Zusammenfassung
Wer etwas erzählt, vergegenwärtigt nicht nur ein vergangenes Geschehen, er verwandelt es auch. Im und durchs Erzählen erhalten die berichteten Vorfälle eine übersichtliche und zusammenhängende Gestalt. Aus einzelnen Ereignissen entsteht eine Wirklichkeit mit zielgerichtetem Verlauf; das zunehmend Ferne und Diffuse des Vergangenen erhält ein griffiges Format und das bloß Faktische einen beziehungsreichen Sinn. Das gilt für das Erzählen in vielen, auch außerliterarischen Situationen und in unterschiedlichen Zeiten, und es bestätigt sich in der zweiten Hälfte des 19. Jh.s in besonderem Maße, bevor die Moderne dieses Verfahren der Ordnungsstiftung aufkündigt. Wer erzählt, ›spiegelt‹ nicht nur wider, was er ›vorher‹ erlebt hat, sondern macht aus Erfahrungen Geschichten, die eine geordnete und nach erzählerischen Prinzipien ›justierte‹ Welt in Erinnerung bringen, während vieles, was unerzählt vor Augen liegt, auseinanderfällt. Das hängt mit der sinnstiftenden Kraft des Erzählens zusammen, die sich solange bewähren konnte, bis sie von der Erzählkrise in der Moderne empfindlich gestört wurde. Aber auch dieser Abbau der epischen Ordnung, ihres festen Zusammenhalts bzw. ihrer verlässlichen Zentrierung, und die Ersetzung des überblickenden Erzählens durch inszenierende Techniken des Bewusstseinsstroms haben das Erzählen auf die Dauer nicht einfach verdrängen können, sondern angesichts moderner Erfahrungen wie etwa dem Holocaust auch wieder notwendig gemacht.
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Aust, H. (2006). Erzählliteratur. In: Realismus. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-05033-5_3
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DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-476-05033-5_3
Publisher Name: J.B. Metzler, Stuttgart
Print ISBN: 978-3-476-01864-9
Online ISBN: 978-3-476-05033-5
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