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Narrative Selbstbezüglichkeiten des Menschen. Perspektiven Philosophischer und literarischer Anthropologie anhand von Beispielanalysen zur Gegenwartsliteratur

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Mensch und Erzählung

Part of the book series: Schriften zur Weltliteratur/Studies on World Literature ((SWSWL,volume 9))

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Zusammenfassung

Im 6. Kapitel werden die erarbeiteten Interpretationsansätze auf literaturanalytischer Ebene anhand von drei Beispielanalysen zur Gegenwartsliteratur einerseits überprüft und andererseits durch die Verbindung mit aktuellen literaturtheoretischen und anthropologischen Fragestellungen weiter spezifiziert. Dies soll – zumindest ausschnitthaft und probeweise – ihre Übertragbarkeit auf und Anwendbarkeit in anderen literarischen Genres und literaturwissenschaftlichen Kontexten vor Augen führen. Quasi leitmotivisch können hierfür die nur in vermeintlich paradoxer Weise formulierten drei anthropologischen Grundgesetze Plessners jeweils wie Sonden fungieren, mit denen sich gegenwärtige Formen des literarischen Erzählens vor allem hinsichtlich ihrer impliziten und expliziten Anthropologien erkunden lassen. Dafür werden in explorativer Weise die drei für das menschliche Selbstbild je zentralen Koordinaten Zeit, Raum und Selbst in den jeweiligen narrativen Fassungen der Texte thematisiert.

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Notes

  1. 1.

    Auch Bronner führt das bekannte Zitat Musils als Motto an, das sich auf den gesamten Roman beziehen lässt. In diesem gehe es „um die Wirklichkeit als Möglichkeit, also um eine grundsätzliche Infragestellung der ontologischen Faktizität von Ereignissen, seien sie politischer oder auch subjektiver Natur“ (Bronner 2012: 269, Anm. 4). Demzufolge würden Möglichkeit und Wirklichkeit „in einem ontologischen Sinne in denselben Rang erhoben“ (ebd., 301). In der folgenden Interpretation geht es hingegen um die Frage nach der Verortbarkeit des Möglichkeitssinns auf der Handlungsebene. Auch die Frage nach dem „Kern des Menschen“ (ebd., 5) wird hier nicht vor dem Hintergrund poststrukturalistischer Theorieansätze, sondern aus der Perspektive philosophischer Anthropologie thematisiert.

  2. 2.

    Dass das Erzählen von Möglichkeiten anthropologisch verstanden werden kann und die mit ihm verbundene und ermöglichte Erfahrung von Freiheit im literarischen Text dann auch auf den Rezipienten zurückwirkt, wird von Ulrichs (2011: 478) ausgeführt: „Der Entwurf von möglichen Welten im Roman ist Ausdruck unseres In-der-Welt-Seins als Möglichkeitswesen; die Autonomie der möglichen Welten im literarischen Werk aber wirkt auf die Rezeption zurück, indem sie, unter der Präsupposition der Freiheit des Rezipienten, diesem einen Möglichkeitshorizont eröffnet“.

  3. 3.

    Diesbezüglich führt der Tagtraum beim Protagonisten auch zu einer melancholischen Betrachtung der eigenen Lebensgeschichte, die ebenso den Weg zu einem alternativen Wirklichkeitsbild ebnet. Siehe dazu auch die Ausführungen von Fritzsche (2012) bezüglich des Verhältnisses von Melancholie und Geschichtsbetrachtung, in denen es heißt: „The tragic or melancholic mode of history, written in the register of loss, […] keeps alive possibility and alternatives to the present“ (ebd., 103). Melancholie erscheint hierbei auch als Medium der Konservierung von Erinnerung (ebd., 100).

  4. 4.

    Zum damit verbundenen Kulturbegriff siehe Hofstede (1997).

  5. 5.

    Zur aus dem Konzept des Menschen als eines Mängelwesens entwickelten – und anti-melancholisch ausgerichteten (Lepenies 1998: 234) – Institutionenlehre siehe Gehlen (1956: 100): „Die Institutionen einer Gesellschaft sind es also, welche das Handeln nach außen und das Verhalten gegeneinander auf Dauer stellen; auch die höchsten geistigen Synthesen, die ‚idées directrices‘, dauern nur so lange, wie die Institutionen, in denen sie gelebt werden. Diese Stabilisierung besteht darin, daß die Menschen sich je zu ganz bestimmten, vereinseitigten, perspektivischen Inhalten der Außenwelt, ihrer eigenen menschlichen Natur und ihrer Denkbarkeiten entscheiden, und daß sie diese Entscheidungen eben durch die Institutionen hindurch festhalten“.

  6. 6.

    Inwiefern dies selbst wiederum als Teil eines ideologischen Programms erscheinen kann, soll hier nicht diskutiert werden.

  7. 7.

    So Dath im Interview unter http://www.cyrusgolden.de, aufgerufen am 24.09.2016.

  8. 8.

    Damit gestaltet der Roman zugleich auch die wissenschaftsgeschichtliche Fraglichwerdung der menschlichen Sonderstellung, mit der sich nicht zuletzt auch die literarische Anthropologie konfrontiert sieht. So schreibt bspw. Eibl (2009: 23): „Es gibt eine ganze Reihe von Eigenschaften des Menschen, an denen man seine Besonderheit festmachen wollte, etwa die Werkzeugherstellung, die nackte Haut, den aufrechten Gang etc. Aber immer wieder zeigte sich, daß die betreffende Fähigkeit jedenfalls in Ansätzen schon im Tierreich aufzufinden ist“.

  9. 9.

    Hier greift im Übrigen auch ein Satz von Waldenfels, dem zufolge ein Löwe dann, wenn er sich selbst als Löwe ansprechen und bezeichnen würde, schon wiederum ein Mensch wäre, da er damit eine grundsätzliche Abstandnahme zu sich selbst realisiert (Waldenfels 2000: 200). Zum Konzept des Menschen als eines Wesens der Distanznahme siehe auch Blumenberg (2006) und dazu insbesondere den Aufsatz von Klein (2009). Ihren Ausdruck findet diese anthropologische Struktur der Distanznahme auch im Begriff der exzentrischen Positionalität bei Plessner.

  10. 10.

    So etwa auch in den demografischen Hochrechnungen der Vereinten Nationen, die einen Mitte des 20. Jahrhunderts beginnenden rapiden Anstieg der urbanen Weltbevölkerung feststellen und für das Jahr 2050 prognostizieren, dass ca. 68 Prozent der Menschen in urbanen Räumen leben würden. Innerhalb von 100 Jahren hätte sich damit das Verhältnis zwischen urbaner und ruraler Bevölkerung umgekehrt; lebten doch im Jahr 1950 gerade einmal ca. 30 Prozent der Weltbevölkerung in urbanen Räumen (vgl. United Nations 2018).

  11. 11.

    Sowohl aus sozialhistorischer als auch aus literatur- und kulturwissenschaftlicher Sicht fungiert die Stadt demzufolge immer wieder als eine Art Brennglas, „in dem die Bedingungen der Moderne sich konzentrieren und deshalb immer wieder und in jeder Hinsicht zünden“ (Früchtl 1998: 767). Sie wird dadurch als exemplarischer Ort der Moderne verstanden und als pars pro toto für moderne Entwicklungen gesehen. Das zeigt sich nicht zuletzt daran, dass die sozialwissenschaftliche Erforschung des Wandels moderner Gesellschaften vornehmlich die große Stadt als Untersuchungsfeld wählte und wählt. Die theoretischen und bildlichen Fassungen von Großstadt wie auch Moderne sind aufeinander verwiesen (vgl. Müller 1988: 14).

  12. 12.

    Wenngleich sich doch in den gegenwärtigen Konjunkturen einer imaginären Wiederkehr des Dörflichen und Ländlichen unter anderem in Literatur, Film und Populärkultur auch eine entgegengesetzte Bewegung beobachten lässt, die allerdings nicht allein auf eine strikte Trennung und Gegenüberstellung von Stadt und Land abzielt und somit auch nicht nur die alte Stadt-Land-Differenz fortschreibt (vgl. Nell/Weiland 2014).

  13. 13.

    Vgl. dazu Barbara Piatti, die auf die Parallelität von großstädtischer und literarischer Entwicklung verweist: „Die Großstadt-Autoren des 20. Jahrhunderts, Joyce, Döblin, Musil, entwickelten dagegen gänzlich neue Erzählverfahren, um etwa die Simultanität des Geschehens literarisch adäquat gestalten zu können“ (Piatti 2008: 334 f.). Für Volker Klotz bilden Stadt und Roman zwei strukturell ähnlich veranlagte und miteinander korrespondierende Systeme: „im Roman findet die Stadt das geeignetste Instrument, ohne radikalen Substanzschwund in einen literarischen Status einzugehen. Und umgekehrt findet der Roman in der Stadt den Gegenstand, der unerbittlich wie kein anderer seine volle Kapazität fordert und ausschöpft“ (Klotz 1969: 438). Eben solch ein Entsprechungsverhältnis zwischen den Entwicklungen von Großstadt und narrativen Genres entdeckt auch Lehan (1998). Franco Morettis Ansatz hingegen ist gattungstheoretisch umfassender angelegt: „Jedes Genre hat seinen Raum. Und umgekehrt: jeder Raum hat ‚sein‘ Genre“ (Moretti 1999: 51); und: „Jeder Raum bedingt seine spezifischen Episoden, seinen Handlungsverlauf – sein Genre“ (ebd., 113). Dabei betrachtet Moretti einen bestimmten Raum bzw. Raumtyp nicht nur als hinreichende, sondern als notwendige Bedingung für eine bestimmte literarische Form: „ohne einen bestimmten Typ von Raum/Schauplatz ist ein bestimmter Typus von Geschichte schlicht unmöglich“ (ebd., 131).

  14. 14.

    Dass sich literarische Werke dabei auch ganz konkret und materialisiert im Stadtbild niederschlagen können, wird von Heyl (2013, 236 f.) mit Verweis auf die Waverley Station in Edinburgh oder die sich um Jane Austens Werk formierende heritage industry in der englischen Stadt Bath angeführt.

  15. 15.

    Es stellt sich hier die Frage, „wie sich jeweils ein räumliches Imaginäres über den realen Raum legt und diesen in spezifischer Weise liest bzw. lesbar macht“ (Frank 2009: 63). In ähnlicher Weise spricht auch Barbara Piatti – die an anderer Stelle diesbezüglich auch auf Edward Sojas Konzept des Zweitraums verweist (Piatti 2008: 194) – von einem „imaginäre[n] Raum, der sich gewissermaßen über die reale Geographie legt, sie teils erweitert (mit erfundenen Orten), teils schrumpfen lässt, und sich mit ihr an manchen Stellen auch berührt“ (ebd., 31).

  16. 16.

    Fragt man also nach der Lesbarkeit von Räumen, so lassen sich zwei Aspekte unterscheiden. Zum einen ist es der Raum selbst, „der als beschrifteter lesbar wird“, zum anderen die „Repräsentation des Raumes, die ihn uns textförmig verfügbar macht“ (Döring/Thielmann 2008: 17). Vgl. auch den grundlegenden Aufsatz von Weigel (2002), aus dem sich u. a. auf folgendes Zitat verweisen lässt: „Der Raum ist hier nicht mehr Ursache oder Grund, von der oder dem die Ereignisse oder deren Erzählung ihren Ausgang nehmen, er wird selbst vielmehr als eine Art Text betrachtet, dessen Zeichen oder Spuren semiotisch, grammatologisch oder archäologisch zu entziffern sind“ (Weigel 2002: 160). Zum Konzept des Narrativs der Stadt aus der Perspektive neuerer Stadtforschungen siehe Eckardt (2014: 35 ff.), der u. a. ausführt, dass das Handeln in der Stadt eine ähnliche Struktur und Logik aufweist wie Erzählungen.

  17. 17.

    Und spricht auch von „einem gegliederten, vielfach unterteilten Raum mit hellen und dunklen Bereichen, mit unterschiedlichen Ebenen, Stufen, Vertiefungen und Vorsprüngen, mit harten und mit weichen, leicht zu durchdringenden, porösen Gebieten“ (Foucault 2005: 9).

  18. 18.

    Dabei kann ein „leere[s] Raumschema, dessen Stellen beliebig ausfüllbar, qualitativ ununterscheidbar und durch bloße Abstände voneinander getrennt sind“ (Waldenfels 1985: 195) auch nicht den Hintergrund für Heimatkonzepte und literarische Selbstbilder bilden. Auch die Vorstellung einer generic city – einer Stadt ohne Eigenschaften und ohne Geschichte (Lindner 2004: 392) – würde sich folgender Kritik ausgesetzt sehen: „Wenn Raumstrukturen ihre Bewohner prägen, so schafft ein Raum ohne Eigenschaften Menschen ohne Eigenschaften und Eigenschaften ohne Menschen“ (Waldenfels 1985: 204). Oder wie bereits Alexander Mitscherlich schreibt: „Die gestaltete Stadt kann ‚Heimat‘ werden, die bloß agglomerierte nicht, denn Heimat verlangt Markierung der Identität eines Ortes“ (Mitscherlich 1965: 15).

  19. 19.

    So schreibt Bachelard (2014: 25): „Der von der Einbildungskraft erfaßte Raum kann nicht der indifferente Raum bleiben, der den Messungen und Überlegungen des Geometers unterworfen ist. Er wird erlebt. Und er wird nicht nur in seinem realen Dasein erlebt, sondern mit allen Parteinahmen der Einbildungskraft“.

  20. 20.

    Auf die Relevanz Ricœurs in diesem Kontext wird auch von Ansgar Nünning (2009) verwiesen. Das von Ricœur entwickelte Modell der Konfiguration der Zeit vermittels des literarischen Erzählens könne „in gleichem Maße für die Dimensionen der Raumdarstellung“ gelten (Nünning 2009: 42). In die gleiche Richtung gehen auch Hallet/Neumann, wenn sie schreiben, „dass die von Ricœur angenommene mediierende Position der Literatur auch für Raumpraktiken und -vorstellungen gilt“ (Hallet/Neumann 2009: 22). Weitere Auseinandersetzungen mit Ricœur finden sich u. a. bei Peters (2012: 85–90). Dabei wird in gegenwärtigen Debatten – auch im Zuge der sog. ‚topographical‘ und ‚spatial turns‘ – immer wieder bemängelt, dass es kein raumtheoretisches Gegenstück zu Ricœurs Zeit und Erzählung gebe (Frank 2009: 65).

  21. 21.

    Ein Versuch, diesen Ansatz anhand imaginärer Dorfbilder beispielhaft durchzuspielen, findet sich bei Nell/Weiland (2014a).

  22. 22.

    Das damit verbundene Wissen ist, darauf weist Stierle hin, nicht institutionell gebunden und in sich kohärent, sondern dilettantisch und zerstreut: „Am Wissen von der Stadt partizipiert der Flaneur ebenso wie der Journalist, der Amateurhistoriker, der Verwaltungsfachmann und, wie besonders Balzac hervorhebt, der Anwalt und der Arzt. In jedem Fall ist es nicht ein Fachwissen, sondern ein dilettantisches, oft zerstreutes Wissen, in dem Kenntnis und Erfahrung, Beobachtung und Engagement oder subjektive Neigung sich berühren. Der Stadtdiskurs ist ein Ort des zirkulierenden ‚wilden Wissens‘, das sich seine Ausdrucksformen sucht. Erst wenn die Sprache des Textes den Sprachen der Stadt antwortet, können diese durchdrungen und auf das Ganze befragt werden, das an ihrem Horizont aufscheint“ (Stierle 1993: 49).

  23. 23.

    „Textualizing the city creates its own reality – but such textuality cannot substitute for the pavement and buildings, for the physical city. Before the city is a construct, literary or cultural, it is a physical reality with a dynamics of its own, even as that dynamics becomes difficult to assess“ (Lehan 1998: 291).

  24. 24.

    Beispielhaft ließe sich in diesem Kontext mit Corbineau-Hoffmann (2006: 37) unter anderem auf die Werke von Charles Dickens und Honoré de Balzac verweisen, mit denen ein grundlegender Wandel des literarischen Status der Großstadt verbunden ist: „Die Großstadt provoziert in der Vielfalt ihrer Erscheinungsformen die detailgetreue, detailverliebte Anschauungsweise. Vor allem die Epoche des Realismus bringt mit Dickens und Balzac Chronisten der Stadt, ja gleichsam Topographen hervor, unter deren Blick sich indes die Stadt – London resp. Paris – vom Handlungsort zum Handlungsträger emanzipiert.“ Mit Blick auf die Werke von Lesage, Defoe, Wieland, Hugo, Zola u. a. weist Klotz darauf hin, dass Ordnung dabei narrativ hergestellt wird: „In jedem Fall erteilt der Roman der Stadt eine deutende Ordnung. In jedem Fall aber auch werden Erzählweisen aufgeboten, die zumindest die Fiktion ermöglichen, sie sei als Ganzes überschaubar“ (Klotz 1969: 439).

  25. 25.

    Siehe ausführlicher etwa Stierle (1993), der Sébastien Merciers Tableau de Paris (1782–1788) als einen der ersten und schließlich prägenden Texte sieht, die sich der Stadt als einem Ort der Kontraste und Widersprüche widmen und diese Widersprüchlichkeit auch in der Form der Darstellung zum Ausdruck bringen (Stierle 1993: 106 f.). Dabei zeigt sich auch, dass mit der Großstadt und der Großstadtliteratur neue Erfahrungen und Wahrnehmungen von Fremdheit in kulturellen Räumen entstehen, die die literarisch-anthropologische Forschung herausfordern (Bachmann-Medick 1996: 20).

  26. 26.

    Die Großstadtromane der klassischen Moderne bieten hierfür u. a. mit den Texten von Döblin, Joyce, Dos Passos etc. genügend Beispiele, die auch die damit einhergehenden formalen Neuerungen in ihren verschiedenen Spielarten und Entwicklungslinien vom panoramaartigen Überblick über Perspektivierungen und Subjektivierungen bis hin zu Montage- und Collagetechniken vor Augen führen. So schreibt Corbineau-Hoffmann (2003: 10): „Doch trotz sich immer weiter ausdifferenzierender Kunstmittel bleibt die Darstellung der Großstadt ein Problem, das sich, im proteischen Wandel begriffen wie der Gegenstand selbst, nicht letztgültig fixieren und definieren lässt“.

  27. 27.

    Es geht hier also mitunter auch darum, „wie Literatur einem Ausschnitt aus der realen Welt buchstäblich ihren Stempel aufdrücken kann“ (Piatti 2008: 57).

  28. 28.

    Zu den diskursiven Verfahren der Stadtbeschreibung siehe aus literaturwissenschaftlicher Perspektive Mahler (1999) und aus sprachwissenschaftlicher Perspektive Hartmann (1989). Mahler (1999: 25–35) unterscheidet drei Kategorien literarisch-diskursiver Stadtkonstitution: „Städte des Allegorischen“ (bei denen die erzählte Lebenswelt mit Begriffen und Semantiken verbunden wird, die auf etwas anderes als sie selbst verweisen), „Städte des Realen“ (bei denen der mimetische Abbildcharakter der erzählten Lebenswelt im Mittelpunkt steht) und „Städte des Imaginären“ (die ihre eigene zeichenhafte Strukturiertheit hervorheben und sich dadurch als rein sprachliche Konstrukte ausweisen).

  29. 29.

    Dies ist auch für narrativ angelegte Subjektivitätstheorien von Bedeutung. Denn das Selbst verkörpert sich im Akt des Lesens „indem es die Positionierungen und ihre nomadischen Möglichkeiten […] durchspielt“ (Borsó 2007: 294).

  30. 30.

    Siehe dazu auch die Ansätze von Fischer (2004, 2006b) und Delitz (2008, 2009, 2010), die Begrifflichkeiten und Konzepte Philosophischer Anthropologie auf architektonische und stadtgeschichtliche Gegenstandsbereiche übertragen.

  31. 31.

    Dabei fungiert Europa im Text, ebenso in Umkehrung des traditionellen Bildes, aus der Perspektive der Amerikaner als Leerstelle, die die (vermeintliche) Möglichkeit bietet, die eigene Lebensgeschichte abzuwerfen und wieder neu mit Sinn zu füllen: „The whole point of coming to the Old World is to chuck the baggage of the new“, äußert eine der Hauptfiguren (Shteyngart 2004: 211).

  32. 32.

    Der American Dream, so könnte man wohl sagen, gilt auch heute noch als Inbegriff der Realisierbarkeit moderner utopischer Idealzustände, die sich auf die Stillung materieller und geistiger Bedürfnisse des Individuums beziehen (Boerner 1985: 367): „Amerika wurde unter allen geographisch bestimmbaren Gegenden der Welt wohl diejenige, die am häufigsten zur Formulierung utopisch eingestimmter Absichten, Wünsche und Träume herausforderte“ (ebd., 358).

  33. 33.

    So verweist z. B. Kovačević (2008: 146 f.) auf die damit verbundene Exotisierung Pravas: „The fictional name also marks Prava as an exotic, slightly unreal locale: it emerges as both a utopian spectacle for privileged consumption and an Orientalized dystopia of Eastern European violence and economic chaos“.

  34. 34.

    Siehe auch Kovačević (2008: 146): „But Prava both is and is not Prague, in the sense that it could also be any city in post-communist Eastern Europe, embodying the common turmoil of transitions in urban centers of this part of the world“.

  35. 35.

    So schreibt auch Nell mit Verweis auf das Kapitel „Europa neu vermessen“ in Karl Schlögels Im Raume lesen wir die Zeit (Schlögel 2003: 463–475), dass der Alltag und die Lebenszusammenhänge des neuen Europa nach 1990 „einem Jahrmarkt [gleichen], auf dem Überreste alter und neuer Traditionen, ländliche Ökonomie und westliche Konsumkultur, folkloristische und religiöse Sinnbilder, Farbtönungen und Wunschbilder, unterschiedliche Politikentwürfe und Gesellschaftskonzepte […] in einer ebenso unwahrscheinlichen wie ‚dichten‘ Mischung aufeinander treffen und sowohl den Konstruktcharakter als auch die tatsächliche soziale Synthese der Alltagsinteraktionen von Menschen in postsozialistischen Gesellschaften ausmachen, repräsentieren und zugleich herauszustellen vermögen“ (Nell 2008: 124).

  36. 36.

    So wird z. B. aus der „Route 66“ im Roman die „Road 66“.

  37. 37.

    Mit deren „Erziehung“ wird nun Vladimir betraut. Dies verweist nicht nur auf die paradoxe Situation, dass Vladimir erst außerhalb Amerikas zum (vermeintlichen) Amerikaner werden kann bzw. soll, sondern auch auf den Einzug und das Machtpotenzial neuer, globaler Wörter. So äußert z. B. der Gangsterboss Vladimir gegenüber: „We’re in this… ‚informational age‘… we need ‚Americanisms‘ and ‚globalisms‘“ (Shteyngart 2004: 267).

  38. 38.

    Für eine genauere Untersuchung der ambivalenten Figur des Gangsters siehe Kovačević (2008), die in Bezug auf Shteyngarts Roman u. a. konstatiert: „The mafia not only exemplify an intensification of the usual violence of capitalism, but also reclaimed as trickster figures who can ridicule the serious discourses of capitalism, an act that can be read as resistance to serious neocolonial discourses of Western management of the East. Their carnivalesque treatment of ‚legal‘ business practices, refusal to subject their time to the rhythm of the corporate workplace, and extreme, ‚irrational‘ hedonism resist appropriation by the narrative of capital. These figures importantly reject the position of Eastern European victims waiting to be emancipated into a global, multicultural brotherhood by the Western capital, although the narrative perspective changes toward the end, casting the mafia as Orientalized proofs of Eastern European inability to overcome its criminal nature. On the other hand, the Mafiosi are also persistent reminders of the communist times whose fall disenfranchised and impoverished them“ (Kovačević 2008: 122).

  39. 39.

    Zu Begriff und (häufig auch ironischer) Funktion der Papierarchitektur siehe den (sich mit der Aneignung amerikanischer Architektur in Osteuropa beschäftigenden) Aufsatz von Dmitrieva (2009: 122), laut der es sich bei der ‚Papierarchitektur‘ um imaginäre Bauprojekte handelt, die sich nicht nur mit den Leitideen der modernen Architektur auseinandersetzen, sondern sie ad absurdum führen wollen und daher explizit nicht zur Ausführung bestimmt sind. Hat diese ‚reale‘ Architektur in ihrer Form mit der im Roman dargestellten nur wenig gemeinsam, so teilen sie doch zumindest ein gemeinsames Ziel: „Die Architekturvisionen, die auf Plakaten und Ausstellungen gezeigt wurden, überblenden mit Erfolg die armselige, defizitäre Wirklichkeit, so dass ihre tatsächliche Realisierung geradezu als nebensächlich erscheinen konnte“ (ebd., 120).

  40. 40.

    Zum Themenkomplex Städte als wieder zu entdeckendes kollektives Gedächtnis in Ostmitteleuropa vgl. auch Jaworski (2009: 22): „Die überwiegende Mehrheit der Städte Ostmitteleuropas war über Jahrzehnte hinweg hinter dem Eisernen Vorhang versteckt und damit fast vergessen.“ Auch Shteyngarts Roman setzt, wie viele andere Werke der gegenwärtigen amerikanischen Literatur, an dieser Wiederentdeckung an (Kovačević 2008: 118). Ganz besonders zeigt sie sich auch am Gegenstandsbereich Galizien, das sich nicht nur gegenwärtig, sondern fast schon beständig einer literarischen und filmischen Verlebendigung erfreut, die auch von Safran Foers Everything is Illuminated (2002) angetrieben wurde; und dabei auf einer Tradition der „Galizien-Sehnsucht“ beruht, die nicht nur einige bedeutende Autoren vorzuweisen hat (vgl. Nell 2010), sondern auch das kulturell vorhandene Galizienbild mitprägte: „Erst die Geschichten, Beschreibungen und Erzählungen ließen eine Vorstellung von ‚Galizien‘ aufkommen“ (Hüchtker 2002: 81).

  41. 41.

    Dabei zeigen sich zentrale Parallelen zwischen den auch metaphorischen Raumordnungen in Vladimirs Kindheit in Leningrad und seinem Aufenthalt in Prava. Hier wie dort „spielt“ er bspw. nicht nur unter dem Fuß einer – aus seiner Perspektive immer – riesigen Statue (erst Lenins, dann Stalins), sondern ist immer auch gezwungen, ein bestimmtes, an sich schon aufschlussreiches Spiel zu spielen: das Spiel des Versteckens bzw. der Maskierung.

  42. 42.

    Dabei kann das Konzept ‚Heimat‘ hier verstanden werden als „Nahwelt, die verständlich und durchschaubar ist“ (Bausinger 1980: 20). In Opposition und Kompensation zur Erfahrung von Unsicherheiten zielt sie – sozial und historisch hergestellt – auf die Stabilisierung von Verhaltenserwartungen und die Ermöglichung sinnvollen Handelns ab (ebd.).

  43. 43.

    Es sei hier nur am Rande erwähnt, dass der Roman analog zu einer Topografie der Stadt auch eine Topografie der Körper aufweist.

  44. 44.

    Erstens ist da das Zentrum, das Goldene Prava der Reiseprospekte, in das alle Figuren drängen. Drumherum findet sich, zweitens, das postsozialistische Prava, Wohnraum der Gangster und Stolowaken. Mit einem klapprigen und vollkommen leeren Gelenkbus findet man von dort aus, drittens, eine Kirche, die für Vladimir – als „a Jew in Greeks’ clothing“ (Shteyngart 2004: 265) – nur in Verkleidung zugänglich ist und daher kein Heil bieten kann, und eine Fabrik, die selbst nur Verkleidung ist. Noch weiter draußen steht, viertens, ein einzelnes Wohnhaus, in dem Vladimir mit seiner Freundin leben wird. Er bleibt also tatsächlich – sowohl topografisch als auch metaphorisch – weiter draußen als alle anderen. Dies wäre jedoch auch seine Chance gewesen, denn ca. 200 km von Prava entfernt findet er, fünftens, in einem Nationalpark eine Lebenssituation, die die Charakteristika des Idyllischen trägt und ihn vom Zwang zum Maskenspiel befreit. Doch alsbald verlässt er diese wieder.

  45. 45.

    Siehe dazu den bereits oben angesprochenen Ansatz von Ansgar Nünning (2009: 42): „Für die Konstituierung der ästhetischen Gesamtstruktur eines literarisch entworfenen Raumes ist nicht irgendein konkreter Bestandteil entscheidend, sondern die Gesamtheit der ausgewählten Elemente sowie ihre Relationen zueinander“.

  46. 46.

    So z. B. als Vladimir sich die Figur Henry Millers aneignet und in den letzten Sätzen aus dem Wendekreis des Krebses eine auch raummetaphorische Folie für seinen eigenen Lebensverlauf findet: „Anyway, Henry Miller is standing by the banks of the Seine, he’s been through just above every kind of poverty and humiliation possible. And he writes something like (and excuse me if I’m misquoting): ‚The sun is setting. I can feel this river flowing through me – its soil, its changing climate, its ancient past. The hills gently girdle it about: its course is fixed.‘“ (Shteyngart 2004: 292) Doch auch diese vermeintlich mit Empathie geäußerten bzw. zitierten Worte werden sich als weitere Verkleidung Vladimirs herausstellen.

  47. 47.

    Vgl. zum zweiten Punkt auch Hillebrand (1971). Dieser schreibt, dass „der Gesellschaftsraum vorwiegend mit der Perspektive des objektiven Erzählers gesehen und geschildert wird, während der erlebte Raum ganz aus der Perspektive der jeweils zentralen Person dargestellt ist. Der Raum wird zum Ausdrucksträger dieser Perspektive, er vermittelt daher wichtige Wesenszüge der betreffenden Person“ (Hillebrand 1971: 15).

  48. 48.

    So ergibt sich bereits der Titel Tree of Codes aus Street of Crocodiles.

  49. 49.

    Aus einer bestimmten Perspektive ließe sich jedoch auch anführen, dass dies die ohnehin vorhandene Räumlichkeit der Schrift hervorhebt und verstärkt betont. Sibylle Krämer bspw. versteht Text im Allgemeinen als „inskribierte Fläche, in der Worte und Sätze verschiedene Plätze innerhalb eines konfigurierten Raumes einnehmen“ (Krämer 2005: 33).

  50. 50.

    Das Überspringen des leeren Raums und der leeren Fläche zwischen den Zeichen kann auch als experimentelle Vorführung des Vergessens verstanden werden, das die Reflexion über alltägliches und historisches Vergessen in Gang setzt – schließlich bleibt das Bewusstwerden des Überspringens im Akt des Lesens unausweichlich. „When we read Tree of Codes, our eyes skip these open spaces. They perform an act of overlooking, of forgetting, that Foer forces us to make with his obliterations. Yet, simultaneously, this is a skipping that takes time, the whites and holes halting our reading: we become aware of those blank spaces in-between the words – spaces once full and inhabited and now wrecked, as if constantly reminding us of an irreparable loss. What appeared to be a (physical) act of forgetting becomes a roundabout or peripheral mode of remembering“, schreibt Brillenburg (2011: 3), die anschließend eine Verbindung zur jüdischen Tradition herstellt, auf die Safran Foer (2011: 137 ff.) auch in seinem Nachwort zu Tree of Codes verweist.

  51. 51.

    Für eine detaillierte Deutung des Begriffs der Metamorphose bei Schulz siehe auch Lachmann (2002: 367–374), die in diesem das Zusammenwirken gnostischer und kabbalistischer Vorstellungen entdeckt.

  52. 52.

    Vor allem Ficowski verweist auf die Tatsache, dass sich im Werk von Schulz nicht nur eine mythisierte Stadt, sondern auch reale Drohobyczer Straßen finden lassen. So sei bspw. die Krokodilgasse eine „mythologische Transposition der Stryjer Straße, eine schäbige, provinzielle ‚City‘ mit grotesken Großstadtambitionen“ (Ficowski 2008: 90).

  53. 53.

    In der Explikation des Konzepts der fünf Erzählströme führt Michael Neumann aus, dass jedem Strom ein typischer Handlungsraum zugrunde liegt (Neumann 2009: 242, Neumann 2013: 141) und in jeweils spezifischer Weise eine bestimmte Grundkonstellation modifiziert und variiert, die sich wiederum aus der Konfrontation eines eigenen bzw. vertrauten („Endosphäre“) mit einem fremden bzw. unvertrauten Raum („Exosphäre“) ergibt (Neumann 2009: 242). In den narrativen Konfigurationen der Zimtläden werden Endosphäre und Exosphäre ineinander verschränkt (in diesem Sinne würden sie innerhalb des Kategoriensystems der Ströme Neumanns als ‚Schwank‘ gekennzeichnet werden, da sie das Vertraute auf den Kopf stellen, alltägliche Grenzen auflösen und schließlich die gewohnheitsmäßige Ordnung von Selbst und Welt außer Kraft setzten; vgl. Neumann 2013: 506 f.). Insofern diese Verschränkung als Produkt der erzählerischen Imagination erscheint, bringen sie zugleich auch die konstitutive Verschränkung von Eigenheit und Fremdheit im Menschen zum Ausdruck.

  54. 54.

    Vgl. dazu auch das von Schulz geschriebene Exposé, in dem dieser auf sein Gefühl verweist, „daß die tiefsten Gründe einer Biographie, die letzte Form eines Schicksals gar nicht durch die Schilderung eines äußeren Lebenslaufes, noch durch eine noch so tief geführte psychologische Analyse erschöpft werden könne. Diese letzten Gegebenheiten des menschlichen Lebens lägen vielmehr in ganz anderer geistigen Dimension, nicht in der Kategorie des Faktischen, sondern in der des geistigen Sinns. Ein Lebenslauf aber, der auf seine eigene Sinnesdeutung hinauswill, auf seine eigene geistige Bedeutung zugespitzt ist, ist nichts anderes als Mythus“ (Schulz 1994: 325 f.).

  55. 55.

    Daher kann der Erzähler auch nicht als „strangely passive“ bzw. „not himself in action“ (Brown 1991: 29) angesehen werden. Seine imaginativ-realen Stadtdurchwanderungen sind zugleich Durchwanderungen des eigenen – unfassbaren und unergründlichen – Selbst.

  56. 56.

    Dadurch wird dann auch die Vorstellung des schützenden und das Individuum bergenden Hauses – verstanden als „Kernpunkt und Keimzelle individueller Existenz“ (Corbineau-Hoffmann 2006: 35) – verunmöglicht. Denn Imaginationen des Hauses sind üblicherweise auch Imaginationen von Stabilität und Kontinuität: „Das Haus ist ein Verband von Bildern, die dem Menschen eine Stabilität beweisen oder vortäuschen“ (Bachelard 2014: 43). Insofern das Haus Zufälligkeiten ausschließt und Kontinuitäten sichert (ebd., 33), erzeugt es auch einen stabilen Außenhalt für das menschliche Selbst und bietet ihm das Bild eines möglichen konstanten Lebens. Damit erschafft sich der Menschen einen Ort angesichts der eigenen wesensgemäßen Ortlosigkeit. In den Texten von Schulz hingegen wird keine Stabilität vorgetäuscht, sondern die Ortlosigkeit der menschlichen Imagination – und damit der menschlichen Existenz – zum Ausdruck gebracht.

  57. 57.

    Diese Oppositionen wurden, so Lach und Markwart, nicht etwa von Schulz frei erfunden, sondern bereits in der Wirklichkeit der Kleinstadt Drohobycz vorgefunden: „Gehört Galizien seit 1918 zu Polen, so eskalieren in der Stadt die Widersprüche, reißt sich ins Stadtbild ein disparates, unauflösliches Zugleich von polnischer Gegenwart, österreichischer Vergangenheit und modernem Kapitalismus: Diese paradoxe Kontamination historischer Wirklichkeiten erzeugt ein paradoxes, in Geschichten zerrissenes Galizien. Ungetrennt von räumlichen oder zeitlichen Distanzen, drängeln sich hier eng nebeneinander unterschiedliche Welten“ (Lach/Markwart 2011: 14). Dass nicht nur die Art und Weise der Beschreibung Galiziens durch Schulz, sondern auch dessen Rezeption und Tradierung selbst wieder auf das reale Galizien und Galizienbild zurückwirken, kann ebenfalls festgehalten werden: „Das Schulz’sche Erzählen gründet im brüchigen Galizien und erschafft es zugleich“ (ebd., 15).

  58. 58.

    Anhand des „imitativen und illusorischen Charakter[s] des Viertels“ (Schulz 1992: 78), den damit verbundenen Maskeraden und schließlich der Prämisse, dass sich der Begriff des Jüdisch-Seins, obwohl er im ganzen Text nirgendwo gebraucht wird, in anderen Platzhaltern wiederfinden lasse (Banner 2000: 66), deutet Banner in ihrer Monografie Holocaust Literature die Erzählung Die Krokodilgasse als Ausdruck eben jener Problematiken, mit denen das Jüdisch-Sein (nicht nur) zur Zeit Schulz’ konfrontiert wurde: „But there is the suspicion, too, that to copy may be to mask one’s identity or ‚true‘ nature. In the context of narratives which speak silently of Jewishness, copying becomes a necessary element of a protective masquerade. This also explains the frequency of images of façades and ideas about identity being only paper-thin. For many Jews, identity, whether as Jew or non-Jew, was paper-thin“ (ebd., 70 f.).

  59. 59.

    In dem Safran Foer zur Verfügung stehenden englischen Text lautet die entsprechende – sich von der deutschen Übersetzung durchaus unterscheidende – Stelle: „Reality is as thin as paper and betrays with all its cracks its imitative character“ (Schulz 2008: 67).

  60. 60.

    Der Unterschied zur Textualität der Räume in der Zimtläden-Erzählung besteht darin, dass es sich in der Krokodilgasse anscheinend weniger um schöpferische Erzeugnisse handelt, sondern lediglich um Kopien, die – man könnte sich leicht an Platons Literaturkritik erinnert fühlen – lediglich Abbilder von Abbildern bieten und damit das Wesentliche verschleiern (Banner 2000: 70). Der Platon-Vergleich ist insofern auch naheliegend, als Schulz selbst immer wieder von „Urschemata“ (Schulz 1994: 93) spricht, die der Wirklichkeit zugrunde liegen und sich in immer neuen Formen wiederholen (vgl. Ficowski 2008: 78). Gerade durch die Mythologisierung werden diese Urschemata jedoch, anders als Platons Ideen, erst hervorgebracht (Anders 2009: 17 f.); Urbild und Rekonstruktion, Vergangenheit und Gegenwart verschmelzen dadurch ineinander (Ficowski 2008: 81), was sich beispielhaft in den Räumen der Zimtläden zeigt.

  61. 61.

    „Obviously, we were unable to afford anything better than a paper imitation, a montage of illustrations cut out from last year’s moldering newspapers“, heißt es in der englischsprachigen Übersetzung (Schulz 2008: 72).

  62. 62.

    Im Nachwort zu seinem Text schreibt Safran Foer (2011: 138): „I was in search of a text whose erasure would somehow be a continuation of its creation.“ So bieten, um mit Umberto Eco zu sprechen, sowohl Schulz’ als auch Safran Foers Werk – wenn auch mit unterschiedlichen Akzentsetzungen – Beispiele für „eine beständig sich wandelnde Welt […], die sich vor den Augen des Lesers ständig erneuert und ihm dabei stets neue Aspekte jener Vielfalt des Absolutums darbietet, die es nicht ausdrücken, sondern […] vertreten und verwirklichen möchte. In dieser Struktur sollte nicht nach einem festen Sinn gesucht werden, so wie auch keine definitive Form vorgesehen war“ (Eco 1977: 45).

  63. 63.

    So zeigt z. B. die schon bei Schulz angesprochene Stadtkarte nicht etwa ein Panorama – sie „ist“ Panorama (Safran Foer 2011: 87).

  64. 64.

    In metaphysischer Ausrichtung findet sich hierfür ebenfalls eine Vorprägung durch das Werk von Schulz: „Die Wirklichkeit nimmt bestimmte Formen nur zum Schein, zum Scherz, zum Spiel an. Der eine ist ein Mensch, der andere eine Schabe, aber diese Form erreicht keine Wesenhaftigkeit, sondern ist nur eine flugs, für einen Augenblick angenommene Rolle, nur eine Haut, die im nächsten Augenblick wieder abgeworfen wird. Es wird [in den Zimtläden] ein bestimmter extremer Monismus der Substanz angenommen, für welche die einzelnen Gegenstände lediglich Masken sind. Das Leben der Substanz beruht auf der Verwendung einer endlosen Menge von Masken“ (Schulz 1994: 92).

  65. 65.

    Und: „The / tree / of / cod / es was / better than a paper imitation“ (Safran Foer 2011: 96).

  66. 66.

    Als Autofiktionen können mit Martina Wagner-Egelhaaf diejenigen autobiografischen Texte verstanden werden, die auf eine Verschränkung von Autobiografie und Fiktion abzielen und dabei entweder reale Figuren wie z. B. der Autor bzw. die Autorin mit ihren tatsächlichen Namen in einem explizit fiktionalen Kontext vorkommen lassen oder aber Fiktionales bzw. Fantastisches in einem explizit faktualen Kontext setzen (vgl. Wagner-Egelhaaf 2017: 14, Wagner-Egelhaaf 2013: 12).

  67. 67.

    Dabei betrachtet Wagner-Egelhaaf Felicitas Hoppes’ Hoppe mit Blick auf neuere Formen autofiktionalen Schreibens als ein „Paradebeispiel aus der jüngeren deutschen Literatur“ (Wagner-Egelhaaf 2015: 14).

  68. 68.

    Wobei Neuhaus (2008: 39 f.) hierbei kursorisch auf einige zentrale sozialhistorische (von der Industrialisierung bis zum Fall der Berliner Mauer) und wissenschaftliche (das Erstarken von Naturwissenschaft und Psychoanalyse) Umbrüche verweist, die schließlich zum Verlassen der sicheren Einbettung des Individuums in Gesellschaft und Tradition führten, und es damit quasi aus dem Gleichgewicht gebracht haben. Im Folgenden wird in Bezugnahme auf die Philosophische Anthropologie auch der Versuch unternommen, dieses Ungleichgewicht gewissermaßen als konstitutiv für die menschliche Daseinsform zu fassen und davon ausgehend mögliche Funktionen literarischer Selbsterzählungen zu thematisieren.

  69. 69.

    Dass dies eine der zentralen Fragen postmoderner Autobiografietheorie und postmodernen autobiografischen Schreibens ist, zeigt Walter-Jochum (2016) in seiner Studie. Zum Problem der medialen Vermitteltheit im (auto)biografischen Erzählen siehe auch Heinze/Hornung (2013).

  70. 70.

    Gerade hierbei tritt, wie bereits in Kap. 5 angesprochen, das Problem des scheinbaren Widerspruchs zwischen Beständigkeit und Veränderlichkeit des menschlichen Individuums zum Vorschein, das auch die individuellen Bezugnahmen auf das eigene Leben tangiert. Kommt doch gemeinhin niemand umhin, die generelle Veränderlichkeit und die konkreten Veränderungen seiner selbst – äußerlicher wie auch innerlicher Art – zu bemerken. Dennoch wird das Individuum sowohl von sich selbst als auch von Anderen als dieses Individuum bzw. dieser eine besondere Mensch wahrgenommen und angesprochen. Daher muss er, dieser eine Mensch, also etwas sein bzw. an sich haben, das es ermöglicht, ihn inmitten aller anderen Menschen und trotz all seiner Veränderungen durch die Zeit hindurch als denselben einen Menschen zu erkennen. Und da dies nicht nur für diesen einen Menschen zutrifft, sondern auch für alle Anderen, so muss es sich hierbei auch um ein allgemeines Merkmal oder eine allgemeine Struktur bzw. Konstitution handeln. Problematisch ist diese Frage dabei jedoch nicht nur auf der hier angesprochenen diachronen, sondern auch auf der synchronen Ebene. Verwiesen sei in diesem Kontext nur auf Schlagworte wie ‚das Patchwork der Identitäten‘, die das Leben einer Person in unterschiedlichen, mitunter nicht in Beziehung zueinander stehenden Lebensumständen und Rollenmustern beschreiben (siehe dazu auch Keupp u. a. 2006).

  71. 71.

    So erklärt sich auch der Titel des Romans Harmonia Cælestis, welcher auf eine 1711 erschienene Sammlung sakraler Gesänge eines der historischen Vorfahren Esterházys – Fürst Paul Esterházy I. – zurückgeht; eine Komposition, die zwar unter Esterházys Namen erschienen ist, von der aber später festgestellt werden musste, dass es sich um ein Werk handelt, in dem „nicht nur eigene, sondern auch sehr viele fremde Melodien verarbeitet wurden“ (Szirák 2009: 309).

  72. 72.

    „Derart ausgerüstet steht also immer schon ‚fest‘, wie man (fremde) Dinge und Personen einzuschätzen hat“, schreibt Todtenhaupt (2002: 218) im Blick auf diejenigen literarischen Figuren im Werk Hoppes, die Reiseführer wie z. B. den Baedeker benutzen.

  73. 73.

    So wie sich auch in Verbesserte Ausgabe, der Fortsetzung von Harmonia Cælestis, beständig Zitate aus dem vorangegangenen Roman finden lassen.

  74. 74.

    Dabei werden in Hoppe immer wieder angeblich bereits geschriebene – aber unveröffentlichte – Autobiografien thematisiert (siehe z. B. Hoppe 2012: 34). Man fühlt sich dabei auch an Jorge Luis Borges erinnert, der in seinem Vorwort zu den Fiktionen schreibt: „Ein mühseliger und strapazierender Unsinn ist es, dicke Bücher zu verfassen; auf fünfhundert Seiten einen Gedanken auszuwalzen, dessen vollkommen ausreichende mündliche Darlegung wenige Minuten beansprucht. Ein besseres Verfahren ist es, so zu tun, als gäbe es diese Bücher bereits, und ein Résumé, einen Kommentar vorzulegen“ (Borges 2009: 13).

  75. 75.

    Da dies, so Iser, auch für die Lüge zutrifft, so muss eine Zusatzbedingung hervorgehoben werden, die das literarische Fingieren vom Lügen unterscheidet. Diese lautet: „literarisches Fingieren entblößt sich als solches, was sich das Lügen nicht leisten kann“ (Iser 1990: 10).

  76. 76.

    Dies kann auch als expliziter Programmentwurf autofiktionalen Schreibens verstanden werden. Bemerkenswert ist dabei in den aktuellen Autofiktionstheorien auch, dass sie sich explizit der Terminologie Isers bedienen. Siehe z. B. bei Wagner-Egelhaaf (2013: 9): „Eben die (Auto)Fiktion lässt den Autor als denjenigen, der fingiert und sich selbst fingiert, in Erscheinung treten.“ Ebenso auch Walter-Jochum, der die Autobiografik als Ergebnis des Fingierens versteht (Walter-Jochum 2016: 13 und 121 f.) und sie anhand der drei damit verbundenen Akte – Selektion, Kombination und Selbstanzeige – analysiert (ebd., 298–319).

  77. 77.

    Diese Trennung bzw. Gegenüberstellung von innen und außen sowie der Versuch ihrer Überwindung in der Form der Darstellung bilden einen der grundlegenden Problemkontexte des künstlerischen und literarischen Porträtierens (historischer) Personen; ein Themengebiet, das im Werk von Felicitas Hoppe immer wieder aufgenommen, reflektiert und mitunter auch ironisiert wird: „Hoppes Porträts sind Texte über das Verfassen von Porträts“ (Hamann 2008: 109).

  78. 78.

    Damit einhergehend verweist auch Plessner in seiner Anthropologie des Schauspielers auf die anthropologische Komplementärfunktion des Kleides, die den Menschen zum Träger einer Rolle – und damit auch zum Menschen – macht. Die Verkleidung wird dabei verstanden als ein Mittel der Darstellung und Verkörperung, das die Möglichkeit bietet, einem imaginären Bildentwurf zu folgen. Dabei zitiert Plessner in zustimmender Weise auch van der Leeuw: „‚Die Philosophie der Kleider ist die Philosophie des Menschen. Im Kleid steckt die ganze Anthropologie‘, sagt v. d. Leeuw mit Recht“ (GS VII 413).

  79. 79.

    Dass dies ein Thema im Werk Hoppes ist, wird auch von Steinfeld angesprochen: „Ebenso, wie es in Felicitas Hoppes Romanen und Erzählungen immer wieder um Geschichte geht, um historische Figuren, geht es in ihnen um die Gleichheit einer solchen Figur, die Erzählerin und ihr Lebensbegleiter inbegriffen, mit sich selbst“ (Steinfeld 2008: 195, Hervorhebung M.W.).

  80. 80.

    Dagegen geht der Ansatz von Wilhelm Schapp gar so weit, die Narrativisierung personaler Identität als notwendige Bedingung zu setzen, um überhaupt einen Zugang zum sich entziehenden Objekt der (Selbst-)Beobachtung zu bekommen: „Durch seine Geschichte kommen wir mit einem Selbst in Berührung“ (Schapp 2004: 105). Vgl. dazu auch die von Ricœur (NI 61 und ZuE I 119) wiederholt zitierte Kernaussage Schapps: „Die Geschichte steht für den Mann.“ Diese Aussage findet sich auch ex negativo in der Logik des Hoppe-Romans wieder, bleibt doch Hoppes Vater „unauffindbar, weil ihn bis heute niemand verschriftlicht hat“ (Hoppe 2012: 235). Ohne Geschichte kein Mann.

  81. 81.

    Mit diesem „mein Vater“ wird jedoch jeder männliche Esterházy, jeder Vorfahre des vermeintlich autobiografisch erzählenden Erzählers bezeichnet. Der Leser ist hier konfrontiert mit einem wahren Sammelsurium der unterschiedlichsten Vaterfiguren mit den verschiedensten Charaktereigenschaften und Tätigkeiten.

  82. 82.

    Ebensolches wird auch von Hoppes Werk behauptet, hier am Beispiel von Verbrecher und Versager: „Wirr sind die Hoppe-Geschichten insofern, weil sie die Chronologie der Zeit nicht akzeptieren, aus Gegenwart und Vergangenheit ein Nebeneinander von Räumen machen, die in beide Richtungen begehbar sind, vor allem aber, weil sie permanent die Grenze zwischen dem Fiktiven und dem Nicht-Fiktiven in Frage stellen“ (Hamann 2008: 113 f.).

  83. 83.

    Gerade der Begriff des Charakters ist es aber, der – so Ricœur (SAA 152) – der Logik des Selbigkeitsdenkens gehorcht und dadurch – so Hoppe (2004b: 74) – auch den Glauben fördert, dass uns ein Mensch „plötzlich als Ganzes entgegen[treten]“ könne.

  84. 84.

    Daher werden die historischen Figuren in den Texten Hoppes auch nicht „zu einer zusammenhängenden, widerspruchsfreien Geschichte (re)konstruiert“ (Hellström 2008: 32).

  85. 85.

    In einem Brief vom 01.12.1831 schreibt Goethe an Wilhelm von Humboldt: „Darf ich mich, mein Verehrtester, in altem Zutrauen ausdrücken, so gesteh’ ich gern daß in meinen hohen Jahren, mir alles mehr und mehr historisch wird: ob etwas in der vergangenen Zeit, in fernen Reichen, oder mir ganz nah räumlich im Augenblicke vorgeht, ist ganz eins, ja ich erscheine mir selbst immer mehr und mehr geschichtlich“ (Goethe 1993b: 494 f.). Die durch die Selbsthistorisierung vollzogene Distanzierung zur eigenen Lebensgeschichte erfuhr Goethe, so Birus (2011: 15 f.), durch die Arbeit an seiner Autobiografie Dichtung und Wahrheit. In einem Brief an seinen Verleger Cotta vom 16.11.1810 schreibt er: „Ich bin genötigt in die Welt- und Literaturgeschichte zurück zu gehen, und sehe mich selbst zum erstenmal in den Verhältnissen, die auf mich gewirkt und auf die ich gewirkt habe; und dies gibt zu sonderbaren Reflexionen Anlass“ (Goethe 1993a: 617).

  86. 86.

    Diese literarischen Techniken weisen hinsichtlich ihrer Wirkung jedoch gewissermaßen eine Schnittmenge mit dem Goetheschen Sich-selbst-historisch-Werden auf; und zwar indem sie eine distanzierende Denkbewegung vollziehen, allerdings in Bezug auf einen anderen Gegenstand. Ist es bei Goethe ein auch altersbedingtes „Sichfremdwerden“, das gegenüber vergangenen Lebensabschnitte zu spüren ist (Fleig 1993: 664), so lässt sich bei Hoppe und Esterházy eher von einem absichtlichen Sich-fremd-Machen reden, das sich gerade auf die distanzierende Verfremdung eingängiger und vertrauter autobiografischer Lebensbeschreibungen bezieht.

  87. 87.

    Aus dieser Perspektive bekommt der schon zitierte Satz: „Charaktere existieren nicht. Sie sind, im Schlepptau der Biographien, immer erfunden“ (Hoppe 2004b: 74) noch einmal eine andere Gewichtung; erscheint die Erfindung des Charakters doch nun möglicherweise auch einem grundlegenden Bedürfnis nach einer (so nicht vorfindbaren) Unveränderlichkeit bzw. Beständigkeit des Selbst zu entsprechen.

  88. 88.

    Ein paradigmatisches Zitat findet sich dabei in Verbrecher und Versager: „Der Kaiser sagt es dem Zwischenkaiser, der Zwischenkaiser dem Unterkaiser, der Unterkaiser dem Hofmarschall, der Hofmarschall ruft den Oberdolmetscher, der Oberdolmetscher den Unterdolmetscher, der Unterdolmetscher den Dolmetscherlehrling, und der Dolmetscherlehrling ruft seinen Sohn, der wiederum Dolmetscher werden soll. So vererbt sich das Handwerk von Vater auf Sohn, und wenn der Sohn endlich Dolmetscher ist, worüber Jahre vergehen können, macht er sich auf den Weg nach Deshima und sagt es den dortigen Dolmetschern weiter, die es ihrerseits Doktor Cleyer sagen, der es seinerseits dem Hofmeister sagt, der behauptet, er hätte alles gesehen, in Wahrheit hat er nur manches gehört“ (Hoppe 2004b: 26 f.). Vgl. dazu auch die Selbstauslegung in Hoppe: „Hoppe misstraut jeder Form von Kommunikation zutiefst, wobei sie weniger die Frage beschäftigt, was wir eigentlich sagen und erzählen, als die Frage danach, was wir wirklich hören können, ob unsere Botschaft tatsächlich ankommt“ (Hoppe 2012: 60).

  89. 89.

    Vgl. dazu Lyotard (2007: 52). Charakteristisch für das Werk von Hoppe ist, dass dies seine Ursache gerade ‚in der Sache‘ selbst findet. Aus dieser Perspektive erscheinen die Hoppeschen „Derealisierungsstrategien“ (so Holdenried 2008: 126), die nicht zuletzt selbst Faktisches fiktionalisieren (ebd., 124), als adäquate Formen der Bezugnahme auf einen Objektbereich, der durch die Automatismen der Alltäglichkeit und des Alltagsdiskurses mehr und mehr verdeckt wurde und nun, um mit dem Anspruch des russischen Formalismus zu sprechen, nach einem ‚neuen Sehen‘ verlangt. Auf diese Denkfigur verweist auch Esterházy mit einem Wittgenstein-Zitat aus den Philosophischen Untersuchungen: „Die für uns wichtigsten Aspekte der Dinge sind durch ihre Einfachheit und Alltäglichkeit verborgen. (Man kann es nicht bemerken, – weil man es immer vor Augen hat)“ (Esterházy 2013: 163); um dann schließlich auch direkt an das Programm Šklovskijs anzuknüpfen: „Darum werfe ich die Einfachheit und Alltäglichkeit über Bord“ (ebd., 163).

  90. 90.

    Dabei wird immer auch die Frage aufgeworfen, wer wen aus welcher Perspektive und anhand welches Kategorienrasters beurteilt (siehe z. B. Esterházy 2004: 110).

  91. 91.

    Dass Esterházy Kornél Esti als Vorbild bzw. Schablone für die eigenen Selbsterzählungen nutzt, zeigt sich nicht nur im Nachwort, das Esterházy zur deutschsprachigen Ausgabe des Werks beisteuerte (und das mit folgendem Zitat endet: „Kornél Esti – c’est moi“; Kosztolányi 2004: 303), sondern auch in seinem Roman Esti.

  92. 92.

    Auch im literarischen Werk von Esterházy wird Literatur explizit als „Erkenntnisform“ (Esterházy 2013: 312) angesprochen.

  93. 93.

    Wodurch wiederum auch das Konzept der Selbstfindung durch eine Korrektur bzw. Verschiebung zu seinem Recht gelangt. Selbstfindung kann scheinbar nur darin bestehen, zu finden, dass nichts Festes zu finden ist.

  94. 94.

    So lässt sich mit Conter (2008: 93) auch feststellen, dass die Irritation logisch-rationaler Erwartungshaltungen zugleich immer auch ihre Gegenbewegung herausfordert, die – bspw. durch den Verweis auf ein wie auch immer geartetes Möglichkeitskriterium – die wahrgenommenen fiktionslogischen Widersprüche plausibilisieren soll. Dies gilt nicht nur für die literarische Text- bzw. Figurenebene (siehe dazu ebd., 101, Anm. 18), sondern auch ‒ das zeigen nicht zuletzt die Versuche kulturwissenschaftlicher Analysen, wie sie beispielsweise mit dem vorliegenden Text unternommen werden ‒ auf der Rezeptionsebene, wo eine möglichst konsistente Deutung, z. B. durch die Herausarbeitung einer textimmanenten Poetik (ebd., 93), vorgenommen werden soll.

  95. 95.

    Und so können auch die Texte innerhalb des Textes als Selbstkommentare gelesen werden, die – hier sowohl auf der Objekt- als auch auf der Metaebene – das Publikum „nicht, wie gewohnt, ins Vertraute führ[en], sondern ins eiskalte Abseits“ (Hoppe 2012: 70). Das Publikum erhält kein Wissen, „wie die Sache ausgehen wird“ (ebd.).

  96. 96.

    Dass damit ein metareflexives Element verbunden ist, das die Erkenntnisformen und produktiven Dimensionen des Erzählens thematisiert, zeigt u. a. auch folgendes Zitat aus Hoppes Roman Johanna: „Worauf kommt es in der Geschichte an? Nicht darauf, dass man Geschichten erzählt, sondern, wie man Geschichten macht, wenn man erzählt“ (Hoppe 2006: 47).

  97. 97.

    Dies geht auch einher mit dem Erzählen von und über Listen (z. B. Hoppe 2012: 175).

  98. 98.

    Vgl. hinsichtlich des theoretischen und praktischen Selbstbezugs vermittels Literatur bei Esterházy auch das Vorwort zu Verbesserte Ausgabe: „Ich habe mich beobachtet, wie man ein Tier beobachtet: Wie ich mich in dieser Situation verhalten werde, was ich mache und was mit mir gemacht wird“ (Esterházy 2004: 15). Dass der Erzähler und die Person Esterházy hier in Beziehung zur historischen Vergangenheit und ihrer Präsenz in der eigenen Gegenwart steht, wird durch das zentrale Thema des tagebuchartigen Textes – Esterházys Auffinden der Agentenberichte des eigenen Vaters aus der Zeit des ungarischen Kommunismus – hervorgerufen. Die Kommentare und Notizen des Erzählers stehen hier neben Originalauszügen der Geheimdienstakten. Dass in der Art und Weise der Bezugnahme auf historische Stoffe neben ästhetischen auch ethische Kriterien eine Rolle spielen, wird sowohl von Hoppe (vgl. dazu Hoppe 2009: 227 f.) als auch von Esterházy angeführt: „Ich muss mich jetzt der Wirklichkeit anpassen, bisher nur den Wörtern“ (Esterházy 2004: 7). Dabei wird Verbesserte Ausgabe auch explizit als „Positionssuche“ (ebd., 18) bestimmt.

  99. 99.

    Wobei im Roman eine klassisch-kathartische Wirkung suggeriert wird, gemäß derer die Erzählerin (und Person) Figuren schafft, „um […] nicht zuletzt im wirklichen Leben mit sich und ihren Angelegenheiten ins Reine zu kommen“ (Hoppe 2012: 106).

  100. 100.

    So schließt auch Hoppe mit „To be continued. (Fortsetzung folgt./fh)“ (Hoppe 2012: 330).

  101. 101.

    So schreibt Plessner in Der imitatorische Akt: „Von ‚Verkleidung‘ als Mittel des Dimensionsgewinns kann allerdings korrekt nur da gesprochen werden, wo der Rollenträger seine Beziehung zur Rollenfigur immer noch erkennen läßt und mit zur Darstellung bringt“ (GS VII 455).

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Weiland, M. (2019). Narrative Selbstbezüglichkeiten des Menschen. Perspektiven Philosophischer und literarischer Anthropologie anhand von Beispielanalysen zur Gegenwartsliteratur. In: Mensch und Erzählung. Schriften zur Weltliteratur/Studies on World Literature, vol 9. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-04903-2_6

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