Zusammenfassung
Erzählen ist eine grundlegende Form unseres Zugriffs auf Wirklichkeit. In den verschiedensten Bereichen der alltäglichen Lebenswelt und nicht zuletzt auf den Gebieten wissenschaftlicher Erkenntnis orientieren und verständigen wir uns mit Hilfe von Erzählungen. Reportagen des investigativen Journalismus, Selbstdarstellungen von Politikern im Wahlkampf, Erlebnisberichte in Internetblogs, Anamnesen im medizinischen Patientengespräch, Plädoyers vor Gericht, Vermittlungen von Verhaltensnormen in populärer Ratgeberliteratur, Heilserzählungen im Gottesdienst, Fallgeschichten in juristischen Lehrbüchern, ökonomische Prognosen von Kursverläufen — all diese Kommunikationen erfolgen wesentlich in erzählender Form. Anders als in den erfundenen Geschichten der Literatur bezieht man sich in diesen Erzählungen direkt auf unsere konkrete Wirklichkeit und trifft Aussagen mit einem spezifischen Geltungsanspruch: ›So ist es (gewesen)‹.1 Solche Erzählungen mit unmittelbarem Bezug auf die konkrete außersprachliche Realität nennen wir Wirklichkeitserzählungen.
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Anmerkungen
Vgl. zur ›Panfiktionalismus‹-Debatte z.B.: Peter Blume: Fiktion und Weltwissen. Der Beitrag nichtfiktionaler Konzepte zur Sinnkonstitution fiktionaler Erzählliteratur, Berlin 2004, S. 12–16.
Der Terminus ›faktuale Erzählung‹ (bzw. ›récit factuel‹) wurde eingeführt von Gérard Genette: Fiktion und Diktion, München 1992, S. 11–40.
Zur Unterscheidung von ›fiktional‹ und ›fiktiv‹ vgl. Frank Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft, Berlin 2001, insb. S. 61–68;
Matías Martínez/Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie, 7. Aufl., München 2007, S. 9–20.
Dieter Janik: Die Kommunikationsstruktur des Erzählwerks. Ein semiologisches Modell, Bebenhausen 1973, S. 12.
Genette (Anm. 4), S. 78; Philippe Lejeune: Der autobiographische Pakt, Frankfurt a.M. 1994.
Vgl. Matías Martínez: »Allwissendes Erzählen«, in: Manfred Engel/Rüdiger Zymner (Hg.): Anthropologie der Literatur, Paderborn 2004, S. 139–154.
Vgl. Irmgard Nickel-Bacon/Norbert Groeben/Margit Schreier: »Fiktionssignale pragmatisch. Ein medienübergeifendes Modell zur Unterscheidung von Fiktion(en) und Realität(en)«, Poetica 32 (2000), Heft 3/4, S. 267–299, und Meike Herrmann: Fiktionalität gegen den Strich lesen. Was kann die Fiktionstheorie zu einer Poetik des Sachbuchs beitragen? Reihe Arbeitsblätter für die Sachbuchforschung, Nr. 7. (als Download unter http://www.sachbuchforschung.de/html/literatur.html, Aufruf 15.5.09). Umfangreichere kontrastive Untersuchungen über die Unterschiede zwischen fiktionalem und nicht-fiktionalem Erzählen aus pragmatischer Perspektive stehen noch aus.
Aleida Assmann: »Fiktion als Differenz«, Poetica 21 (1989), S. 239–260, hier: S. 240.
Hermann Gunkel: »Die israelitische Literatur« [1906], in: Ders.: Hermann Gunkel zur israelitischen Literatur und Literaturgeschichte, hg. v. Rüdiger Liwak, Waltrop 2004, S. 1–60, hier: S. 3.
Vgl. Andreas Wagner: »Gattung und ›Sitz im Leben‹. Zur Bedeutung der formgeschichtlichen Arbeit Hermann Gunkels (1862–1932) für das Verstehen der sprachlichen Größe Text«, in: Susanne Michaelis/Doris Tophinke (Hg.): Texte — Konstitution, Verarbeitung, Typik. München/Newcastle 1996, S. 117–129.
André Jolles: Einfache Formen. Legende — Sage — Mythe — Rätsel — Spruch — Kasus — Memorabile — Märchen — Witz, Halle 1930. Von den neun Einfachen Formen sind zwei, Rätsel und Spruch, keine narrativen Gattungen.
Hans Robert Jauß: »Alterität und Modernität der mittelalterlichen Literatur«, in: Ders.: Alterität und Modernität der mittelalterlichen Literatur. Gesammelte Aufsätze 1956–76, München 1977, S. 9–48, hier: S. 39 u. 41.
Vgl. Ulla Fix: »Was ist aus André Jolles’ ›Einfachen Formen‹ heute geworden? Eine kulturanalytische und textlinguistische Betrachtung«, in: Volker Hertel (Hg.): Sprache und Kommunikation im Kulturkontext, Fs. Gotthard Lerchner, Frankfurt a.M. 1996, S. 105–120.
Thomas Luckmann: »Der kommunikative Aufbau der sozialen Welt und die Sozialwissenschaften« [1995], in: Ders.: Wissen und Gesellschaft. Ausgewählte Aufsätze 1981–2002, Konstanz 2002, S. 157–181, hier: S. 165; Ders.: »Grundformen der gesellschaftlichen Vermittlung des Wissens: Kommunikative Gattungen«, in: Friedhelm Neidhardt u.a. (Hg.): Kultur und Gesellschaft, Opladen 1986, S. 191–211;
Susanne Günthner: »Von Konstruktionen zu kommunikativen Gattungen. Die Relevanz sedimentierter Muster für die Ausführung kommunikativer Aufgaben«, Deutsche Sprache 34 (2006), S. 173–190.
Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, Frankfurt a.M. 1999, S. 253.
Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a.M. 1987, S. 194f.
Vgl. zum Konzept der verschiedenen Kapitalsorten auch: Pierre Bourdieu: »Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital«, in: Reinhard Kreckel (Hg.): Soziale Ungleichheiten, Göttingen 1983, S. 183–198.
Vgl. hierzu einführend: Niklas Luhmann: »Gesellschaftliche Struktur und semantische Tradition«, in: Ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1980, S. 9–71.
Niklas Luhmann: Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1995.
Jost Bauch: Gesundheit als sozialer Code. Von der Vergesellschaftung des Gesundheitswesens zur Medikalisierung der Gesellschaft, Weinheim/München 1996, hier: S. 12ff.
Niklas Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1992.
Niklas Luhmann: Die Wirtschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1994.
Niklas Luhmann: Die Moral der Gesellschaft, hg. v. Detlef Horster, Frankfurt a.M. 2008.
Maja Malik: Journalismusjournalismus. Funktion, Strukturen und Strategien der jounalistischen Selbst-thematisierung, Wiesbaden 2004, S. 35–56.
Niklas Luhmann: Die Religion der Gesellschaft, hg. v. André Kieserling, Frankfurt a.M. 2002.
Niklas Luhmann: Die Politik der Gesellschaft, hg. v. André Kieserling, Frankfurt a.M. 2002.
Vgl. zum Folgenden: Gérard Genette: Die Erzählung, München 1994, und Martínez/Scheffel (Anm. 4), Kap. II.1–3 (S. 27–89).
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Klein, C., Martínez, M. (2009). Wirklichkeitserzählungen. Felder, Formen und Funktionen nicht-literarischen Erzählens. In: Klein, C., Martínez, M. (eds) Wirklichkeitserzählungen. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-05228-5_1
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DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-476-05228-5_1
Publisher Name: J.B. Metzler, Stuttgart
Print ISBN: 978-3-476-02250-9
Online ISBN: 978-3-476-05228-5
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