Zusammenfassung
Auch wenn man nicht davon sprechen kann, dass das 18. Jahrhundert den Mythos des Erzzauberers aus den Augen verloren hätte – eine Linie fortschreitender Degradierung und Diskreditierung des Stoffes ist zunächst unverkennbar. Schon das Schicksal des jüngsten Stadiums der Faust-Bücher, das frühaufklärerische Büchlein des Christlich Meynenden von 1725, stellt nur eine sehr schlichte Auswahl der Überlieferung bereit, auf gerade einmal 46 Seiten ist für die theologische Disputation kaum mehr Platz, und der Gestus, mit dem Faust als kuriose Gestalt ferner Zeiten vorgestellt wird, spricht für die historisierende Überlegenheit gegenüber dem Mythos. Er wird auch nicht unmittelbar aus der Historia (1587) gewonnen, sondern der biedere Christlich Meynende beschränkt sich auf eine Reduktion von Pfitzers umfangreicher Version (1674). Aber gleichwohl wird das Büchlein zu einem Bestseller des 18. Jahrhunderts, es erlebt dreißig Auflagen, vermutlich gerade aufgrund der »gedanklich-philosophischtheologischen Inkonsequenz« (Mahal 1983, 129), die anzeigt, dass der Faust-Mythos ins Stadium des rationalistischen Kreditverlustes eingetreten ist. Eine der markantesten Stimmen dieser Degradierung ist immerhin diejenige von Johann Christoph Gottsched, des einflussreichen Literaturtheoretikers der Frühaufklärung. Im Kapitel »Von dem Wunderbaren in der Poesie« aus dem voluminösen Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen (1730, 1751) setzt er sich mit dem Verhältnis des Wahrscheinlichen und Möglichen in der Literatur auseinander, vor dem Hintergrund der von ihm unbezweifelten Tatsache, dass die Welt »nunmehro viel aufgeklaͤrter« sei (Gottsched 1973, 239), sodass Wunder und Zauber auf keine Glaubwürdigkeit mehr stießen: »Das Maͤhrchen von D. Fausten«, so urteilt Gottsched, »hat lange genug den Poͤbel belustiget: Und man hat ziemlicher maßen aufgehoͤrt, solche Alfanzereyen gerne anzusehen.« (Ebd., 241) Ganz konkret mochte Gottsched bei dieser Aburteilung die Beliebtheit des Stoffes auf der Bühne der Puppenspiele vor Augen gestanden haben, die den Stoff als sozial deklassierte Erfolgsgeschichte im Erbe der englischen Wandertruppen (die Marlowes Doctor Faustus seit Anfang des 17. Jahrhunderts auf dem Kontinent gespielt hatten) lebendig gehalten hatte, sodass wohl Lessing und der junge Goethe diese Tradition kennenlernen konnten.
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Literatur
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Mayer, M. (2018). Literatur. In: Rohde, C., Valk, T., Mayer, M. (eds) Faust-Handbuch. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-05363-3_18
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