Zusammenfassung
Als »Hegel des 20. Jahrhunderts« hat Georg Lukács in der mitteleuropäischen Ästhetik und Literaturkritik die Richtung der Klassikdiskussion seit den dreißiger Jahren nachhaltig beeinflußt und bestimmt. [1] In seinem Aufsatz über »Fortschritt und Reaktion in der deutschen Literatur«, der 1945 in der Moskauer Zeitschrift Internationale Literatur erschien und später den ersten Teil seiner Kurzen Skizze einer Geschichte der neueren deutschen Literatur von 1952 ausmachte, engte Lukács die deutsche Klassik historisch auf »das Zwischenspiel des klassischen Humanismus« der Dioskuren Goethe und Schiller ein (44). [2] Er berief sich dabei auf den Gemeinplatz, daß klassische Perioden im allgemeinen »nur kurz zu sein« pflegten. Als Begründung führte Lukács das sozialgeschichtliche Argument an, daß die gesellschaftlichen Bedingungen, die für das Bestehen einer Klassik erforderlich seien, »selten für längere Zeit wirksam werden [könnten]« (44). Damit wird das Interpretationsschema eines deutschen Sonderwegs für die Klassik abgelehnt. Im Gegenteil, die deutsche Klassik wird nahezu als Paradebeispiel für die Geltung dieser gesellschaftsgeschichtlichen Gesetzmäßigkeit bezeichnet. Aus diesem Grunde beschränkt Lukács die deutsche Klassik als Epochenbegriff auf die Periode von 1794–1805 im Leben und Werk von Goethe und Schiller. [3] Für die anderen Autoren dieser Zeit, wie z.B. Herder, Hölderlin, Jean Paul, ist in dieser Periode kein Platz.
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Anmerkungen
Georg Lukács, Kurze Skizze einer Geschichte der neueren deutschen Literatur, hrsg. von Frank Benseier, Darmstadt, Neuwied (1975), 15–135;
Zur Klassik als Epochen- und Normenbegriff siehe Wilhelm Voßkamp, »Klassik als Epoche: Zur Typologie und Funktion der Weimarer Klassik«, in: Literarische Klassik, hrsg. von Hans-Joachim Simm, Frankfurt am Main 1988, 248–277.
Der Totalitätsbegriff bei Lukács, insbesondere in seiner Klassikkonzeption, bedarf einer eigenen Untersuchung. Siehe dazu Rolf Günter Renner, Ästhetische Theorie bei Georg Lukács. Zu ihrer Genese und Struktur, Bern, München 1976, S. 29–31, 74–77, 106–130;
Martin Jay, Marxism and Totality: The Adventures of a Concept from Lukács to Habermas, Berkeley, Los Angeles 1984, 81–127.
Siehe Rainer Warning, »Zur Hermeneutik des Klassischen«, in: Über das Klassische, hrsg. von Rudolf Bockholdt, Frankfurt am Main 1987, 77–100, hier: 79.
Zu Schillers Realismus siehe seinen Brief an Wilhelm von Humboldt vom 21. März 1796 (Schülers Werke, Nationalausgabe, 42 Bde., Weimar 1943ff., XXVIII, 204), sowie Jeffrey Barnouw, »Über den Realismus Wallensteins und Schillers mit einer Kritik der Hegeischen Deutung (1974)«, in: Schillers Wallenstein, hrsg. von Fritz Heuer u. Werner Keller, Darmstadt 1977, 396–421;
sowie Ehrhard Bahr, »Geschichtsrealismus in Schillers dramatischem Werk«, in: Friedrich Schiller. Angebot und Diskurs: Zugänge, Dichtung, Zeitgenossenschaft, hrsg. von Helmut Brandt, Berlin, Weimar 1987, 282–292. Zu Goethes Realismus siehe Dichtung und Wahrheit, Dritter Teil, 14. Buch (Goethes Werke, Hamburger Ausgabe, 14 Bde., Hamburg 1959, X, 19;
Peter Bürger, Theorie der Avantgarde, Frankfurt am Main 1974, 119.
Mit einer Ausnahme sind sämtliche Aufsätze in dem Band Georg Lukács, Organisation und Illusion, Politische Aufsätze III, 1921–1924, hrsg. von Jörg Kammler und Frank Benseier, Darmstadt, Neuwied 1977, vertreten. Die Dokumentation von Manfred Brauneck (Hrsg.), Die Rote Fahne: Kritik, Theorie, Feuilleton: 1918–1933 München 1973, enthält einige der Beiträge. Der Aufsatz über »Lessings Nathan und Goethes Tasso« ist nur in englischer Übersetzung in dem Band Georg Lukács, Reviews and Articles from die Rote Fahne, übers. von Peter Palmer, London 1983, vorhanden (hier: 20–24). Lukács’ Autorschaft dieses Artikels war bei der Herausgabe der deutschen Originaltexte noch nicht ermittelt.
Albrecht Betz, »Lukács als Literaturstrategie der Volksfront«, Verdinglichung und Utopie. Ernst Bloch und Georg Lukács zum 100. Geburtstag. Beiträge des internationalen Kolloquiums in Paris, März 1985, hrsg. von Arno Münster, Michael Löwy und Nicolas Tertulian, Frankfurt am Main 1987, 153.
Siehe dazu Sun-Wan Bang, Das Verhältnis der Ästhetik Georg Lukács’ zur deutschen Klassik und zu Thomas Mann, Frankfurt am Main 1977, 57.
Siehe auch Ehrhard Bahr, »Georg Lukács’ ›Goetheanism‹: Its Relevance for His Literary Theory«, in: Georg Lukács: Theory, Culture, and Politics, mit einer Einleitung hrsg. von Judith Marcus-Tar und Zoltán Tar, New Brunswick 1989, 89–95
Siehe dazu Helga Gallas, Marxistische Literaturtheorie: Kontroversen im Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller, Neuwied 1971, deren unbestreitbares Verdienst es war, mit dieser Monographie Lukács’ Rolle in den Kontroversen in der Linkskurve herauszustellen, wenn sie diese auch äußerst kritisch beleuchtete. Bereits Mitte der siebziger Jahre setzte jedoch eine Revision dieser kritischen Sicht ein.
Siehe dazu Werner Mittenzwei, »Gesichtspunkte: Zur Entwicklung der literaturtheoretischen Position Georg Lukács’«, in: Dialog und Kontroverse mit Georg Lukács: Der Methodenstreit deutscher sozialistischer Schriftsteller, hrsg. von Werner Mittenzwei, Leipzig 1975, 9–104;
David Pike, Lukács und Brecht, übers. von Lore Brüggemann, Tübingen 1986, 33–53, 57–60;
Alfred Klein, »›Poesie der revolutionären Klarheit‹: Über den Beitrag von Georg Lukács zur Programmbildung im Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller Deutschlands«, Weimarer Beiträge 34/10 (1988), 1675–1694.
Georg Lukács, »Nachwort [1970]«, Essays über den Realismus, Werke Bd. 4, Neuwied, Berlin 1971, 676. Zitate aus den Werken erfolgen mit Angabe der Band- und Seitenzahl im Text.
Siehe Alfred Klein, »›Poesie der revolutionären Klarheit‹: Über die Beiträge von Georg Lukács zur Progammbildung im Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller Deutschlands«, Weimarer Beiträge 34 (1988), 1675–1694.
Siehe dazu Die Expressionismusdebatte. Materialien zu einer marxistischen Realismuskonzeption, hrsg. von Hans-Jürgen Schmitt, Frankfurt am Main 1973. Siehe ferner Klaus Völker, »Brecht und Lukács: Analyse einer Meinungsverschiedenheit«, Kursbuch 1 (1966), 80–101;
Werner Mittenzwei, »Die Brecht-Lukács-Dabatte«, Sinn und Form 19 (1967), 235–269;
Lothar Baier, »Vom Erhabenen der proletarischen Revolution: Ein Nachtrag zur ›Brecht-Lukács-Debatte‹«, Der Streit mit Georg Lukács, hrsg. von Hans-Jürgen Schmitt, Frankfurt am Main 1978, 55–76;
Werner Mittenzwei, »Brecht und der Freundeskreis der Materialästhetik: Kunstentwürfe zu Beginn der dreißiger Jahre und ihre Schicksale«, Preis der Vernunft. Literatur und Kunst zwischen Aufklärung, Widerstand und Anpassung. Festschrift für Walter Huder, Berlin 1982, 67–83;
Gudrun Klatt, »Realismus in der Diskussion: Neue Fragen bei Durchsicht der Debatten der dreißiger Jahre«, Brecht 83: Brecht und Marxismus, hrsg. vom Brecht-Zentrum der DDR, Schriftenreihe des Brecht-Zentrum 4, Berlin 1983, 128–138;
Friedrich Tomberg, »Schwierigkeiten beim Begreifen der Realität: Zur Brecht-Lukács-Debatte über Realismus«, Brecht 85: Zur Ästhetik Brechts, hrsg. vom Brecht-Zentrum der DDR, Schriftenreihe des Brecht-Zentrum 5, Berlin 1986, 144–159;
derselbe, »Die Kritik der spätbürgerlichen Philosophie unter dem Blickwinkel der Brecht-Lukács-Debatte«, Geschichtlichkeit und Aktualität. Beiträge zum Werk und Wirken von Georg Lukács, hrsg. von Manfred Buhr u. Jozsef Lukács, Berlin 1987, 269–278;
»Die Sickingendebatte zwischen Marx-Engels und Lassalle«, in: Probleme der Ästhetik, Werke Bd. 10 (Neuwied/Berlin: Luchterhand, 1969), X, 461–503. Zur Interpretation siehe u.a. Wolfgang Hagen, »Zur Archäologie der marxistischen Geschichts- und Literaturtheorie: Die sogenannte ›Sickingendebatte‹«, in: Erweiterung der materialistischen Literaturtheorie durch Beschränkung ihrer Grenzen, hrsg. von Heinz Schlaffer, Literaturwissenschaft und Sozialwissenschaft 4, Stuttgart 1974, 7–108.
Siehe Ehrhard Bahr, Georg Lukács, Berlin 1970, 35–43.
Cesare Cases, »Georg Lukács und Goethe«, in: Goethe-Jahrbuch, 103 (1986), 138–151;
Ferenc Feher, »Lukács in Weimar«, Lukács Reappraised, hrsg. von Agnes Heller, New York 1983, 75–106;
Hans Mayer, »Deutscher Klassizismus«, in: Goethe. Ein Versuch über den Erfolg, Frankfurt am Main 1973, 66–72. Von Hans Mayer stammt das Wort von Lukács’ »Goetheanismus«, der »größer [sei] als derjenige von Goethe« (71).
Siehe Detlef Glowka, Georg Lukács im Spiegel der Kritik. Die Interpretation des Lukácschen Denkens in Deutschland 1945–1965, Diss. Berlin Freie Universität 1968;
Jürgen Scharfschwerdt, »Die Klassik-Ideologie in der Kultur-, Wissenschafts- und Literaturpolitik«, in: Einführung in Theorie, Geschichte und Funktion der DDR-Literatur, hrsg. von Hans-Jürgen Schmitt, Literaturwissenschaft und Sozialwissenschaften 6, Stuttgart 1975, 103–163, bes. 125–131;
Wolfram Schlenker, Das »kulturelle Erbe« in der DDR. Gesellschaftliche Entwicklung und Kulturpolitik 1945–1965, Stuttgart 1977, 101–104;
Peter Uwe Hohendahl, »Theorie und Praxis des Erbens: Untersuchung zum Problem der literarischen Tradition in der DDR«, in: Literatur der DDR in den siebziger Jahren, hrsg. von Peter Uwe Hohendahl und Patricia Herminghouse, Frankfurt am Main 1983, 13–52, bes. 17–27.
Todestages und des 50. Namenstages der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main, hrsg. von Dieter Kimpel und Jörg Pompetzki, Frankfurt/Main 1985, 89–107, bes. 93–94
(Wiederabdruck: Goethe Yearbook 5 (1990), 1–24);
Hans-Georg Werner, »Zur Problematik des Romantikverständnis in der DDR«, Weimarer Beiträge 36/1 (1990), 20–51.
Siehe Hans Koch (Hrsg.), Georg Lukács und der Revisionismus, Berlin 1960, sowie Ehrhard Bahr, Georg Lukács (Anm. 25), 63–72. Die Aufhebung des DDR-Urteils gegen Walter Janka im Januar 1990 und seine anschließende Rehabilitierung haben die ›staatsfeindliche‹ Bedeutung des sog. ›Lukácsismus‹ im Jahre 1956 klargemacht, der sämtlichen Intellektuellen damals zur Last gelegt wurde, die mit Lukács in Verbindung gestanden hatten. Siehe Walter Janka, Schwierigkeiten mit der Wahrheit, Reinbek 1989, 89–97. Die erste Aufarbeitung des Falls Lukács in der DDR erfolgte 1975 mit Dialog und Kontroverse mit Georg Lukács (Anm. 15).
Siehe Gerhard Scheit, »Der Totenkopf als Messias? Ursprung und Modernität der Allegorie bei Walter Benjamin und Georg Lukács«, Weimarer Beiträge 35/12 (1989), 1961–1979.
Sung-Wan Ban hat mit Recht erklärt, »daß Lukács’ lebenslange geistige Beziehung zu Th. Mann auf dem Verständnis beider von der deutschen Klassik beruht und durch die Kunstidee der deutschen Klassik bedingt ist« (Das Verhältnis der Ästhetik Georg Lukács’ zur deutschen Klassik und zu Thomas Mann [Anm. 14], 116). Zur Beziehung von Lukács zu Th. Mann siehe vor allem Judith Marcus-Tar, Thomas Mann und Georg Lukács. Beziehung, Einfluß und »repräsentative Gegensätzlichkeit«, Köln, Wien 1982.
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Bahr, E. (1993). Dialektik von Klassik und Realismus: Zur Historizität und Normativität des Klassikbegriffs bei Georg Lukács. In: Voßkamp, W. (eds) Klassik im Vergleich Normativität und Historizität europäischer Klassiken. Germanistische Symposien. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-05558-3_9
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