Zusammenfassung
»Die ›Liebe‹ als große sinnlich-seelische Leidenschaft zwischen den Geschlechtern ist für den Dichter Brecht offenbar kein zentrales Thema gewesen«, schreibt Franz Norbert Mennemeier. Zwar habe der Autor durchaus auch Liebesgedichte verfasst, doch im Rahmen seines Gesamtwerks komme ihnen lediglich der Rang von »Nebenarbeiten« zu.1 Eine solche Einschätzung klingt zunächst plausibel, da man mit dem Namen Bertolt Brecht eher das öffentliche, politische und gesellschaftskritische Engagement als die Beschäftigung mit der vermeintlich privatesten Angelegenheit des menschlichen Daseins assoziiert. Gleichwohl führt Mennemeiers These in die Irre — schon deshalb, weil sie ihren Gegenstand zu eng fasst. Die Beziehungen zwischen den Geschlechtern haben Brecht in einer Vielzahl lyrischer Werke aus sämtlichen Phasen seines Schaffens beschäftigt, doch er reduziert sie nicht auf jene »große sinnlich-seelische Leidenschaft«, als die man die Liebe im Gefolge einer schwärmerisch-romantischen Tradition heute in der Regel begreift. So bringt er oft genug bloße sexuelle Begierden und Erfahrungen zur Sprache, die keineswegs an tiefe oder gar ›ewige‹ Gefühle für einen ganz bestimmten anderen Menschen geknüpft sind. Aber selbst die nützliche Unterscheidung zwischen Liebes- und Sexgedichten2 ist noch viel zu grob, als dass sie den Facettenreichtum seiner einschlägigen Dichtungen erfassen könnte, deren Bandbreite von drastischen, in der Rezeption vielfach pornographisch gescholtenen Texten über kunstvoll gestaltete erotische Verse und lehrhafte Reflexionen bis hin zu zarten, innigen Liebesgedichten reicht. Die im Folgenden näher betrachteten Beispiele sollen den verblüffenden Reichtum dieses Themenfeldes illustrieren. Sie werden darüber hinaus sichtbar machen, dass Brechts Lyrik über Liebe, Sexualität und Erotik sogar in noch höherem Maße, als das sonst bei seinen Gedichten der Fall ist, aus dem produktiven, oftmals kritisch-polemischen Dialog mit Denkmustern, Formen und Redeweisen der literarischen Tradition hervorgeht.3
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Notes
Franz Norbert Mennemeier: Bertolt Brechts Lyrik. Aspekte, Tendenzen. Berlin 21998, S. 53.
Arnold Stadler: Das Buch der Psalmen und die deutschsprachige Lyrik des 20. Jahrhunderts. Zu den Psalmen im Werk Bertolt Brechts und Paul Celans. Köln u. a. 1989, S. 50.
Christine Arendt: Natur und Liebe in der frühen Lyrik Brechts. Frankfurt a. M. u. a. 2001, S. 246. 14 Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. 4. München 1980, S. 85: »bitter ist auch noch das süsseste Weib.«
Peter Wapnewski: Entdeckung an einer jungen Frau. In: Ausgewählte Gedichte Brechts mit Interpretationen. Hrsg. von Walter Hinck. Frankfurt a. M. 1978, S. 24–28, hier S. 27.
Klaus Schuhmann: Der Lyriker Bertolt Brecht. 1913–1933 [1964]. Berlin (Ost) 1964, S. 188.
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Kittstein, U. (2012). Von Kranichen und Huren: Gedichte über Liebe und Sexualität. In: Das lyrische Werk Bertolt Brechts. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-05340-4_5
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