Zusammenfassung
Schillers Abhandlung Über naive und sentimentalische Dichtung (1795/96) [1], markant am Eingang des ›klassischen‹ Weimarer Jahrzehnts stehend [2], ist eine der nachdrücklichsten und zugleich vieldeutigsten Programmschriften deutscher ›Klassizität‹. Der fundierende Dualismus schon der Titelformulierung öffnet die Perspektive auf eine anthropologische Konstruktion von überzeitlichem Anspruch. Zugleich verrät nicht nur der Zugang zum tradierten Gegensatz von ›Alten‹ und ›Neueren‹, sondern auch manche Situierung einzelner Dichter und Dichtwerke die Perspektive des ›Historikers‹ Schiller und seiner nachrevolutionären Erfahrungen. Die schon den zeitgenössischen Lesern sofort evidente Bezüglichkeit auf Goethe schließlich berührt den entscheidenden Punkt der konkurrierenden Belebung, die den »Bund«, das »Bündnis« der beiden [3] über eine Dekade hin bestimmt. Die von Schiller und den Freunden apostrophierte Wendung ins prinzipiell »Philosophische« [4], die sich seit Jahren in ästhetischen Entwürfen erprobt, findet hier zugleich ihren Gegenhalt im tief Persönlichen.
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Anmerkungen
Vgl. dazu: Unser Commercium. Goethes und Schillers Literaturpolitik. Hrsg. v. Wilfried Barner, Eberhard Lämmert, Norbert Oellers, Stuttgart 1984;
gedrängte Zusammenfassung bei Dieter Borchmeyer, Die Weimarer Klassik. Eine Einführung. 2 Bde., Königstein/Ts. 1980 (bes. Bd. 2, 179–307).
Siehe auch Horst Turk, »Das ›Klassische Zeitalten. Zur geschichtsphilosophischen Begründung der Weimarer Klassik«, in: Probleme der Literaturgeschichtsschreibung. Hrsg. v. Wolfgang Haubrichs, Göttingen 1979, 155–174;
Wilhelm Voßkamp, »Klassik als Epoche — Zur Typologie der Weimarer Klassik«, in: Epochenschwelle und Epochenbewußtsein. Hrsg. v. Reinhart Herzog und Reinhart Koselleck, München 1987, 493–514.
Neuere Analysen unter detaillierter Auseinandersetzung mit der Forschung (und ausführlichen Bibliographien): Ulrich Floß, Kunst und Mensch in den ästhetischen Schriften Friedrich Schillers. Versuch einer kritischen Interpretation, Köln/Wien 1988 (überwiegend zu den Ästhetischen Briefen);
Ulrich Tschierske, Vernunftkritik und ästhetische Subjektivität. Studien zur Anthropologie Friedrich Schillers, Tübingen 1988 (den Gesamtkomplex umgreifend).
So nach Wilhelm von Humboldt, Über Schiller und den Gang seiner Geistesentwicklung (1830), kritischer Abdruck in: Schiller — Zeitgenosse aller Epochen. Dokumente zur Wirkungsgeschichte Schillers in Deutschland. 2 Teile. Hrsg. v. Norbert Oellers, Frankfurt a.M. 1970 und München 1976;
Von den zahlreichen Überblicken immer noch brauchbar: Max L. Baeumer, »Der Begriff ›klassisch‹ bei Goethe und Schiller«, In: Die Klassik-Legende. Hrsg. v. Reinhold Grimm und Jost Hermand, Frankfurt a.M. 1971, 17–49;
Beda Allemann, Artikel »Klassische (das)«. Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. v. Joachim Ritter und Karlfried Gründer. Bd. 4, Basel 1976, 853–856 (mit der wichtigsten älteren Literatur).
hier: Bd. 1, 249 (Text modernisiert). Zu Schillers Studien Wolfgang Schadewaldt, »Der Weg Schillers zu den Griechen« (1959), in: W. Sch.: Hellas und Hesperien. Gesammelte Schriften zur Antike und zur neueren Literatur, Zürich und Stuttgart 1960, 825–831.
Wilfried Barner, »Menschengeschlecht und Überlieferung. Über Schillers Traditionskonzept in Geschichte und Poesie um 1790«. in: Germanistik aus interkultureller Perspektive. En hommage à Gonthier-Louis Fink, Strasbourg 1988, 181–199.
Abhandlung, 186. Auf die ontologisch-anthropologische Ausrichtung legt das Schwergewicht Wolfgang Binder, »Die Begriffe ›naiv‹ und ›sentimentalisch‹ und Schillers Drama«, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 4 (1960), 140–157.
Zu dieser auch von Schiller und Schlegel verwendeten Bezeichnung vgl. besonders Hans Eichner, Einleitung in: Kritische Friedrich Schlegel Ausgabe. Hrsg. v. Ernst Behler unter Mitwirkung v. Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner, Bd. 2, Paderborn/München/Wien 1967, XLIX-L;
vgl. auch Hans Eichner, Friedrich Schlegel, New York 1970, 22–26.
Claudia Henn, Simplizität, Naivetät, Einfalt. Studien zur ästhetischen Terminologie in Frankreich und in Deutschland 1674–1771, Zürich 1974.
Immer noch grundlegend Walther Rehm, Griechentum und Goethezeit. Geschichte eines Glaubens, 4. Aufl., Bern und München 1968.
Dieter Borchmeyer, »Nietzsches Décadence-Kritik als Fortsetzung der ›Querelle des Anciens et des Modernes‹«, in: Ethische contra ästhetische Legitimation von Literatur. — Traditionalismus und Modernismus: Kontroversen um den Avantgardismus. Hrsg. v. Walter Haug und Wilfried Barner, Tübingen 1986 (Kontroversen, alte und neue. Akten des VII. Internationalen Germanisten-Kongresses Göttingen 1985. Hrsg. v. Albrecht Schöne, Bd. 8), 176–183.
Zusammenfassend Friedrich-Wilhelm Wentzlaff-Eggebert, Schillers Weg zu Goethe, 2. Aufl., Berlin 1963, 175ff.
Eva D. Becker, »›Klasiker‹ in der deutschen Literaturgeschichtsschreibung zwischen 1780 und 1860«, in: Zur Literatur der Restaurationsepoche 1815–1848. Hrsg. v. Jost Hermand und Manfred Windfuhr, Stuttgart 1970, 349–370;
jetzt Jürgen Fohrmann, Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte. Entstehung und Scheitern einer nationalen Poesiegeschichtsschreibung zwischen Humanismus und Deutschem Kaiserreich, Stuttgart 1989, 152 ff.
Bei Jauß lediglich indirekte Andeutungen, ebenso bei Peter Kapitza, Ein bürgerlicher Krieg in der gelehrten Welt. Zur Geschichte der Querelle des Anciens et des Modernes in Deutschland, München 1981.
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Barner, W. (1993). Anachronistische Klassizität. Zu Schillers Abhandlung Über naive und sentimentalische Dichtung. In: Voßkamp, W. (eds) Klassik im Vergleich Normativität und Historizität europäischer Klassiken. Germanistische Symposien. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-05558-3_6
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