Zusammenfassung
Daß, wer auch immer zu schreiben beginnt, sich mit einer Übermacht an Tradition auseinanderzusetzen hat, wissen wir nicht erst seit Harold Bloom. Die Sorge, das Eigene möge unter dem »Fett der Zitate«, wie Canetti es nennt, nicht recht zur Geltung kommen, war schon in der Antike, in der Gnosis etwa, spürbar, und nicht zufällig gesellt sich zu Begriffen wie ›Einfluß‹, influence alsbald auch die wenig angenehme influenza. Wenn Harold Bloom den Dichtern eine anxiety of influence unterstellt, die ihr Schaffen nicht nur als nachtmahrhaftes Daimonion begleite, sondern für Struktur und Gestus ihres Werks verantwortlich sei, so mag man dies als mehr oder weniger reizvolle psychoanalytische Exkursion eines Literaturtheoretikers hinnehmen oder als eine Art Archäologie von Intertextualität.1 Wollte man aber, und dies sei im folgenden riskiert, den Begriff der Bloomschen anxiety auf überindividuelle Zusammenhänge ausweiten, auf das, was man die Selbstkonstitution einer Kulturnation, in diesem Fall der deutschen, nennen könnte, so bedarf es für entsprechende Einwände keiner großen Vorstellungskraft. Zu klären gilt es dann einerseits, inwiefern überhaupt von einer ›Angst‹, ja, einem ›Trauma‹ innerhalb der deutschen Literaturgeschichte gesprochen werden kann; andererseits, wieso man im Blick auf die Kanonisierung von Weltliteratur, wie sie von deutschen Literarhistorikern und Anthologisten des 19. Jahrhunderts unternommen wurde, des Rückgriffs auf sozialpsychologische Kategorien bedarf. Wäre es nicht ausreichend, so ließe sich argumentieren, einen moderaten, nicht-normativen Weltliteraturbegriff wie den Goetheschen zugrunde zu legen und von hier aus u.a. die beispiellose Übersetzungstätigkeit zu motivieren, die sich durch das deutsche 19. Jahrhundert zieht?2
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Notizen
Harold Bloom, The Anxiety of Influence. A Theory of Poetry, New York 1973.
Hendrik Birus ist zuzustimmen, wenn er, »entgegen Gadamers Behauptung«, die Auffassung vertritt, bei Goethe finde sich »gerade keine normative Weltliteraturkonzeption«: Hendrik Birus, »Am Schnittpunkt von Germanistik und Komparatistik: Die Idee der Weltliteratur heute«, in: ders. (Hrsg.), Germanistik und Komparatistik, DFG-Symposion 1993, Stuttgart, Weimar 1995, 439–457, hier: 449. Zu den Dimensionen der Übersetzungstätigkeit im 19. Jahrhundert vgl. Norbert Bachleitner, »›Übersetzungsfabriken‹. Das deutsche Übersetzungswesen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts«, IASL 14 (1989), 1–49.
Johannes Scherr (Hrsg.), Bildersaal der Weltliteratur, Stuttgart 1848, VI.
Vgl. für den ersten Fall etwa die Positionen in dem Sammelband von Heinz Otto Burger (Hrsg.), Begriffsbestimmung der Klassik und des Klassischen, Darmstadt 1972; für Argumentationen aus einem ›postnationalen‹ Bewußtsein heraus vgl. Reinhold Grimm, Jost Hermand (Hrsg.), Die Klassik-Legende, Frankfurt a.M. 1971. Wolfgang Pfaffenberger stellt ein Jahrzehnt später — in seiner Untersuchung Blütezeiten und nationale Geschichtsschreibung. Eine wissenschaftsgeschichtliche Betrachtung, Frankfurt a.M. 1981 — zwar genügend Material für einen »Blütezeiten«-Vergleich zur Verfügung, verkennt dann aber das Verspätungstrauma wie das Konkurrenzbewußtsein der deutschen Klassiker. Erst der Wechsel vom Symbol- zum Autonomiebegriff, den die Klassik-Deutung in den letzten beiden Jahrzehnten sukzessive vollzog, ermöglichte eine gewisse Sensibilisierung für ›Sonderweg‹-Fragen: vgl. Wilhelm Voßkamp, »Klassik als Epoche. Zur Typologie und Funktion der Weimarer Klassik«, in: Reinhart Herzog, Reinhart Koselleck (Hrsg.), Epochenschwellen und Epochenbewußtsein, München 1987, 493–514.
Conrad Wiedemann, »Deutsche Klassik und nationale Identität. Eine Revision der Sonderwegs-Frage«, in: Wilhelm Voßkamp (Hrsg.), Klassik im Vergleich. Normativität und Historizität europäischer Klassiken, Stuttgart, Weimar 1993, 541–569, hier: 545.
Gotthold Ephraim Lessing, Hamburgische Dramaturgie, Werke in acht Bänden, Darmstadt 1970–1979, IV, 229–720, hier: 698.
Johann Gottfried Herder, Alte Volkslieder (Erster Theil, Vorrede), Sämmtliche Werke in 33 Bänden, hrsg. Bernhard Suphan, Berlin 1877–1913, XXV, 10 f.
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, Werke in zwanzig Bänden, Frankfurt a.M. 1970–1971, III, 145–155; Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III, Werke, XX, 460.
Friedrich Schlegel, »Über das Studium der griechischen Poesie«, in: ders., Schriften zur Literatur, hrsg. Wolfdietrich Rasch, 2. Aufl., München 1985, 84–192, hier: 120 f.
Vgl. Georg Gottfried Gervinus, Geschichte der poetischen National-Literatur der Deutschen, 2. Aufl., 5 Bde., Leipzig 1842–1844.
Vgl. Joseph Hillebrand, Die deutsche Nationalliteratur seit dem Anfange des 18. Jahrhunderts, besonders seit Lessing, bis auf die Gegenwart, 3 Bde., Hamburg, Gotha 1845/1846, I, VII; Hermann Hettner, Literaturgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts, 3 Theile in 6 Bdn., Braunschweig 1856–1870, I, 6; III/2, 174; A. F. C. Vilmar, Vorlesungen über die Geschichte der deutschen National-Literatur, Marburg, Leipzig 1845, 5, 528.
Otto von Weddigen, Geschichte der Einwirkungen der deutschen Litteratur auf die Litteraturen der übrigen europäischen Kulturvölker der Neuzeit, Leipzig 1882, 182.
Eduard Engel, Geschichte der Deutschen Literatur von den Anfängen bis in die Gegenwart, 2 Bde., Wien 1906, I, 1, 7.
Vgl. hierzu: Ulrich Schulz-Buschhaus, »Kanonbildung in Europa«, in: Hans-Joachim Simm (Hrsg.), Literarische Klassik, Frankfurt a.M. 1988, 45–68, hier: 59.
Vgl. Birgit Bödeker, »Konzepte von Weltliteratur in deutschsprachigen Versdichtungsanthologien des 19. und frühen 20. Jahrhunderts«, in: Helga Eßmann, Udo Schöning (Hrsg.), Weltliteratur in deutschen Versanthologien des 19. Jahrhunderts, Berlin 1996, 183–204, hier: 194.
Georg Gottfried Gervinus, Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts seit den Wiener Verträgen, Leipzig 1866, 154.
Johannes Scherr, Geschichte der Englischen Literatur, 2., verb. u. verm. Aufl., Leipzig 1874, 195.
Julius Hart, Geschichte der Weltliteratur und des Theaters aller Zeiten und Völker, 2 Bde., Neudamm 1894, II, 856.
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Beil, U.J. (1998). Die ›verspätete Nation‹ und ihre ›Weltliteratur‹: Deutsche Kanonbildung im 19. und frühen 20. Jahrhundert. In: von Heydebrand, R. (eds) Kanon Macht Kultur. Germanistische Symposien Berichtsbände. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-05564-4_17
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