Zusammenfassung
Die folgenden Seiten sind als kleiner Beitrag zu einem noch kaum absehbaren Thema gegenwärtiger Forschung gedacht. Soviel über Allegorie vor und nach der Schwelle zwischen der antiken und der christlichen Ära über ihre lebensweltlichen, religiösen und poetischen Funktionen ans Licht gebracht wurde, sowenig wissen wir noch über ihre Nachgeschichte in der neueren Literatur, wo sie bekanntlich im schlechten Ansehen einer Verfallsgeschichte steht. Zwar kann auch die seit C. S. Lewis, W. Benjamin und H. G. Gadamer begonnene Rehabilitierung der Allegorie nicht an ihrem faktisch fortschreitenden Niedergang seit Renaissance und Reformation rütteln. Doch gewinnt gerade auch dieser Prozeß wieder neues Interesse, sobald man ihn als eine eigentümlich gebrochene Rezeptionsgeschichte untersucht, die sich in die substantialistische Anschauungsform eines kontinuierlichen ›Nachlebens‹ so gar nicht fügt. Als einer der Stammväter moderner Lyrik, Charles Baudelaire, bei seiner Abkehr vom Subjektivismus und Symbolismus der Romantik ganz unerwartet auf die Allegorie zurückgriff, war sie aus der Dichtung so gut wie verschwunden und auch in den bildenden Künsten — wie aus dem Motto erhellt — durch den Akademismus mediokrer Maler, die sie noch gebrauchten, in Verruf geraten. Was der Verfasser der ›Fleurs du Mal‹ (1857) in diesem »genre si spirituel« wiederentdeckte und auf seine Weise in Gebrauch nahm, ist gewiß nicht aus einem Studium mittelalterlicher Dichtung geschöpft, sondern vermutlich der Bekanntschaft des Kunstkritikers mit allegorischen Bildwerken zu verdanken. Gleichwohl ist Baudelaires Rückgriff auf die von den Romantikern verachtete Allegorie, die er provokativ als »eine der ursprünglichsten und natürlichsten Formen der Poesie« rühmte, als eine Wende in der Geschichte der ästhetischen Erfahrung am schärfsten zu erfassen, wenn man den modernen Gebrauch des allegorischen Verfahrens von seinen Gipfelformen in der Literatur des Mittelalters abhebt. [2]
L’allégorie, ce genre si spirituel, que les peintres maladroits nous ont accoutumés à mépriser, mais qui est vraiment l’une des formes primitives et les plus naturelles de la poésie, reprend sa domination légitime dans l’intelligence illuminée par l’ivresse (Charles Baudelaire, 1858). [1]
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Jauss, H.R. (1979). Baudelaires Rückgriff auf die Allegorie. In: Haug, W. (eds) Formen und Funktionen der Allegorie. Germanistische Symposien Berichtsbände. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-05550-7_38
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DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-476-05550-7_38
Publisher Name: J.B. Metzler, Stuttgart
Print ISBN: 978-3-476-00418-5
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