Zusammenfassung
Der Vergleich der großen Stadt Paris mit den Städten des Altertums, Babylon, Athen, Rom [1] ist ein seit der Neuzeit auch den Deutschen bekanntes literarisches Verfahren, das Außergewöhnliche der großen Stadt in die literaturvermittelte Vertrautheit überkommener Vorstellungsmuster einzuholen. Er ist in der französischen Literatur [2] Element jenes poetischen Parismythos, der, nach entschiedenen Prägungen durch Rousseau und Mercier im 18. Jahrhundert, im mittleren Drittel des 19. Jahrhunderts kulminiert. Lange Zeit halten sich Babylon- und Romvergleich im französischen Gebrauch die Waage; sie opponieren untereinander, umschließen aber in ihrer Gegenbildlichkeit die Einheit einer Stadterfahrung, die noch in der zweideutigen Rede Brentanos über die großen Städte als »Residenzen des Weltgeistes«[3] gegenwärtig ist: Paris ist einerseits verrufener Ort diesseitsverfallener, lockerer Sitten und sinnlicher Freuden; es ist andererseits Sitz der Musen und Gelehrsamkeit, der Künste und Wissenschaften, dem ergänzend zum Gedanken der ›translatio imperii‹ die ›translatio studii‹ zugesprochen wird, die »Übertragung der Wissenschaft« von Athen oder Rom nach Paris. [4] Noch für den reisenden Kavalier umfaßt Paris, die »Schule der Menschenkenntis« [5], beides; Künste und Mode, Kenntnis und Benehmen sind noch nicht moralisch unterschiedlich gewertet. Das ändert sich im Übergang von der Kavalierstour zur Bildungsreise. Mit steigenden bürgerlichen Sitten-, Bildungs- und Kulturerwartungen wird den deutschen Parisreisenden die Einheit von Intellektualität und Sinnlichkeit brüchig.
Des freien Teuts verlokte Söhne
Wie lange traut ihr noch der täuschenden Sirene,
Die an Lutetiens berufnem Strome lauscht,
Durch süßen Leichtsinn erst des Deutschen Ernst berauscht,
[…]
Wer bannt euch aus den offnen Toren?
Von unbeflekter Trift? wo ihr gesund geboren,
Und milder Sonne Strahl auf eure Häupter schien,
Wo Wissenschaft, Gesetz, und tausend Künste blühn?
Das Land, wo eure Ahnherrn stritten,
Ist rauh nicht mehr, hat Überfluß und Sitten!
Empfindungen eines Deutschen in Paris. Im Jahre 1773.
(Gedruckt 1790 in der Berlinischen Monatsschrift).
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Anmerkungen
Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Bern 41963, S. 38 u. S. 388.
Johann Gottfried Herder: Journal meiner Reise im Jahr 1769. In: Johann Gottfried Herder. Werke. Hrsg. v. Wolfgang Pross. Bd. 1, Darmstadt 1984, S. 420.
Z. B. Janus Eremita (d.i. Johann Christian Gretschel): Skizzen aus Paris. In: Kleine satirische Schriften. Leipzig 1804, S. 30: »Kurz, hier ist alles Täuschung, alles Heuchelei; jeder will hier etwas Andres scheinen als was er ist.«
Ludwig Börne: Paris, Fragment eines fingierten Briefes, 1819. In: Ludwig Börne. Sämtliche Schriften. Hrsg. v. Inge u. Peter Rippmann. Bd. 1, Düsseldorf 1964, S. 1183.
Wilhelm von Archenholz: England und Italien. Bd. 1, Leipzig 21787, S. 182f.
Vgl. Pierre-Paul Sagave: 1871. Berlin-Paris. Reichshauptstadt und Hauptstadt der Welt. Frankfurt 1971, S. 194.
Josef Nadler: Literaturgeschichte des Deutschen Volkes. Dichtung und Schriftum der deutschen Stämme und Landschaften. Bd. 3, Berlin 1938, S. 49.
Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. Hrsg. v. Karl Vorländer. Hamburg 1924, (§ 29. Allgem. Anmerkung), S. 119.
Georg Friedrich Rebmann: Holland und Frankreich in Briefen geschrieben auf einer Reise von der Niederelbe nach Paris im Jahr 1796. Teil 2, Paris/Köln o.J., S. 149. In der von Hedwig Voegt, Berlin 1981 besorgten Ausgabe vgl. S. 242.
Joachim Heinrich Campe: Briefe aus Paris zur Zeit der Revolution geschrieben. Braunschweig 1790, S. 1.
Joseph Görres: Resultate meiner Sendung nach Paris (1800). In: Joseph Görres: Gesammelte Schriften. Hrsg. v. Wilhelm Schellberg. Bd. 1, Köln 1928, S. 572.
Georg Friedrich Rebmann: Zeichnungen zu einem Gemälde des jetzigen Zustandes von Paris. Bd. 1, Altona 1798, S. 83ff.
Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. In: Friedrich Schiller: Sämtliche Werke. Hrsg. v. Gerhard Fricke u. Herbert G. Göpfert, Bd. 5, München 41967, S. 580.
Friedrich Johann Lorenz Meyer: Fragmente aus Paris im IVten Jahr der französischen Republik. Hamburg 1797, S. 280.
Werner Krauss/Hans Kortum: Antike und Moderne in der Literaturdiskussion des 18. Jahrhunderts. Berlin 1966, S. LXII.
Johann Wolfgang Goethe: Maximen und Reflexionen. In: Goethes Werke. Hamburg 51963 (Hamburger Ausgabe), S. 416.
Heinz Schlaffer: Tragik und Komik der Mode. Ansichten der Kleidung im 19. Jahrhundert. In: Akzente 31 (1984), S. 278.
Friedrich Johann Lorenz Meyer: Briefe aus der Hauptstadt und dem innern Frankreichs. Bd. 1, Tübingen 1803, S. 121.
Ludwig Tieck: William Lovell. In: Ludwig Tieck: Frühe Erzählungen und Romane. Hrsg. v. Marianne Thalmann. Bd. 1, Darmstadt 1973, S. 268.
Karl Gutzkow: Briefe aus Paris 1842. In: Karl Gutzkow: Gesammelte Werke. Bd. 12, Frankfurt 1846, S. 84.
Karl August Varnhagen von Ense: Aufenthalt in Paris. 1810. In: Varnhagen: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Neue Folge. Bd. 3, Leipzig 1846, S. 58.
Johann Wilhelm von Archenholz: Über die Verpflanzung großer Kunstwerke aus Italien nach Frankreich. In: Minerva. Hrsg. v. W. v. Archenholz. Bd. 3, Jena 1796, S. 201.
Carl Gustav Carus: Paris und die Rheingegenden. Tagebuch einer Reise im Jahre 1835. Teil 1, Leipzig 1836, S. 160.
Eduard Gans: Rezension von Michelet: Introduction à l’histoire universelle. In: Jahrbuch für wissenschaftliche Kritik. (1832), S. 150.
Theodor Mundt: Madonna. Unterhaltungen mit einer Heiligen. Leipzig 1835, S. 262.
Vgl. Wolfgang Preisendanz: Der Funktionsübergang von Dichtung und Publizistik bei Heine. In: Die nicht mehr schönen Künste. Hrsg. v. Hans Robert Jauß, München 1968, S. 374.
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Oesterle, I. (1988). Paris — das moderne Rom?. In: Wiedemann, C. (eds) Rom-Paris-London. Germanistische Symposien Berichtsbände. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-05555-2_25
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