Zusammenfassung
Gegenüber dem Bildungsbegriff entwickelte sich wissenschaftsgeschichtlich die Sozialisationstheorie zum einen aus der psychologischen Auffassung, der Mensch sei „entwicklungsfähig, plastisch und prinzipiell stark von seiner Umwelt abhängig“, zum anderen aus der naturwissenschaftlichen Legitimation empirischer Methoden der Sozialwissenschaften und schließlich aus dem Evolutionsgedanken des 19 Jahrhunderts. Diese Entwicklung wird im Beitrag rekonstruiert und mit der Reflexionskategorie des ‚Selbst‘, wie sie sich insbesondere in der Philosophischen Anthropologie und der Phänomenologie herausgebildet hat, diskutiert, dann über einige strukturelle Rahmenbedingungen von Bildungsprozessen weiter differenziert.
Das Faktum menschlicher Pluralität […] manifestiert sich auf zweierlei Art, als Gleichheit und als Verschiedenheit. Ohne Gleichartigkeit gäbe es keine Verständigung unter Lebenden, kein Verstehen der Toten und kein Planen für eine Welt, die nicht mehr von uns, aber doch immer noch von unseresgleichen bevölkert sein wird. Ohne Verschiedenheit, das absolute Unterschiedensein jeder Person von jeder anderen, die ist, war oder sein wird, bedürfte es weder der Sprache noch des Handelns für eine Verständigung […], mit der wir diese Verschiedenheit aktiv zum Ausdruck (bringen), [um uns] von anderen zu unterscheiden und uns selbst mitzuteilen. (Arendt 1981, S. 164 f.)
Gleichheit und Verschiedenheit in unserem Sprechen und Handeln zum Austrag zu bringen und darin Pluralität, Freiheit und Möglichkeiten unterschiedlicher Lebensentwürfe in menschlicher Gemeinschaft zu realisieren, stellt sich als Aufgabe für Bildung wie auch der Sozialisation in unseren gesellschaftlichen Institutionen, dem „Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten“ (Arendt 1981, S. 171 ff.)
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Notes
- 1.
Was im Deutschen durchgängig mit ‚Identität‘ übersetzt wird (vgl. dazu Ricken 2002, S. 337 f.).
- 2.
Eine Dokumentation dieser mit Zinneckers Beitrag aus dem Jahr 2000 begonnenen Debatte findet sich in der Zeitschrift f. Soziologie d. Erziehung u. Sozialisation, 22. Jahrgang, Heft 2/2002: Beiträge von D. Geulen, J, Zinnecker, U. Bauer, K. Hurrelmann, H. Veit, L. Krappmann.
- 3.
„Diese Operationen sind nicht ‚lehrbar’. Lehrbar und demonstrierbar sind nur die Problemstellungen. […] Problemlösung bedeutet für das Kind ‚Sinn’ insofern, als ihm daraus eine Kompetenz erwächst, es anders ist, es mehr kann, es beteiligter wird als vordem“ (Mollenhauer 2003, S. 115).
- 4.
Reflexionskategorien „dürfen keinen abschließend-theoretischen, sondern nur einen aufschließend-exponierenden Wert beanspruchen. ‚Der‘ Mensch (seiner Species nach) bildet zwar ihre Leitkategorie, aber nicht zum Zweck einer Klassifikation, sondern der Sicherung seiner Unergründlichkeit“ (Plessner 1937, S. 39).
- 5.
Zu dem Konzept der Selbstgestaltung in der existenziellen Bildungsphilosophie s. Hilt 2005b.
- 6.
Vgl. hierzu Plessners Konzeption des ‚Kategorischen Konjunktivs‘: Was er nicht sei, zeige sich dem Menschen konjunktivisch, nicht nur als indikative Möglichkeit, dass etwas noch nicht sei, sondern sein werde: Der Konjunktiv schaffe einen Spielraum im Möglichen, dass nämlich das indikativ Mögliche auch anders sein könnte (Plessner 1968, insbesondere, S. 347 f.). Vgl. Hilt 2011.
- 7.
Vgl. oben, FN 3.
- 8.
Vgl. zu dieser Einschätzung Honneth (1994, S. 114), der für die Sozialpsychologie G.H. Meads festhält, sie beinhalte bis heute die geeignetsten Mittel, um die spekulativen intersubjektivitätstheoretischen Annahmen des transzendentalphilosophischen Idealismus in einem nachmetaphysischen Theorierahmen zu rekonstruieren.
- 9.
Zur exemplarischen Entwicklung dieser phänomenologisch-hermeneutischen Anthropologie bei Plessner vgl. Hilt (2005a).
- 10.
Auch W. Winnicott hat dies in seinem Modell der Übergangsphänomene und -objekte beschrieben, was jedoch als psychotherapeutisches nicht auf die Pädagogik schlicht zu übertragen ist, sondern auf deren eigene Ziele (Mündigkeit) und Ausgangspunkte (Kompetenzen und die Situation des Lernens als Umlernen in unterschiedlichen Stadien der Entwicklung) appliziert werden muss (vgl. zu diesem Desiderat Sesink 2002).
- 11.
Dabei wird Autonomie hier nicht nur im Sinne einer Freiheit des Handelns gesehen, sondern auch in der diese Freiheit erst konstituierenden Erfahrung der Unbestimmtheit des Spielraums von Urteilen-, Handeln- und Entscheidenkönnen (vgl. Hilt 2008, S. 134 f.).
- 12.
In der Entwicklungspsychologie hat gerade D. W. Winnicott diese Transformations- als Übergangsprozesse beschrieben: als Gestaltung potenzieller Räume „zwischen innere(r), persönliche(r) psychische(r) Realität und wirkliche(r), äußere(r) Welt“ (vgl. Winnicott 1973, S. 119), die auch auf die narrative Gestaltung übertragen werden kann.
- 13.
Vgl. zur Verbindung des hypothetischen Konjunktivs mit der Einbildungskraft und ihrer sprachlichen Manifestation: Plessner (1968), S. 348.
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Hilt, A. (2020). Das bildsame Selbst – Phänomenologisch-Anthropologische Überlegungen zu einer bildungstheoretischen Reflexionskategorie. In: Thein, C. (eds) Philosophische Bildung und Didaktik. Ethik und Bildung. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-05171-4_5
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