Zusammenfassung
Mein Versuch, teils kulturmorphologisch, teils mentalitätsgeschichtlich verfahrend, beschäftigt sich mit der deutschen Klassik als einer unter mehreren ähnlichen nationalen »Klassiken«, genauer noch: als spätem Beispiel jener nationalkulturellen bzw. nationalliterarischen Blütezeitenreihe, die zwischen 1600 und 1700 in Westeuropa (Spanien, England, Holland, Frankreich) mit durchaus typenhaften Zügen in Erscheinung trat, aber bereits um 1500 in Italien vorgebildet war. Jede dieser Blütezeiten zeigt natürlich auch manifeste Eigenarten und jede hat eine eigene Kanonisierungsgeschichte auszuhalten, doch ebenso evident ist eine ihnen gemeinsame historische Grundkonstellation, nämlich das Zusammenwirken einer auffälligen nationalen Geniehäufung mit einem nicht minder auffälligem nationalstaatlichen Formierungsschub und einer kulturtypologischen Orientierung an der augusteischen Klassik Roms. [1] Daß im deutschen Fall der Antikebezug differiert und die nationale Formierung staatsfeindliche Züge trägt, ist bekannt und begründbar, ändert aber nichts an seiner struktur- und bewußtseinsgeschichtlichen Zurechenbarkeit zur Reihe. [2]
»Es ahnete das Kind ein Besseres« (Hölderlin, Germanien)
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Anmerkungen
Generell zur Vorbildrolle Vergils und der augusteischen Klassik: Klaus Garber, »Zur Konstitution der europäischen Nationalliteraturen. Implikationen und Perspektiven«, in: Klaus Garber (Hrsg.), Nation und Literatur im Europa der Frühen Neuzeit, Akten des I. Internationalen Osnabrücker Kongresses zur Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit, Tübingen 1989, 1–55, bes. 9f.
Die Versuchung, einen essentiellen Unterschied zwischen den früheren Blütezeiten Westeuropas und der deutschen Klassik zu machen, ist zugegebenermaßen nicht gering. Vgl. die einschlägige Argumentation bei Wolfgang Pfaffenberger, Blütezeiten und nationale Literaturgeschichtsschreibung. Eine wissenschaftsgeschichtliche Betrachtung, Frankfurt a. M. u.a. 1981, 133ff. Eine solche Auffassung steht freilich im Widerspruch zum historischen Verspätungs-Trauma und ignoriert das Konkurrenzbewußtsein der deutschen Klassiker besonders zum französischen »Classicisme«.
Aus der Zahl einschlägiger Untersuchungen seien genannt: Eva D. Becker, »Klassiken in der deutschen Literaturgeschichtsschreibung zwischen 1780 und 1860«, in: Jost Hermand und Manfred Windfuhr (Hrsg.), Zur Literatur der Restaurationsepoche 1815–1848, Forschungsreferate und Aufsätze, Stuttgart 1970, 349–370;
Klaus L. Berghahn, »Von Weimar nach Versailles. Zur Entstehung der Klassik-Legende im 18. Jahrhundert«, in: Reinhold Grimm und Jost Hermand (Hrsg.), Die Klassik-Legende, Frankfurt a. M. 1971, 56–78;
Wilfried Malsch, »Klassizismus, Klassik und Romantik der Goethezeit«, in: Karl Otto Conrady (Hrsg.), Deutsche Literatur zur Zeit der Klassik, Stuttgart 1977, 381–408;
Karl Robert Mandelkow, Goethe in Deutschland, Rezeptionsgeschichte eines Klassikers, Bd. 1. 1773–1918, München 1980;
Wilhelm Voßkamp, »Klassik als Epoche. Zur Typologie und Funktion der Weimarer Klassik«, in: Reinhart Herzog und Reinhart Koselleck (Hrsg.), Epochenschwelle und Epochenbewußtsein, München 1987, 493–514;
Jürgen Fohrmann, Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte, Entstehung und Scheitern einer nationalen Poesiegeschichtsschreibung zwischen Humanismus und Deutschem Kaiserreich, Stuttgart 1989.
Manfred Fuhrmann, »Die Querelle des Anciens et des Modernes, der Nationalismus und die Deutsche Klassik«, in: M. F.; Brechungen, Wirkungsgeschichtliche Studien zur antik-europäischen Bildungstradition, Stuttgart 1982, 129–149, hier 138.
Hans Robert Jauß, »Deutsche Klassik — eine Pseudo-Epoche«, in: Reinhart Herzog und Reinhart Koselleck (Hrsg.), Epochenschwelle und Epochenbewußtsein, München 1987, 581–585, hier: 581.
Aira Kemiläinen, Auffassungen über die Sendung des deutschen Volkes um die Wende des 18. und 19. Jahrhunderts, Helsinki/Wiesbaden 1956 (ein fast chronisch ignoriertes Buch).
Rudolf Vierhaus, ›Patriotismus‹ — Begriff und Realität einer moralisch-politischen Haltung, in: ders. (Hrsg.), »Deutsche patriotische und gemeinnützige Gesellschaften«, München 1980, 9–29;
Christoph Prignitz, Vaterlandsliebe und Freiheit. Deutscher Patriotismus von 1750–1850, Wiesbaden 1981: Irmtraud Sahmland, Christoph Martin Wieland und die deutsche Nation. Zwischen Patriotismus, Kosmopolitismus und Griechentum, Tübingen 1990, bes. Kap. 2–4.
Johann Christoph Gottsched, Das Lob Germaniens (1736), in: Ausgewählte Werke, hrsg. Joachim Birke, 1. Bd.; Gedichte und Gedichtübertragungen, Berlin , 12–17.
Johann Jacob Bodmer, Character Der Teutschen Gedichte, 1734, Vier kritische Gedichte, hrsg. Jacob Baechtold, Heilbronn 1883, 1–47.
Vgl. Gonthier-Louis Fink, »Vom universellen zum nationalen Literaturmodell im deutsch-französischen Konkurrenzkampf (1690–1770)«, in: Wilfried Barner (Hrsg.) unter Mitarbeit von Elisabeth Müller-Luckner, Tradition, Norm, Innovation, Soziales und literarisches Traditionsverhalten in der Frühzeit der deutschen Aufklärung, München 1989, 33–67.
Johann Gottfried Herder, Briefe zur Beförderung der Humanität, Achte Sammlung (1796), Sämtliche Werke, hrsg. von Bernhard Suphan, Bd. XVIII, Berlin 1883, 111.
Vgl. Günter Oesterle, »Friedrich Schlegel in Paris oder die romantische Gegenrevolution«, in: G.-L. Fink (Hrsg.), Les Romantiques allemands et la Révolution, Straßburg 1989, 163–180.
Friedrich Schlegel, Philosophische Lehrjahre 1796–1806. 2. Teil, hrsg. Ernst Behler, München 1971, 31.
Novalis, Die Christenheit oder Europa, Werke und Briefe, hrsg. Alfred Kelletat, München o.J., 402. Briefwechsel zwischen Schiller und Körner, hrsg., ausgewählt und kommentiert von Klaus L.Berghahn, München 1973, 118 (Brief vom 13. Oktober 1789)
R. Baum/S. Neumeister, »Perfektibilität«, in: Joachim Ritter und Karlfried Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 7, Basel 1989, Sp. 238–241.
Grundlegend dazu Franz Worstbrock, »Translatio artium. Über Herkunft und Entwicklung einer kulturhistorischen Theorie«, Archiv für Kulturgeschichte 47 (1965), 1–22.
Conrad Wiedemann: »Römische Staatsnation und griechische Kulturnation. Zum Paradigmenwechsel zwischen Gottsched und Winckel1mann«, in: Kontroversen, alte und neue. Akten des VII Internationalen Germanistenkongresses, Bd. 9, Tübingen 1986, 173–178;
Stefan Matuschek, Le bon goût und der gute Geschmack. Ein Versuch, Winckelmann nach Voltaire zu lesen, in: GRM 71 (1990), 230–234.
Hölderlin, »Gesang des Deutschen«, Sämtliche Werke, Bd. 2, Stuttgart 1951, 4.
Vgl. Fritz Schalk, Das goldene Zeitalter als Epoche, Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literatur 199 (1963), 85–98;
Hans Joachim Mähl, Die Idee des goldenen Zeitalters im Werk des Novalis. Studien zur Wesensbestimmung der frühromantischen Utopie und zu ihren ideengeschichtlichen Voraussetzungen, Heidelberg 1965.
Vgl. Reinhart Koselleck, Kritik und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Freiburg-München2 1969, bes. Kap. 2.
Eduard Fueter, Geschichte der neueren Historiographie, München und Berlin 1911, 349ff;
J. H. Brumfitt, Voltaire-Historian, Oxford 1958.
Conrad Wiedemann, »The Germans› Concern about their National Identity in the Pre-Romantic Era: An Answer to Montesquieu?« In: Peter Boerner (Hrsg.), Concepts of National Identity: An Interdisciplinary Dialogue, Baden-Baden 1986.
Zur Nationalgeist-Idee in Deutschland: Friedrich Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat, Hg. und eingeleitet von Hans Herzfeld, München 91969 (zuerst 1907);
Werner Krauss, Die französische Aufklärung im Spiegel der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts, Berlin 1963. XV–XXXVIII;
Conrad Wiedemann, »Germanistik als Nationalphilologie? Ein Räsonnement und eine geschichtliche These«, in: Heinz Schilling und Conrad Wiedemann (Hrsg.), Wes Geistes Wissenschaften? Zur Stellung der Geisteswissenschaften in Universität und Gesellschaft, Gießen 1989, 20–34.
Wilfried Barner, »Über das Negieren von Tradition. Zur Typologie literaturprogrammatischer Epochenwenden in Deutschland«. In: Reinhart Herzog und Reinhart Koselleck (Hrsg.), Epochenschwellen und Epochenbewußtsein, München 1987, 3–51.
Vgl. Renate Stauf, Justus Mösers Konzept einer deutschen Nationalidentität. Mit einem Ausblick auf Goethe, Tübingen 1991.
Vgl. Martin Disselkamp, Die Stadt der Gelehrten. Johann Joachim Winckelmanns Briefe aus Rom, Tübingen 1992.
Vgl. Gunter E. Grimm, Literatur und Gelehrtentum in Deutschland, Untersuchungen zum Wandel ihres Verhältnisses vom Humanismus bis zur Frühaufklärung, Tübingen 1983, bes. Kap. VII und »Ausblick«.
Die deutsche Gelehrtenrepublik, Erster Theil, (1774), in: Friedrich Gottlieb Klopstock, Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe, Abteilung Werke: VII, 1 hrsg. Rose-Marie Hurlebusch, Berlin, New York 1975.
Vgl. Hans-Jürgen Haferkorn, »Zur Entstehung der bürgerlich-literarischen Intelligenz und des Schriftstellers in Deutschland zwischen 1750 und 1800.« In: Bernd Lutz (Hrsg.), Deutsches Bürgertum und literarische Intelligenz 1750–1800, Stuttgart 1974, 113–275.
Vgl. Jürgen Wilke, Literarische Zeitschriften des 18. Jahrhunderts (1688–1789), Teil II: Repertorium, Stuttgart 1978, bes. Kap. 5.
Christoph Martin Wieland, Patriotischer Beytrag zu Deutschlands höchstem Flor. In: Sämtliche Werke Bd. 15, Leipzig 1795, S. 360. Der dortige Abdruck vereinigt die zwei im »Teutschen Merkur« 1780 und 1786 erschienenen Teile in einem. Das Zitat entstammt dem 1786 geschriebenen Teil. (Auskunft Frau Dr. Irmtraut Sahmland).
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Politische Schriften, hrsg. Hans Blumenberg u.a., Frankfurt a. M. 1966, S. 19, 23.
z. B. David Hume, Of National Characters, The Philosophical Works, ed. Green/Grose, Vol. 3, London 1882, 252.
Jürgen Fohrmann, Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte. Entstehung und Scheitern einer nationalen Poesiegeschichtsschreibung zwischen Humanismus und Deutschem Kaiserreich, Stuttgart 1989, 99–103.
Vgl. Klaus L. Berghahn, »Mit dem Rücken zum Publikum. Autonomie der Kunst und literarische öffentlichkeit in der Weimarer Klassik«. In: Revolution und Autonomie im Zeitalter der französischen Revolution. Hrsg. von Wolfgang Wittkowski, Tübingen 1990, 207–233.
Hölderlin, Sämtliche Werke, 6. Bd. hrsg. von Friedrich Beißner, Stuttgart 1954, 426.
Reinhard Bendix, »Relative Rückständigkeit und geistige Mobilisierung«, in: ders., Freiheit und historisches Schicksal. Heidelberger Max Weber-Vorlesungen 1981, Frankfurt a.M. 1982, 120–134.
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Wiedemann, C. (1993). Deutsche Klassik und nationale Identität. Eine Revision der Sonderwegs-Frage. In: Voßkamp, W. (eds) Klassik im Vergleich Normativität und Historizität europäischer Klassiken. Germanistische Symposien. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-05558-3_32
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