Zusammenfassung
Dass Goethes Faust im Zeichen von Gelehrtenmelancholie steht und mit ihm der intellektuelle Melancholiker par excellence die kulturgeschichtliche Bühne betritt, ist Gemeinplatz der Forschung (zuletzt Valk 2002, 290–295). Ebenso einschlägig bekannt ist der Befund, dass sich dies für die Beispiele der Vormoderne, die Faust-Texte des 16. bis 18. Jahrhunderts, als weniger eindeutig erweist und deutlich differenzierterer Betrachtung bedarf (zuletzt Münkler 2011). Wenn es also von Faustus im Faust-Buch von 1587 heißt, dass er nach dem Gespräch mit dem Teufel »gantz Melancholisch vom Geist hinweg« ging und »gar Verwirret vnd Zweiffelhafftig« (Historia 1999, 42) wurde, stellt sich die Frage nach der zugrunde liegenden Konzeptualisierung und historischen Semantisierung von Melancholie. Zum einen weist der Begriff der Melancholie eine große Polysemie auf, indem er gerade ab der Mitte des 16. Jahrhunderts innerhalb eines breiten Bedeutungsspektrums zwischen Krankheit, Disposition und Stimmung mit teils gegenteiligen Bewertungen oszilliert und sowohl im gelehrten Diskurs als auch in populärer Kultur verhandelt wird. Zum anderen wird er innerhalb der textuellen Realisierungen des Faust-Stoffes vom 16. bis 18. Jahrhundert selbst unterschiedlich semantisiert und zeigt von der frühen Historia im Druck von Johann Spieß (1587) über die späteren Literarisierungen und Bearbeitungen wie dem englischen Faust Book und der Tragicall History of the Life and Death of Doctor Faustus von Christopher Marlowe (gedr. 1604/16) bis zum Christlich Meynenden (1725) beträchtliche Variationen. Die Frage nach der Bedeutung von Melancholie für die vormodernen Faust-Figurationen in stoff- und diskursgeschichtlicher Hinsicht erfordert damit zunächst die historisch-semantische Klärung von ›Melancholie‹ und ›melancholisch‹, um Verbindungen, Realisierungen und Funktionalisierungen in den frühen Faust-Texten aufzuzeigen.
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Wittstock, A. (2018). Melancholie. In: Rohde, C., Valk, T., Mayer, M. (eds) Faust-Handbuch. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-05363-3_14
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