht‹ und ›Retter‹« In: Das junge Deutschland II, 9 (1919), S. 258.
Einstein, Carl: Die schlimme Botschaft. In: Werke. Herausgegeben Hermann Haarmann u. Klaus Siebenhaar, Berlin 1996, II, S. 189.
Szondi, Peter: Theorie des modernen Dramas. Schriften I, Frankfurt/M. 1978, S. 99.
Vgl. »Formen der Mnemosyne. Gebärdensprachliche Bilderreihen Aby Warburgs.« In: Fliedl/Geissmar: (s. Anm. 13), S. 157; Saxl, Fritz: »Rinascimento dell’ antichità. Studien zu den Schriften A. Warburgs« (1922). In: ASW (s. Anm. 21), S. 351.
Ball, Hugo: Die Flucht aus der Zeit. Leipzig 1927, zitiert nach Brauneck (s. Anm. 43), S. 105.
Schlemmer, Oskar: Idealist der Form. Briefe, Tagebücher, Schriften, herausgegeben Andreas Hüneke, Leipzig 1990, S. 154.
Schlemmer (s. Anm. 59), S. 106 f. Zur Herkunft der Bildformel vgl. etwa Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, herausgegeben Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München 1980, I, S. 519; Spengler (s. Anm. 4), S.413f.
Heuß, Theodor: Reichstagsrede vom 11. Mai 1932. In: Schönhoven, Klaus/Vogel Hans-Jochen (Hg.): Frühe Warnungen vor dem Nationalsozialismus. Ein historisches Lesebuch. Bonn 1998, S. 277.
Brecht, Bertolt: »Ein fähiger Schauspieler. Begegnung mit Adolf Hitler.« In: Der Spiegel 50 (1996), S. 234; vgl. a. »Über die Theatralik des Faschismus« In: Ders.: Der Messingkauf. Gesammelte Werke (s. Anm. 48), XVI, S. 561.
Vgl. hierzu Ulonska, Ulrich: »Ethos und Pathos in Hitlers Rhetorik zwischen 1920 und 1933.« In: Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch, 16 (1997), 9–15.
Hitler, Adolf: Rede am 1. Verhandlungstag. Der Hitler-Prozeß 1924. Wortlaut der Hauptverhandlung vor dem Volksgericht München I. herausgegeben Lothar Gruch-mann u. Reinhard Weber, München 1997, S. 21.
Hitler, Adolf: Das Novemberverbrechen und seine Folgen (Rede auf der NSDAP-Versammlung in Köln am 18. 8. 1930). In: Hitler. Reden, Schriften, Anordnungen. herausgegeben Christian Hartmann, München u.a. 1995, III, S. 359.
Meinecke, Friedrich: Vor den Reichstagswahlen. Die Gefahren und die Hoffnungen (1924). (s. Anm. 5), S. 365.
Vgl. zu letzterem Hoeges, Dirk: Kontroverse am Abgrund: Ernst Robert Curtius und Karl Mannheim. Intellektuelle und »freischwebende Intelligenz« in der Weimarer Republik. Frankfurt/M. 1994.
Pinthus, Kurt: Einleitung zu Menschheitsdämmerung. Ein Dokument des Expressionismus (1920). Hamburg 1959, S. 23.
Deri, Max: »Idealismus und Expressionismus« In: Ders. Das junge Deutschland, I, 4/5(1918), S. 97.
Bloch, Ernst: Geist der Utopie. Faksimile der Ausgabe von 1918. Frankfurt/M. 1985, S. 31ff.
Bloch (s. Anm 74), S. 45; zum Prätext vgl. Däubler, Theodor: Im Kampf um die moderne Kunst und andere Schriften, herausgegeben Friedhelm Kemp und Friedrich Pfäfflin. Darmstadt 1988, S. 108 f.
Hausenstein, Wilhelm: Vom Geist des Barock. München 1920, S. 112 f.
Lethen, Helmut: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Weltkriegen. Frankfurt/M. 1994, S. 9.
Büchner, Georg: Dantons Tod. In. ders. Werke und Briefe, nach d. hist.-krit. Ausg. v. Werner R. Lehmann, München 1980, S. 64 (Szene IV,5). Zur Untermauerung des topischen Charakters vgl. weiter etwa Friedrich Nietzsche (s. Anm. 60), I, S. 889 f.; George, Stefan: »Über Kraft« In: Blätter für die Kunst. Dritte Folge, I (1896), S. 31.
Vgl. ausführlich Port (s. Anm. 24). Als plakatives Beispiel sei die Kontrastierung zwischen der »neue[n] Sachlichkeit Rembrandts« und der aus dem 15. Jahrhundert stammenden »ausgehöhlten antikischen Pathosformel« genannt (Aby Warburg, »Die italienische Antike im Zeitalter Rembrandts«, zitiert nach Gombrich [s. Anm. 19], S. 312). Bei Lessing selbst vgl. die Unterscheidung theatralischer Stile bei Griechen und Römern (Lessing, Gotthold Ephraim: Werke, herausgegeben Herbert G. Göpfert. München 1970ff., z.B. VI, S. 37 f. u. IV, S. 173).
Vgl. etwa die binären Charakterisierungen, mit denen Franz Roh 1925 die bildende Kunst und Albert Buesche 1926 die Schauspielkunst von Expressionismus und Postexpressionismus zu unterscheiden versuchen: ›ausschweifend‹ vs. ›streng, puristisch‹, ›laut‹ vs. ›still‹, ›warm‹ vs. ›kühl, bis kalt‹, ›urtümlich‹ vs. ›kultiviert‹; ›explosiv-laut‹ vs. ›verhalten-leise‹, ›ekstatisch‹ vs. ›bewußt‹, ›hymnisch‹ vs. ›sachlich‹ und — last but not least — ›pathetisch‹ vs. ›unpathetisch‹ (Roh, Franz: Nach-Expressionismus Magischer Realismus. Probleme der neuesten europäischen Malerei. Leipzig 1925, S. 119 f.; Buesche, Albert: »Besinnung auf dem Theater« In: Die Scene. Blätter für die Bühnenkunst, XVI (1926), S. 180. Die Konfundierung von Ästhetik und Verhaltensstil ist allerdings keine Erfindung der 20er Jahre, wie die Äußerungen von Büchner, Nietzsche und George belegen (s. Anm. 85).
Schmitt, Carl: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität (1922). Berlin 51990,S. 13.
Weber, Max: »Der Beruf zur Politik« (1919). In: Ders.: Soziologie, Universalgeschichtliche Analysen, Politik, herausgegeben Johannes Winckelmann. Stuttgart 1973, S. 166. Vgl. ähnlich Meinecke (s. Anm. 5), S. 357, S. 367.
Warburg, Aby: Gesammelte Schriften, herausgegeben Gertrud Bing. Leipzig, Berlin 1932, I.2, S. 613 f.
Vgl. z.B. Thomas Mann (s. Anm. 7), XII, S. 636; Max Weber (s. Anm. 92), S. 338; Freud, Sigmund: Die Zukunft einer Illusion (1927). In: ders.: Studienausgabe. herausgegeben Alexander Mitscherlich u.a. Frankfurt/M. 1974, IX, S. 182 f.
Vgl. Heidegger, Martin: Sein und Zeit. Tübingen 151979, S. 140.
Worringer, Wilhelm: Abstraktion und Einfühlung (1908). Amsterdam 1996, S. 118 und S. 154 f.
Vgl. Klages, Ludwig: Sämtliche Werke, herausgegeben Ernst Frauchinger u.a. Bonn 1964ff., VI, S. 180 ff. (Ausdruckskunde; 21923); VII (Graphologie I; 21919).
Lukács, Georg: »Zur Soziologie des modernen Dramas« In: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 38 (1914), S. 700ff.
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Port, U. (2001). »Pathosformeln« 1906–1933: Zur Theatralität starker Affekte nach Aby Warburg. In: Theatralität und die Krisen der Repräsentation. Germanistische Symposien Berichtsbände. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-05566-8_11
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