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Die Philosophische Anthropologie Plessners, die Subjektivitätstheorie Ricœurs und die literarische Anthropologie – Ansatzpunkte, Ziele und Methoden

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Part of the book series: Schriften zur Weltliteratur/Studies on World Literature ((SWSWL,volume 9))

Zusammenfassung

Im 2. Kapitel werden auf philosophisch-systematischer Ebene methodologische Fragestellungen und Ansatzpunkte erörtert und reflektiert. Dabei geht es zunächst um die grundlegende Ausrichtung und den Ansatz der Anthropologie Plessners und die daran anschließende Frage, inwiefern sich dieser auch methodisch mit der Subjektivitäts- und Erzähltheorie Ricœurs zusammendenken und verbinden lässt. Die verschiedenen Forschungsperspektiven literarischer Anthropologie bieten hierfür auf literaturtheoretischer Ebene eine analytisch und erkenntnisleitend anwendbare Schematisierung und Fokussierung, anhand derer die weitere Untersuchung vollzogen werden kann. Dies betrifft einerseits die systematische Verbindung von Anthropologie, Subjektivitätstheorie und Erzähltheorie, andererseits aber auch die Analyse literarischer Texte hinsichtlich ihrer jeweiligen Menschenbilder und ihrer jeweils narrativ hergestellten und vermittelten Ordnungen anthropologischen Wissens.

Wenn man die Kunst nicht entbehren kann, so offensichtlich deshalb, weil durch sie eine Selbstauslegung des Menschen geschieht. Versteht man die anthropologische Dimension der Literatur in diesem Sinne, dann gilt es, von vornherein die axiomatische Bestimmung des Menschen zu verabschieden, die in den verschiedenen Richtungen der Anthropologie vorausgesetzt sind

Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre

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Notes

  1. 1.

    Max Scheler (1947: 9 f.) konstatiert als Ausgangsstellung der Philosophischen Anthropologie ein doppeltes Problem: Zum einen konkurrierten drei Ideen- und Traditionskreise – ein theologischer, ein naturwissenschaftlicher und ein philosophischer – um die Vorherrschaft der Bestimmung des Menschen miteinander. Zum anderen verdeckten die unterschiedlichen sich mit dem Menschen auseinandersetzenden Einzelwissenschaften mehr das Wesen des Menschen, als dass sie es erhellten. Demzufolge sei sich der Mensch zu keiner anderen Zeit der Geschichte selbst so problematisch geworden wie im 20. Jahrhundert: „So besitzen wir denn eine naturwissenschaftliche, eine philosophische und eine theologische Anthropologie, die sich nicht umeinander kümmern – eine einheitliche Idee vom Menschen aber besitzen wir nicht“ (ebd.). Diesem Befund schließt sich auch Ernst Cassirer an: Weder bestehe eine Einheit hinsichtlich der für den Menschen zuständigen wissenschaftlichen Disziplinen noch hinsichtlich einer Methodik, die das aus unterschiedlichen Perspektiven gesammelte Wissen über den Menschen zu ordnen vermag (Cassirer 2007: 44 ff., vgl. Paetzold 1995: 199). Ganz folgerichtig gibt Cassirer daher auch dem ersten Kapitel in seinem Versuch über den Menschen den Titel „Die Krise der menschlichen Selbsterkenntnis“. Obgleich sich die Anthropologie Plessners von der Schelers und Cassirers in einigen Aspekten grundlegend unterscheidet, sieht sie sich doch ebenfalls mit dieser Ausgangslage konfrontiert. So verweist Plessner in Macht und menschliche Natur (1931) auf die Problematik, mit der sich eine universelle Anthropologie – die das „Psychische ebenso wie das Geistige, das Individuelle ebenso wie das Kollektive, das in einem beliebigen Zeitquerschnitt Koexistierende ebenso wie das Geschichtliche“ (Macht 147) zu umfassen sucht – angesichts der zunehmenden Spezialisierung und Ausdifferenzierung in Anthropologien bzw. anthropologisch orientierte Disziplinen sowie deren rasant anwachsende und sich überbietende Wissensmengen konfrontiert sieht: „Denn wie dürfte es heute im Zeitalter spezialistisch entwickelter Person- und Völkerpsychologie, Ethnologie, Soziologie und Geschichtswissenschaft, von allen biologischen und medizinischen Fächern ganz abgesehen, noch möglich sein, zu so etwas wie einer Universalerkenntnis den Menschen durchzudringen? Wie dürften wir hier, wo alles im Fluß ist, auf irgendeine bleibende Synthese hoffen, die nicht schon nach wenigen Jahren überholt ist?“ (ebd.).

  2. 2.

    Das heißt jedoch nicht, dass sich Plessner gegen die Einzelwissenschaften ausspricht. Vielmehr ist er bestrebt, ihre Ergebnisse für die anthropologische Theoriebildung offen zu halten. In Die Aufgabe der Philosophischen Anthropologie spricht Plessner auch explizit von einer „dreifachen Verbundenheit der Philosophischen Anthropologie“ (GS VIII 36): mit der Philosophie, mit den Einzelwissenschaften und der geschichtlichen Situation des Menschen. In Der Aussagewert einer Philosophischen Anthropologie führt Plessner zusammenfassend aus: „So stellt sich eine Philosophische Anthropologie als Lehre von den Bedingungen der Möglichkeit eines menschenhaften Wesens der vollen Erfahrung in Natur und Geschichte. Ihr sind die Forschungen auf dem Gebiet der Vor- und Frühgeschichte ebenso wichtig wie die über keimesgeschichtliche und kindliche Entwicklung“ (GS VIII 398).

  3. 3.

    Plessner bestimmt sein apriorisches Vorgehen im Vorwort zur zweiten Auflage der Stufen des Organischen und der Mensch folgendermaßen: „Apriorisch darf eine solche Theorie nur in dem Sinne heißen, daß sie den Bedingungen der Möglichkeit nachgeht, die erfüllt sein müssen, damit ein bestimmter Sachverhalt unserer Erfahrung stattfinden kann. Apriorisch ist die Theorie also nicht kraft ihres Ausgangspunktes, als wolle sie aus reinen Begriffen unter Beiziehung von Axiomen ein deduktives System entwickeln, sondern nur kraft ihrer regressiven Methode, zu einem Faktum seine inneren ermöglichenden Bedingungen zu finden“ (Stufen xx). Anwendung findet dieses Vorgehen dann bspw. in der schrittweisen Entwicklung einer apriorischen Theorie des Organischen, die allerdings – das wird sich im folgenden Kapitel zeigen – auch für anorganische Körper gültig ist: „Eine derartige apriorische Theorie des Organischen hat, so scheint es, mehr Verwandtschaft mit einer Dialektik als mit einer Phänomenologie. Sie geht von einem Grundsachverhalt, dessen Realität sie durchaus hypothetisch behandelt, aus und gelangt Schritt für Schritt von einer Wesensbestimmung zur anderen. Die Wesensbestimmungen ergeben sich aus einander, ordnen sich in Stufen, offenbaren sich als ein großer Zusammenhang, der damit wiederum als Manifestation des Grundsachverhalts begriffen wird“ (Stufen 115).

  4. 4.

    Siehe dazu auch die gut zusammenfassenden Worte Hammers: „Der Mensch hat so etwas wie ein allgemeines Wesen, das sich in den mannigfachen Weisen geschichtlich erfahrbaren menschlichen Selbstvollzugs auslegt. Darum kann die Methode der philosophischen Anthropologie nicht rein empirisch sein. Der Mensch ist […] gerade im geschichtlichen Vollzug der Schöpfer seines eigenen Apriori; darum kann die Methode der philosophischen Anthropologie nicht rein apriorisch sein“ (Hammer 1967: 37). Ein ähnlicher Sachverhalt lässt sich auch im Rahmen einer Theorie personaler Identität geltend machen. Denn eine Identitätstheorie beinhaltet immer sowohl eine universelle als auch eine kulturell-spezifische Dimension (Keupp u. a. 2006: 28). Erstere kann dabei nur vor dem Hintergrund einer anthropologisch-philosophisch orientierten Konzeption zum Vorschein kommen und muss dabei zugleich den spezifischen empirischen Untersuchungen, wie sie bspw. von den Sozialwissenschaften vorgenommen werden, standhalten können (ebd., 31) – und vice versa.

  5. 5.

    Sie bildet für Plessner auch den wesentlichen Unterschied zwischen ‚anthropologischen Philosophien‘ (die mit einer konkreten Wesensbestimmung des Menschen argumentieren) einerseits und seiner ‚Philosophischen Anthropologie‘ andererseits (GS VIII 36 ff.; vgl. Krüger 2013: 124).

  6. 6.

    Eine kurze und rein formale Anmerkung: Im Folgenden werden Hervorhebungen in Originalzitaten nicht mehr gesondert gekennzeichnet. Insofern nicht extra angemerkt, sind etwaige Hervorhebungen immer Teil des zitierten Textes.

  7. 7.

    Dieser Ernst ergibt sich auch aus den ethischen und politischen Schlussfolgerungen, die eine Bestimmung des Menschen nach sich ziehen. So schreibt Plessner im Jahr 1931 in Macht und menschliche Natur: „Denn der Begriff des Menschen ist nichts anderes als das ‚Mittel‘, durch welches und in welchem jene wertdemokratische Gleichstellung aller Kulturen in ihrer Rückbeziehung auf einen schöpferischen Lebensgrund vollzogen wird“ (Macht 186). Damit verbunden ist dann auch der Verzicht auf die Verabsolutierung und Bevorzugung eines bestimmten kulturellen Werte- und Kategoriensystems (ebd., 185 f.).

  8. 8.

    Schneider (2015: 223) führt hier auch sprachanalytische Überlegungen mit an, nach denen zu vermuten ist, „dass Plessner mit Bedacht substantivische Formulierungen vermeidet, etwa einen Ausdruck wie das Unergründliche am Menschen, mit dem der falsche Eindruck erzeugt werden könnte, er bezöge sich auf spezifische Merkmale der menschlichen Natur, die zwar so weit verständlich sein müssten, dass die Zielsetzung eines Ergründungsprojekts nachvollziehbar wäre, die aber zugleich dafür verantwortlich wären, dass dieses Projekt unmöglich realisiert werden kann“.

  9. 9.

    Demgegenüber fasst Bek (2011) – trotz der Tatsache, dass er sich zuvor gegen jegliche konkrete apriorische Wesensbestimmung des Menschen ausgesprochen hat (ebd., 138 ff.) – das Prinzip der Unergründlichkeit als eine konkrete Bestimmung des Menschen auf: „Damit meint Unergründlichkeit, was Sache ist, gedacht als ein Prinzip des Was-Seins des Menschen und nicht nur, dass der Mensch so betrachtet werden soll“ (ebd., 153). Und in der Tat lässt sich in der plessnerschen Fassung des Konzepts auch eine Verschiebung feststellen. Ist der Begriff in der geschichtsphilosophischen Schrift Macht und menschliche Natur vor allem als methodologisch-regulatives Prinzip gebraucht, so finden sich im späteren Aufsatz Homo absconditus (1969) Wendungen, die auf eine spezifische Seinsweise abzielen. So spricht Plessner bspw. sowohl von der „Einsicht in die Unergründlichkeit des Menschen“ (ebd., 366) als auch davon, dass der Begriff „die Natur des Menschen“ treffe (ebd., 365): Denn die menschliche Natur „lässt sich nur als eine von ihrer biologischen Basis jeweils begrenzte und ermöglichende Lebensweise fassen, die den Menschen weiterer festlegender Bestimmung entzieht“ (ebd.).

  10. 10.

    In seiner Autobiographischen Einführung verweist Plessner selbst auf die primäre Funktion der Kritik und Korrektur, die seiner Philosophischen Anthropologie zukommt: „Philosophisch kommen wir nur weiter, wenn wir die anthropologische Reflexion als Korrektiv einsetzen. Wem das zu wenig ist, und wer von der Anthropologie Anweisungen zum seligen oder auch nur zum täglichen, allzu täglichen Leben erwartet, den muß sie enttäuschen“ (Plessner 2004a: 7). Diese kritische Haltung der Unergründlichkeit gegenüber allen dogmatischen, naturalistischen oder kulturalistischen Bestimmungen des Menschen wird in der Forschung immer wieder hervorgehoben. So schreibt etwa Gamm: „Sie verteidigt die Unausdeutbarkeit des Menschen gegen alle Strategien einzelwissenschaftlicher Forschung, welche immer im Begriff stehen, ‚das ganze Wesen endlicher vernünftiger Naturen‘ (Fichte) zu vereinseitigen und zu verdinglichen“ (Gamm 2005: 202). Ebenso spricht auch Kämpf die Funktion der „Kritik definitorischer und definitiver Bestimmungen sowie einseitiger Festlegungen des Menschen“ (Kämpf 2005: 217) durch das Prinzip der Unergründlichkeit an.

  11. 11.

    In diesem Sinne ist die Philosophische Anthropologie auch nicht einfach eine zu den anderen Wissenschaften vom Menschen hinzutretende Wissenschaft (Kämpf 2005: 217). Sie ist, so Plessner in Über einige Motive der Philosophischen Anthropologie, vielmehr „die ständig kritische Besinnung auf deren Grundlagen und Begrenzungen. Als eine derartige Besinnung auf sein eigenes Wesen entzieht sie dem Menschen der Vergegenständlichung und damit seiner Verfügbarmachung für die Abstraktionen der Wissenschaften und der Gesellschaft“ (GS VIII 135).

  12. 12.

    Er schreibt: „Wesentlich bleibt die durchgehende Tendenz nach einer Überwindung der fraktionierenden Betrachtungsweise des Menschen in Philosophie, Biologie, Psychologie, Medizin und Soziologie; jener Betrachtungsweise, die zwar nicht immer in der neuzeitlichen Wissenschaft geherrscht hat, aber stets wieder zur Herrschaft gelangte, und für die Descartes das Stichwort gab; die den Menschen spezialistisch vergegenständlichte und über dieser Aufteilung in Seinsgebiete die Lebenseinheit aus den Augen verlor“ (Stufen 37).

  13. 13.

    Dabei will Plessner jedoch nicht das Prinzip der offenen Frage gegen das Prinzip der geschlossenen Frage ausspielen; vielmehr haben beide Fragerichtungen ihre berechtigten Kontexte und können unter Umständen auch einander ergänzen und sich ineinander verschränken (Krüger 2015: 24). Als Beispiel führt Krüger (ebd.) ein Zitat Plessners an, das expliziert, dass sich gerade in der Entwicklung des Begriffs der exzentrischen Positionalität beide Frageformen (hermeneutisches Verstehen und ontisch-ontologisches Erklären) ineinander verschränken ohne einander abzulösen: „Exzentrische Position als Durchgegebenheit in das Andere seiner Selbst im Kern des Selbst ist die offene Einheit der Verschränkung des hermeneutischen in den ontisch-ontologischen Aspekt: der Möglichkeit, den Menschen zu verstehen, und der Möglichkeit, ihn zu erklären, ohne die Grenzen der Verständlichkeit mit den Grenzen der Erklärbarkeit zur Deckung bringen zu können“ (Macht 231).

  14. 14.

    Dabei konzipiert Plessner die gewählten Begrifflichkeiten nicht nur gegenüber den Einzelwissenschaften, sondern auch gegenüber philosophiegeschichtlich konkurrierende Begriffe (‚Ich‘, ‚Geist‘, ‚Seele‘ etc.), die ihm zufolge zwei Probleme aufweisen: zum einen seien sie aufgrund ihrer langen Tradition und Begriffsverwendung grundsätzlich mehrdeutig, zum anderen implizierten sie allzu häufig selbst wiederum eine bestimmte Präferenz bezüglich eines konkreten Menschenbildes (vgl. GS VII 243). „Deshalb ist die Einführung eines neutralen, von jeder Deutung menschlicher Wesentlichkeit und Eigentlichkeit sich zurückhaltenden Begriffs wie jenes der ‚exzentrischen Positionalität‘ mit Bedacht gewählt“ (ebd.).

  15. 15.

    Arlt gibt in seiner kursorischen Aufzählung nur einen kurzen Überblick über die Begriffe und Wendungen, mit denen Plessner die Situation des Menschen zu beschreiben versucht: „Wurzellosigkeit, Gleichgewichtslosigkeit, Unergründlichkeit, prinzipiell entfremdet; ortlos, zeitlos, ins Nichts gestellt; nach Ausdruck drängen; in der zweideutigen Lage Ding unter Dingen und absolute Mitte sein; ein Leben zu führen, das aufgegeben ist, will sagen, sich zu dem, was es schon ist, erst machen muss; in der Geschichte eine Spur eigener Unrast und Produktivität zu hinterlassen; ein sich selbst nicht ausschöpfbares Sein (homo absconditus) usw.“ (Arlt 2001: 118).

  16. 16.

    Für Ebke (2012) bildet bspw. der Neologismus der Positionalität auch einen „Durchbruch“ (ebd., 88) und eine „semantische Raffinesse“ (ebd., 87); Letzteres vor allem deshalb, weil drei konzeptionelle Aspekte begrifflich ineinandergeführt werden und ein Spannungsverhältnis erzeugen: erstens das aktiv-vollziehende Moment der Positionsnahme bzw. -setzung des Lebendigen aus sich selbst heraus, zweitens das passiv-erleidende Moment des Gesetzt- und Festgelegtwerdens durch Äußeres, drittens die doppelte Bezugnahme des Lebendigen einerseits auf andere Positionen, an denen es nicht ist, und andererseits auf diejenige Position, an der es gerade ist. (vgl. ebd.).

  17. 17.

    Dabei nehmen einige Interpreten eine kritische Haltung gegenüber diesem quasi-literarischen Stil Plessners ein. So kritisiert z. B. Grünewald (1993: 271), dass Plessner „insbesondere dort, wo der Leser dringend exakte Begriffe braucht, Metaphern, Bilder und präpositional überfrachtete Termini“ benutze. Demgegenüber wird in der vorliegenden Arbeit die Meinung vertreten, dass diese stilistische Besonderheit in einem kohärenten Verhältnis zum anthropologischen Theorieansatz steht und mit ihm korrespondiert; ja, dass der anthropologische Ansatz seine Stärke vielmehr auch aus der Beschaffenheit seiner sprachlichen Begriffe erhält.

  18. 18.

    Ebke (2012: 95) fasst Plessner auch als Denker der Verschränkung, dem es darum geht, „zueinander gegenläufige, einander unterbrechende Momente aufzuweisen, die bei aller Widersprüchlichkeit gleichwohl als Aspekte einer dinglichen Einheit bestehen“.

  19. 19.

    Plessner verfolgt damit einem ähnlichen Denkansatz wie Max Scheler. Dieser schreibt in Die Stellung des Menschen im Kosmos: „Die Sonderstellung des Menschen kann uns erst deutlich werden, wenn wir den gesamten Aufbau der biophysischen Welt in Augenschein nehmen“ (Scheler 1947: 11). Auch aufgrund dieser – oberflächlich betrachteten – Gemeinsamkeit wird Plessner mit einem Plagiatsvorwurf von Seiten Schelers konfrontiert (vgl. Fischer 2006a: 324 f.); ein Vorwurf, der sich bei näherer Betrachtung zwar nicht aufrechterhalten lässt, doch – neben Plessners Emigration aufgrund seiner jüdischen Wurzeln und der Oppositionsstellung seines Denkens gegenüber der wirkmächtigen Philosophie Heideggers – einen weiteren Faktor bildet, der der Rezeption des plessnerschen Werks zunächst einmal entgegenwirkte (vgl. zur Rezeption auch Krüger 2009b: 65 f.).

  20. 20.

    Großheim/Thies (2009: 208) zufolge bildet die Phänomenologie das wichtigste Gegenmodell zur naturwissenschaftlichen Deutung des Menschen und dem damit verbundenen Reduktionismus, welcher sich aktuell u. a. in den Debatten der Neurowissenschaft beobachten lässt. Darüber hinaus bietet der phänomenologische Ansatz mit seinem „naiv-voraussetzungslosen“ Standpunkt und seiner „Wendung zum Objekt“ für Plessner gerade deshalb einen „neutralen“ Boden, um den fundamentalen Gegensatz von Leib und Seele überprüfen zu können, da er es ermöglicht, aus den Bahnen traditioneller Erkenntnistheorie auszubrechen (Pietrowicz 1992: 310 ff.).

  21. 21.

    Plessner stellt dabei, so Gesa Lindemann (2005: 85), „nicht das Subjekt als Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis in den Mittelpunkt, sondern formuliert ein Primat des Objekts. Es geht also um die Bedingungen, die auf der Seite des Objekts gegeben sein müssen, damit es als Objekt mit diesen oder jenen Eigenschaften erkannt werden kann“.

  22. 22.

    Vergleiche auch Ebke (2012: 51): „Schon der methodische Initialschritt der Stufen, der nicht in medias res lebendige Dinge beschreibt, sondern danach fragt, was in der Wahrnehmung überhaupt als ‚Ding‘ firmiert – schon dieser Initialschritt stellt einen phänomenologisch-hermeneutischen Modus her, einen Modus des Wissens, unter dessen Bedingungen es allererst möglich ist, bestimmte Dinge als lebendig wahrzunehmen und zu prädizieren.“ Zu Plessners Verhältnis zur phänomenologischen Bewegung siehe genauer Krüger (2006: 201 ff.) und Hammer (1967: 41–51).

  23. 23.

    Den Weg dahin weist auch Dilthey (1990a: 318 f.): „Wir nennen den Vorgang, in welchem wir aus Zeichen, die von außen sinnlich gegeben sind, ein Inneres erkennen, Verstehen […]. Wohl sage ich: ich verstehe nicht, wie ich so handeln konnte, ja ich verstehe mich selbst nicht mehr. Damit will ich aber sagen, daß eine Äußerung meines Wesens, die in die Sinnenwelt getreten ist, mir wie die eines Fremden gegenübertritt und daß ich sie als eine solche nicht zu interpretieren vermag, oder in dem anderen Falle, daß ich in einen Zustand geraten bin, den ich anstarre wie einen fremden. Sonach nennen wir Verstehen den Vorgang, in welchem wir aus sinnlich gegebenen Zeichen ein Psychisches, dessen Äußerung sie sind, erkennen. Dies Verstehen reicht von dem Auffassen kindlichen Lallens bis zu dem des Hamlet oder der Vernunftkritik. Aus Steinen, Marmor, musikalisch geformten Tönen, aus Gebäuden, Worten und Schriften, aus Handlungen, wirtschaftlichen Ordnungen und Verfassungen spricht derselbe menschliche Geist zu uns und bedarf der Auslegung […]. Solches kunstmäßige Verstehen von dauernd fixierten Lebensäußerungen nennen wir Auslegung oder Interpretation“.

  24. 24.

    Plessner unterscheidet dabei drei Bereiche der Hermeneutik. Er fasst sie als „eine Wissenschaft des Ausdrucks, des Ausdrucksverstehens und der Verständnismöglichkeiten“ (Stufen 23, vgl. dazu auch Krüger 2008: 124). Es geht hierbei also nicht um eine spezielle Hermeneutik, wie sie sich bspw. jeweils in den Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaften finden lässt, sondern um eine allgemeine Hermeneutik, die die Präsuppositionen alltagsweltlicher Erfahrung wie auch erfahrungswissenschaftlicher Anthropologien freilegen soll (Krüger 2008: 118–123). Durch die damit verbundene, ja notwendige, naturphilosophische Fundierung geht sie schließlich weit über den Ansatz Diltheys hinaus (Ebke 2012: 59), da Plessner die rein geisteswissenschaftliche Hermeneutik in ihrer naturhaften Bedingtheit darstellt (ebd., 92): „Wiederum unter diesem Aspekt einer universellen Wissenschaft vom Ausdruck erweist es sich als notwendig, die Probleme einer philosophischen Anthropologie, einer Lehre vom Menschen und den Aufbaugesetzen seiner Lebensexistenz aufzusuchen und zu verfolgen. Hierher gehören die Fragen der Wesensstruktur der Persönlichkeit und Personalität überhaupt, ihrer Ausdrucksfähigkeit und Ausdrucksgrenzen, der Bedeutung des Leibes für Art und Reichweite des Ausdrucks, die Fragen der Wesensformen der Koexistenz von Person und ‚Welt‘, also die bedeutungsvolle Frage des menschlichen Lebenshorizonts und seiner Variierungsfähigkeit, die Frage der möglichen Weltbilder“ (Stufen 24).

  25. 25.

    Laut Plessner darf die Hermeneutik auch nicht vor der Leiblichkeit des Menschen halt machen: „Hermeneutik fordert eine Lehre vom Menschen mit Haut und Haaren“ (GS VIII 158).

  26. 26.

    „Menschliches Leben braucht eine Spiegelwelt kultureller Ausdrucksweisen, um Leben zu sein“ (Bialas 2005: 110).

  27. 27.

    Hier zeigt sich schon in Ansätzen eine Möglichkeit der Überwindung des (cartesianischen) dualistischen Denkens von Geist und Körper, Leib und Seele, innen und außen etc. anhand eines Ausdrucksbegriffs, der die jeweiligen Oppositionen unterwandert: „Der Anticartesianismus in der Phänomenologie des Ausdrucks besteht nun wesentlich darin, dass der Ausdruck als ursprüngliche Verschränkung von Seelischem und Körperlichem verstanden wird – eine Formulierung, die man so freilich nur geben kann, nachdem vorher zwischen beidem unterschieden worden ist. Man spricht deshalb phänomenologisch lieber nicht von Verschränkung, sondern von psychophysischer Indifferenz; in diesem Sinne ist der leibliche Ausdruck ein Geschehen, das aller Unterscheidung von Seelischem und Körperlichem vorausliegt. Denn das Lebewesen, das auf diesem Wege Kontakt zur Umwelt aufnimmt, ist als solches zunächst ungeteilt“ (Richter 2012: 213, vgl. zur anticartesianischen Produktivität des Ausdrucksbegriffs auch Meuter 2006: 83).

  28. 28.

    Dabei meint der Begriff des Ausdrucks bei Plessner, wie Ebke (2012: 110 f.) zeigt, zweierlei: Zum einen bringt das Lebendige etwas zum Ausdruck, zum anderen ist es selbst Ausdruck. Damit ist eine Zweideutigkeit der Ausdruckssphäre in der plessnerschen Philosophie verbunden: Einerseits ist der Ausdruck als eine Vollzugsform der exzentrischen Positionalität zu verstehen und daher Teil der (offen gehaltenen) anthropologischen Bestimmung des Menschen (Kämpf 2003: 316) durch die drei Grundgesetzte, andererseits bildet der Ausdruck „die Voraussetzung und die Grundlage der Verschränkung von Verhaltensweisen und damit das Fundament derjenigen Gestaltungs- und Darstellungsfunktionen, die zu höherstufigen, symbolvermittelten bzw. verbalen Interaktionsformen und zur Selbsterzeugung der Kommunikationsmittel führen“ (Loenhoff 2008: 183).

  29. 29.

    Ricœur identifiziert dabei zwei Wege, Hermeneutik und Phänomenologie miteinander zu verbinden: einen „kurzen“ und einen „langen“ (Ricœur 1973: 14). Der „kurze“ Weg wird als der Weg Heideggers beschrieben, welchem es darum geht, das Verstehen als ontologische Kategorie auszumachen. Dies geschieht in Sein und Zeit dadurch, dass das Verstehen nicht mehr nur als Modus der Erkenntnis, sondern als Modus des Seins gefasst wird: „Hinsehen auf, Verstehen und Begreifen von, Wählen, Zugang zu sind konstitutive Verhaltungen des Fragens und so selbst Seinsmodi eines bestimmten Seienden, des Seienden, das wir, die Fragenden, je selbst sind“ (Heidegger 2006: 9). Ricœurs Kritik an Heidegger lautet nicht dahingehend, das Verstehen als Seinsart des Daseins – demzufolge sich das Dasein immer schon in einem bestimmten Seinsverständnis bewegt (vgl. ebd., 5) – ausgezeichnet zu haben, sondern vielmehr dahingehend, dass Heidegger die Problematik des Verstehens als einer Methode nicht berücksichtige. Stattdessen fragt Heidegger direkt, wie ein Sein beschaffen sei, dessen Sein sich dadurch auszeichnet, dass es sich in seinem Sein zu diesem seinem Sein verstehend verhält (siehe ebd., 12). Demgegenüber stellt Ricœur (wie auch Plessner) zunächst einmal die Frage, unter welchen Bedingungen ein Subjekt einen Text oder die Geschichte verstehen kann (vgl. Ricœur 1973: 14 f.). Zur Auseinandersetzung Ricœurs mit Heidegger siehe auch Mattern (1996: 28–37 und 64–73). Der Begriff der hermeneutischen Phänomenologie wird auch explizit von Waldenfels (1987: 266) zur Charakterisierung des methodischen Vorgehens von Ricœur verwendet.

  30. 30.

    Wobei Ricœur, ähnlich wie Plessner, insofern über Dilthey hinausgeht als er bestrebt ist, die starre Dichotomie zwischen naturwissenschaftlichem Erklären und geisteswissenschaftlichen Verstehen aufzulösen und in ein dialektisches Verhältnis zu überführen (Orth 2004: 27, Venema 2000: 11).

  31. 31.

    Zwar finden sich bisher keine Hinweise auf direkte Rezeptionslinien zwischen Plessner und Ricœur (de Leeuw 2013: 33), doch können nichtsdestotrotz ‚indirekte‘ Rezeptionsverläufe verfolgt werden. Neben bspw. Nietzsche und Dilthey, die von beiden positiv rezipiert werden, finden sich auch gemeinsame Oppositionsstellungen (insbesondere gegenüber dem Cartesianismus).

  32. 32.

    Denn die potenziell zu findenden Antworten bzw. Feststellungen sind aufgrund der Zeitlichkeit der menschlichen Existenz mit einem „temporalen Makel“ (Liebsch 2004: 53) versehen: Sie können immer nur vorläufig, provisorisch und unvollständig sein (vgl. ebd.).

  33. 33.

    In seiner Auffassung vom Verhältnis zwischen Subjekt und Diskurs geht Ricœur nicht so weit wie etwa Foucault, der in seiner – freilich vor einem strukturalistischen Hintergrund entwickelten – Diskurstheorie das Subjekt als Urheber von Diskursen nahezu vollständig ausblendet. Da der Subjektbezug für das Erzählen konstitutiv ist, wäre mit solch einer Vorannahme – Gleiches gilt bspw. auch für die Systemtheorie Luhmanns – das Konzept der narrativen Identität nicht haltbar (vgl. Fulda 2004: 252). Dabei wendet Ricœur gegen Foucault ein, dass die von ihm als kleinsten Teile des Diskurses angesehenen sprachlichen Aussagen doch nichts anderes sein können als Aussagen von Menschen, die mit diesen Aussagen, gemäß der Sprechakttheorie, Handlungen vollziehen, welche ein bestimmtes Ziel und damit auch eine bestimmte Wirkungsabsicht verfolgen: „Der Begriff des Textes darf nach Ricœur schon alleine deshalb nicht absolut gesetzt werden, weil man dann ausblenden müßte, daß da jemand ist, der spricht, erzählt, einen Text verfaßt“ (Orth 2004: 27). Dabei zeigt sich eine deutliche Kritik Ricœurs an strukturalistischen Ansätzen, die mit dieser Ausblendung des Subjekts zugleich auch ihre eigenen Voraussetzungen unthematisiert und unreflektiert lassen (vgl. Scharfenberg 2011: 145 ff.). Demgegenüber bietet die hermeneutische Methode eine Alternative: „Die Hermeneutik kennt keine Abgeschlossenheit der Zeichenwelt. Während die Linguistik sich innerhalb eines autarken Universums bewegt und immer nur mit intra-signifikativen Beziehungen […] arbeitet, stellt sich die Hermeneutik von Anfang an in die Öffnung der Welt der Zeichen“ (Ricœur 1973: 85). Ebenso wenig kann auch eine literarische Anthropologie nicht vor dem Hintergrund (post)strukturalistischer Theoriebildung funktionieren; ihr „focus is always on man as the prime agent and object of the process described. Literary anthropology is anthropocentric and stands as such in opposition to the dehumanized discourse-theory of poststructuralism“ (Schlaeger 1994: 77).

  34. 34.

    Der in diesem Werk verfolgte sinnestheoretische Ansatz stellt keinen Bruch im plessnerschen Gesamtwerk dar. Nach Hans-Peter Krüger kann Die Einheit der Sinne auch „rückwirkend von der exzentrischen Positionalität (Naturphilosophie) und deren Unergründlichkeit (Geschichtsphilosophie) her“ (Krüger 2008: 121) gelesen werden. Dabei entspricht der Grundimpuls der Einheit der Sinne auch dem umfassenden Theorieprogramm Plessners: der systematischen Verschränkung des Doppelaspekts Geist-Körper. So schreibt Hog (2015: 44) etwa: „Plessner möchte in seiner sinnesphilosophischen Untersuchung also der ‚ganzen Fülle des persönlichen Lebens‘ (ES: 17) gerecht werden, indem er seinen Blick auf die kulturell-symbolisch vermittelte Verschränkung von Materie und Bedeutung, Sinn und Sinnlichkeit, Geist und Körper, Leib und Umwelt richtet und damit systematisch Kultur und Naturphilosophie verzahnt.“ Dies wiederum sei eben ein Projekt, das an Cassirers zeitgleich entstehende Symboltheorie erinnere (ebd.) – da beide von der gleichen Leitthese getrieben seien: „dass sich die Funktion bzw. der Sinn der Sinne weder durch rationale Analyse noch durch psychologische Introspektion noch durch physiologische Untersuchungen erhellt, sondern nur in indirektem Zugriff über die kulturellen Objekte, in denen sich die Sinne verkörpern bzw. versinnlichen“ (ebd., 44).

  35. 35.

    Nach Joachim Fischer lassen sich diese unterschiedlichen und auch in ihren Differenzen vieldiskutierten (z. B. Orth 1996: 225–252, Schürmann 1997, Delitz 2005 und 2011, Lerch 2012) Ansätze grundlegend zusammendenken: „die Theorien, die eine Parataxe, eine Heterarchie der ‚symbolischen Formen‘ (Cassirer 1954) oder der ‚Sinngebungen‘ in einer ‚Ästhesiologie des Geistes‘ (Plessner 1923) oder der nicht aufeinander rückführbaren ‚Wissensformen‘ (Leistungswissen, Bildungswissen, Heilwissen; Scheler 1924) als Basis der Kultur- und Sozialwissenschaften aufzuweisen versuchten, [sind] genuin mit dem Theorieprogramm der Philosophischen Anthropologie verbunden. In allen diesen Theorien wird ‚Sprache‘ als spezifisches Medium des menschlichen Welt-, Selbst- und Sozialverhältnis aufgewiesen, aber nicht nur Sprache, sondern mit der Sprache zugleich ein Spektrum von ‚Medien‘, die – wiewohl sie auch zur Sprache gebracht werden können – in ihrer Logik nicht der Logik der Sprache folgen: z. B. Geometrie oder mathematische Naturwissenschaft oder ‚Leistungswissen‘ (als Medium der ‚Distanz‘), z. B. Musik/Tanz oder Mythos oder ‚Heilswissen‘/Mystik (als Medien der ‚Resonanz‘)“ (Fischer 2005: 177). Demzufolge kenne und brauche die Philosophische Anthropologie auch keinen ‚iconic‘ oder ‚accoustic turn‘; wendet sie sich in ihrem grundlegenden Ansatz doch ohnehin den nichtsprachlichen Zeichen und Medien zu und arbeitet dabei an einer biophilosophisch orientierten Theorie, mittels derer sich all diejenigen Zeichen und Medien, mit denen Menschen Welt zur Erscheinung bringen und sich auf eben jene wie auch auf sich selbst und Andere beziehen, auf die spezifisch anthropologische Konstitutionsform, d. h. die Positionalität des Menschen, zurückführen lassen (vgl. ebd.).

  36. 36.

    Das Konzept des animal symbolicum kann auch als eine Form der strukturellen Bestimmung des Menschen im Sinne Plessners verstanden werden: als eine formale Bestimmung, die nicht die Was-Frage stellt. Obwohl sich Cassirer in seinem Essay nicht explizit auf Plessner bezieht, so verortet er sich doch selbst – das weiß man mittlerweile aus seinen nachgelassenen Manuskripten – in dessen Nähe (Meuter 1996: 130, Lerch 2012: 208): „Wird die Aufgabe der philosophischen Anthropologie in diesem [Plessners, M.W.] Sinne verstanden, so erscheint damit der Kreis der Fragen, die sie umspannt, unserem eigenen Projekt nahe gerückt“ (Cassirer zit. nach Lerch 2012: 209). Cassirer selbst wiederum ist, siehe das Zitat weiter oben, Stichwortgeber für Ricœur, der seine Subjektivitätstheorie explizit als eine kontextualistische entwickelt: Das Subjekt ist demzufolge angewiesen auf die ihm voraus liegenden kulturellen Symbolwelten, anhand derer es sich – mit Plessner gesprochen – seine Innen-, Außen- und Mitwelt erschließt; was wiederum zur Voraussetzung hat, dass das menschliche Subjekt die Fähigkeit besitzt, sich nicht nur auf sich selbst als sich selbst zu beziehen, sondern dies auch noch über den Umweg symbolischer Ordnungen zu tun (bzw.: tun zu müssen). Demgegenüber sieht Plessner jedoch auch einige fundamentale Differenzen zu Cassirer – denke dieser doch Natur immer nur als symbolisch vermittelt und fokussiere daher den Menschen lediglich als Geist-, nicht jedoch als Naturwesen (vgl. ebd., 215). So schreibt Plessner im Jahr 1963 in seinem Aufsatz Immer noch Philosophische Anthropologie?: „Cassirer weiß zwar, daß der Mensch ein Lebewesen ist, aber er macht philosophisch davon keinen Gebrauch“ (GS VIII 243). Dementsprechend sei seine Theorie nicht als Philosophische Anthropologie, sondern als anthropologische Philosophie zu bezeichnen (ebd.).

  37. 37.

    „Indem Plessner sowohl das verstehende Bewusstsein als auch die kulturellen Ausdrucksformen untersucht, kommt er zu dem Ergebnis, dass es eine Entsprechung zwischen bestimmten kulturellen Ausdrucksformen und bestimmten Formen des verstehenden Bewusstseins gibt. Plessner unterscheidet zwischen drei Formen von Sinnverständnis, die sich jeweils in der Wissenschaft (schematisch-begreifendes Sinnverständnis, mit darstellbaren Gehalten), der Sprache (syntagmatisch-bedeutendes Sinnverständnis, mit präzisierbaren, wenn auch nicht abbildbaren Gehalten) und der Kunst (thematisch-deutendes Sinnverständnis, mit ihren weder eindeutigen noch mitteilbaren, prägnanten Gehalten äußern“ (Wilwert 2009: 128, vgl. auch Pietrowicz 1992: 204).

  38. 38.

    Vgl. auch noch einmal das bereits oben angeführte Zitat aus Macht und menschliche Natur, demzufolge der „Mensch als die schöpferische Durchbruchstelle seiner geistigen Welt, aus deren Werten und Kategorien er sich, seine Mitwelt und Umwelt versteht und behandelt, seines eigenen Apriori also und seiner ihm je schon vorgezeichneten Denk-, Willens- und Gefühlsmöglichkeiten verstanden werden“ soll (Macht 160). Sprache erscheint hier eben als dasjenige eigene Apriori, welches das menschliche Selbst- und Weltverhältnis, das eigene Denken, Fühlen, Wollen und Verhalten, vorzeichnet. Helmut Lethen zufolge habe das Psychische eine innere Affinität gegenüber ihren medialen Formen des Ausdrucks: „Die Impulse der Psyche sind den Gesetzmäßigkeiten der Künstlichkeit und ihrer Medien (der Grammatik der symbolischen Formen und des mimischen Austauschs mit der Umwelt auf der Basis des Leibschemas etc.) nicht mechanisch unterworfen. Sie besitzen vielmehr eine innere Affinität zu ihnen. Plessner ist insofern der Begründer einer anthropologischen Theorie der Medien, als er sie in die psychophysische Organisation des Menschen integriert“ (Lethen 2008: 27).

  39. 39.

    Das Verhältnis von Ausdruck und Sprache wird von den Plessner-Interpreten unterschiedlich gedeutet. Für Hildebrandt bildet Sprache die Bedingung der Möglichkeit exzentrischer Lebensformen und damit der Ausbildung des Gegensatzes von Körper-Haben und Leib-Sein: „This capacity to turn back on herself from the position of the other is afforded by language and constitutes the birth of eccentric positionality in humans“ (Hildebrandt 2014: 414). Ebenso interpretiert Ernst Tugendhat Plessner sprachtheoretisch. Demzufolge ermögliche erst die prädikative Struktur der menschlichen Sprache durch die Herstellung von Distanz, Verobjektivierung und Rationalität die Selbsttranszendenz des Menschen (Tugendhat 2007: 22 ff.). Demgegenüber zeigt Schloßbergers (2008: 212) Analyse von Lachen und Weinen, „dass der Bruch in der menschlichen Natur nicht erst von den intersubjektiven Leistungen der Sprache abhängig, sondern diesen vielmehr vorgängig ist.“ Dementsprechend kommt Schloßberger (ebd., 214 f.) zu der Schlussfolgerung: „Sprache ist eine Form von Ausdruck, aber Ausdruck ist an sich das ursprünglichere, reichere Phänomen. […] Die eigentliche conditio humana ist also der Sprache vorgelagert. Nicht durch die Sprache ist der Mensch Mensch, sondern durch eine Form von Intersubjektivität und spezifisch menschliches Ausdrucksverhalten, die Sprache erst ermöglichen.“ Die vorliegende Arbeit schließt sich dabei der Interpretation Schloßbergers an, zeigen doch gerade die Phänomene des Lachens und Weinens die Grenzen der willentlichen Beherrschung des menschlichen Körpers eben im Moment des Durchbruchs des leibseelischen Ausdrucks. So schreibt auch Plessner in Lachen und Weinen: „Verglichen mit Sprache, Gesten und mimischen Ausdrucksbewegungen dokumentieren Lachen und Weinen eine unübersehbare Emanzipiertheit des körperlichen Geschehens von der Person. In dieser Unverhältnismäßigkeit und Eigenwilligkeit vermuten wir das eigentlich Aufschließende der Phänomene. In keiner anderen Äußerungsform enthüllt sich die geheime Komposition der menschlichen Natur unmittelbarer als in ihnen“ (GS VII 236). Sprechen und Handeln dagegen geben zwar auch einen gewissen Aufschluss, allerdings führen sie den Menschen nur in der Situation einer gewissen Verfügungsgewalt und Beherrschbarkeit vor – die jedoch eben nichts über die Bindung an seinen eigenen leiblichen Körper verraten (vgl. ebd., 236 f.). Wenngleich, und das muss hier auch quasi relativierend im Blick auf den Aufsatz Ausdruck und menschliche Existenz eingeschoben werden, auch nicht zu leugnen ist, dass mit menschlicher Sprache auch die anthropologische Funktion der Distanzierung und Vergegenständlichung verbunden ist (GS VII 435); nur ist sie eben nicht Voraussetzung der exzentrischen Positionalitätsform. Dies entspricht auch den expliziten Äußerungen Plessners, der Sprache als „eine Expression in zweiter Potenz“ (Stufen 340) fasst – und daher auch die Möglichkeit bietet, die Expressivität des Menschen selbst wiederum zum Ausdruck zu bringen und dabei zum Gegenstand zu machen (ebd., 340). Daher wurde im Argumentationsgang der vorliegenden Untersuchung auch zuerst das Phänomen des Ausdrucks erörtert und anschließend das der Sprache. Denn aus der Perspektive Plessners ist Sprache dem Menschen letztlich ein Medium neben anderen, das er zur Erschließung von Selbst, Welt und Sozialität verwendet (Fischer 2015: 32).

  40. 40.

    Dabei bezieht sich die Hermeneutik auch auf die unterschiedlichen Einzelwissenschaften vom Menschen und befindet sich u. a. in stetem Kontakt mit Linguistik, Geschichtswissenschaft und Psychoanalyse (vgl. Mattern 1996: 9).

  41. 41.

    Zu den Implikationen dieser Auffassung siehe Breitling (2007: 78 ff.). Hier zeigen sich bereits Gemeinsamkeiten mit Forschungsansätzen literarischer Anthropologie: „Erst indem man auch Handlungen, Ereignisse und soziale Situationen als ‚Texte‘ betrachtet, werden sie – über ihre Situationskontingenz hinaus – für den kulturellen Prozess der Objektivierung von Bedeutungen erschlossen“ (Bachmann-Medick 1996: 10).

  42. 42.

    Dementsprechend könne auch die Handlungstheorie von den Erkenntnissen der Hermeneutik profitieren (Orth 2004: 31).

  43. 43.

    Dies wird später anhand des Konzeptes der dreifachen Mimesis genauer ausgeführt (siehe Kap. 5).

  44. 44.

    Daher ist es auch verfehlt, Ricœur unter die Kategorie „textimmanente Ansätze“ einzuordnen, wie dies in dem von Ulrich Schmidt (2010) herausgegebenen Überblick über Literaturtheorien des 20. Jahrhunderts geschieht.

  45. 45.

    Dass sich hier ein generelles und werkübergreifendes Vorgehen Ricœurs abzeichnet, wird von Greisch (2009: 108) hervorgehoben: „Wie immer bei Ricœur, stützen sich seine Untersuchungen auf eine Relektüre der Geschichte der Philosophie, wobei es sich in diesem Fall in erster Linie um eine Konfrontation mit zwei Hauptsträngen der neuzeitlichen Philosophie handelt, die sich im Wesentlichen mit zwei großen Namen verbinden: Descartes und Nietzsche“.

  46. 46.

    In einem Fragment aus dem Nachlass Nietzsches lässt sich dazu auch Folgendes finden: „Ich halte die Phänomenalität auch der inneren Welt fest: alles, was uns bewusst wird, ist durch und durch erst zurechtgemacht, vereinfacht, schematisiert, ausgelegt – der wirkliche Vorgang der inneren ‚Wahrnehmung‘, die Causalvereinigung zwischen Gedanken, Gefühlen, Begehrungen, wie die zwischen Subjekt und Objekt, uns absolut verborgen – und vielleicht eine reine Einbildung“ (Nietzsche KSA 13: 53).

  47. 47.

    Vgl. auch: „Subjekt: das ist die Terminologie unsres Glaubens an eine Einheit unter allen den verschiedenen Momenten höchsten Realitätsgefühls: wir verstehen diesen Glauben als Wirkung einer Ursache, – wir glauben an unseren Glauben so weit, dass wir um seinetwillen die ‚Wahrheit‘, ‚Wirklichkeit‘, ‚Substantialität‘ überhaupt imaginieren – ‚Subjekt‘ ist die Fiktion, als ob viele gleiche Zustände an uns die Wirkung eines Substrats wären: aber wir haben erst die ‚Gleichheit‘ dieser Zustände geschaffen; das Gleich-setzen und Zurecht-machen derselben ist der Tatbestand, nicht die Gleichheit (– diese ist vielmehr zu leugnen –)“ (Nietzsche KSA 12: 465).

  48. 48.

    In Jenseits von Gut und Böse führt Nietzsche im 16. Aphorismus an, welche kognitiven Operationen bereits stattgefunden haben müssen, damit der Satz „ich denke“ geäußert werden kann und schlussfolgert: „[J]enes ‚ich denke‘ setzt voraus, dass ich meinen augenblicklichen Zustand mit anderen Zuständen, die ich an mir kenne, vergleiche, um so festzustellen, was er ist: wegen dieser Rückbeziehung auf ein anderes ‚Wissen‘ hat er für mich jedenfalls keine unmittelbare ‚Gewissheit‘“ (Nietzsche KSA 5: 30).

  49. 49.

    Der Philosophie der Subjektivität wirft Ricœur vor, dass sie bisher (Herder ausgenommen) vollständig von der sprachlichen Vermittlungsfunktion abgesehen habe (SAA 21). Auch Descartes befinde sich in einer langen Traditionslinie des philosophischen Denkens, das versuche, „das Wissen der wahren Wissenschaft von dem abzusetzen, worin es sich darstellt, und Denken und Sprechen, ratio und oratio strikt getrennt zu halten“ (Konersmann 2007: 7). Auf die sprachliche Vermittlung des Denkens beruft sich hingegen Nietzsches Descartes-Kritik. Die Setzung des Cogitos als letzte Gewissheit der Erkenntnis ist demzufolge abhängig davon, dass zwischen Wahrheit und Täuschung unterschieden werden kann. Wenn das Denken aber sprachlich vermittelt ist und wenn der Sprache als wesentliche Eigenschaft eine Bildlichkeit zugesprochen wird, die – wie in Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn (Nietzsche KSA 1) – der Unterscheidung zwischen Wahrheit und Täuschung grundlegend entzogen ist (bzw.: deren Wahrheitsanspruch als selbst entworfene Illusion erscheint), dann muss auch die Annahme einer letzten Gewissheit als eine Illusion erscheinen (vgl. SAA 22 f., Mattern 1996: 195). Inwieweit sich Ricœur mit idealistischen Subjekttheorien, deren Konzeptionen ein explizit geschichtliches Denken beinhalten, auseinandergesetzt hat, ist nicht weiter klar. Ersichtlich ist jedoch, dass Ricœur „jeder psychogenetischen Behandlung des Problems der personalen Identität“ (Greisch 2009: 112) aus dem Weg geht und dementsprechend auch jedweden teleologisch orientierten Programmentwurf – bspw.: die Ausbildung des vollständigen Selbstbewusstseins – verabschiedet.

  50. 50.

    Insofern ist für Nietzsche die Annahme eines Subjekts als Urheber des Denkakts eine bloße Fiktion, die sich aus der „Gläubigkeit an die Grammatik“ (Nietzsche KSA 5: 54) ergibt. Vgl. dazu auch Aphorismus 17: „Was den Aberglauben der Logiker betrifft: so will ich nicht müde werden, eine kleine kurze Thatsache immer wieder zu unterstreichen, […] nämlich, dass ein Gedanke kommt, wenn ‚er‘ will, und nicht, wenn ‚ich‘ will; so dass es eine Fälschung des Thatbestandes ist, zu sagen: das Subjekt ‚ich‘ ist die Bedingung des Prädikats ‚denke‘“ (ebd., 30 f.). In der Genealogie der Moral spricht Nietzsche auch von der „Verführung der Sprache (und der in ihr versteinerten Grundirrthümer der Vernunft), welche alles Wirken als bedingt durch ein Wirkendes, durch ein ‚Subjekt‘ versteht und missversteht“ (ebd., 278).

  51. 51.

    Ricœur verfährt hier auch in einer sprachanalytischen Weise. In der Grammatik der natürlichen Sprachen ließe sich ein Primat der reflexiven Vermittlung gegenüber der unmittelbaren Position des Subjekts erkennen (SAA 9 f.).

  52. 52.

    So schreibt auch Kaul (2003: 10) – und dies bildet zugleich ihren Ausgangspunkt für die daran anschließende ergänzende Systematisierung mit der heideggerschen Fundamentalontologie –, dass der ricœursche Ansatz „keinen Eingang in die Daseinsstrukturen“ finde.

  53. 53.

    Daneben verweist Ricœur in Zeit und Erzählung auf die Möglichkeit, die Grundfrage seiner Untersuchung nach dem Zusammenhang von Narration und Zeiterfahrung mit Blick auf „die sekundäre Narrativierung der menschlichen Erfahrung“ (ZuE III 7) auch auf anderen – psychologischen, soziologischen und anthropologischen – Wegen zu lösen (ebd., 7 f.).

  54. 54.

    Siehe auch die zentrale These von de Leeuw (2013: 3): „My main working hypothesis is that Ricœur’s entire project tacitly absorbs the anthropological tradition while renewing its importance as a hermeneutic and humanistic anthropology. This means that the task of a philosophical anthropology is to understand the human both through its interpretative and creative ability and its capability to act towards, with and for others; the interpretation of the world in front of us, the interpretation of ‚who we are‘ and the interpretation of what it means to be among others (as ‚other selves‘) coalesces in a humanistic anthropology that binds the question of poetic (self-)understanding to a moral, ethical and just overall project reflecting our common existence“.

  55. 55.

    Vgl. auch: „Zwar ist ‚Anthropologie‘ kein Begriff, dem Paul Ricœur in seinen Schriften besondere Beachtung geschenkt hätte, geschweige denn, dass er sein Philosophieren selbst unter diesen Titel gestellt hätte. Gleichwohl lassen sich zentrale Etappen seines Werkes als Beiträge zur großen klassischen Frage Kants zusammenführen: Was ist der Mensch?“ (Bedorf 2015: 269).

  56. 56.

    In einer Nebenbemerkung in Das Selbst als ein Anderes bezeichnet Ricœur die von ihm erarbeitete Subjektivitätstheorie gar (in Parallelität zur heideggerschen Fundamentalontologie) als „Fundamentalanthropologie“ (SAA 127), die in Opposition zu Versuchen der Letztbegründung nach dem Modell des cartesianischen Cogito gestellt werden soll.

  57. 57.

    „So bleibt es ein Kuriosum, dass aus anthropologischen Forschungen im engeren Sinne überhaupt kein Name fällt, sich [im Werk Ricœurs] keinerlei Spuren einer Auseinandersetzung mit den Größen der deutschsprachigen Anthropologie des 20. Jahrhunderts finden“ (Bedorf 2015: 271).

  58. 58.

    Das daraus sich ergebende Vorgehen der Untersuchung – das systematische Zusammendenken zweier Ansätze, die vermutlich nicht im direkten Kontakt miteinander standen – ist mittlerweile auch in der Plessner-Forschung kein allzu ungewöhnliches Unterfangen mehr. So arbeitet bspw. Thomas Ebke (2012) an einer systematisch-methodologischen Verschränkung der Anthropologie Plessners und der Epistemologie Canguilhems. Auch bei diesen beiden Philosophien finden sich keinerlei Hinweise auf eine gegenseitige Rezeption oder überhaupt nur Wahrnehmung.

  59. 59.

    In seiner Dissertation zur philosophischen Anthropologie Ricœurs setzt sich de Leeuw mit den Theorien Max Schelers, Arnold Gehlens und Ernst Cassirers auseinander. In einer Fußnote verweist er allerdings auf die Relevanz der Verbindung der theoretischen Ansätze von Plessner und Ricœur: „Plessner’s bio-philosophical notion of ‚excentric positionality‘ (Exzentrische Positionalität) and ‚mediated immediacy‘ (vermittelter Unmittelbarkeit) as core aspects of the human do have particular similarities with Ricœur’s purely hermeneutic concepts of ‚distanciation‘ and ‚mediated meaning‘. A comparison of Ricœur and Plessner would be an interesting project, one yet to be embarked upon“ (de Leeuw 2013: 33, Anm. 73). Dabei geht es in der vorliegenden Studie weniger um einen Vergleich beider Denker und mehr um eine systematische Zusammenführung zentraler Begriffe und Konzepte sowie die sich daraus ergebenden Schlussfolgerungen auch im Blick auf die Analyse literarischer Texte.

  60. 60.

    „Als autoreflexive Gebilde besitzen literarische Texte eine epistemologische Dimension, die sich nicht nur auf das literarische Werk, seine Wissensgehalte und deren Darbietungsweise, nicht nur auf Sprache und deren Grenze bezieht, sondern darüber hinaus auch auf Sprache, Wissen und Darstellung schlechthin“ (Schmitz-Emans 2007a: 402).

  61. 61.

    Für eine Kritik an literaturanthropologischen Fragestellungen im Rahmen literaturwissenschaftlicher Forschung siehe z. B. Bittner (2004), der die Position vertritt, dass die Kategorie ‚Mensch‘ für die Literaturwissenschaft belanglos sei: „Wer Mentalitäten oder etwa das Umgehen einer Kultur mit Fremden an Texten ins Licht hebt, verschafft uns Erkenntnis, an der uns liegt und die uns auch verwandte Gegenstände besser verstehen lassen wird. Mit Anthropologie hat das nichts zu tun. Der Mensch kommt nicht dann erst in den Blick, wenn es um Kindheit, Tod, Fremdheit, Gewalt, oder was sonst die Stichwörter sind, geht. Lesen wir statt dessen Texte orientiert an der gesellschaftlichen Funktion, die sie einmal hatten, oder an den Klassenunterschieden, die sie bezeugen, oder an der Geschichte des Geistes, die sich in ihnen offenbart, so sind wir vom Menschlichen nicht weiter entfernt“ (Bittner 2004: 335 f.).

  62. 62.

    Die hier gewählte Klassifikation unterscheidet sich von derjenigen Wolfgang Riedels (2004), der, etwas trennschärfer, zwei Begriffe literarischer Anthropologie auseinander hält: Auf der einen Seite findet sich die an der Kulturanthropologie orientierte literaturwissenschaftliche Forschung (also: eine philologische Tätigkeit), auf der anderen Seite die anthropologische Gegenstände verarbeitende Literatur selbst (also: eine spezifische Funktion bzw. Kompetenz literarischer Texte). Dem entsprechen bei Riedel dann auch zwei Ausrichtungen: Literaturwissenschaft als Anthropologie („literary anthropology“) einerseits und Literatur als Anthropologie andererseits („literarische Anthropologie“). Die hier weiter verfolgten drei Perspektiven fokussieren hingegen vor allem literaturwissenschaftliche Forschungen. Dabei ist darauf hinzuweisen, dass die dadurch getroffenen Unterscheidungen im Sinne einer idealtypischen Heuristik zu verstehen sind. Die einzelnen Positionen selbst sind äußerst heterogen und nicht immer trennscharf voneinander abzugrenzen; weshalb auch einzelne Vertreter dieser Positionen unterschiedliche Perspektiven einnehmen und dementsprechend hier auch unter mehreren Perspektiven thematisiert werden können.

  63. 63.

    Im besonderen Fokus der Untersuchung Pfotenhauers (1987) steht dabei die Autobiografie als eine literarische Form, die es ermöglicht, die beiden – gemäß des traditionell dualistischen Denkens: getrennt voneinander existierenden – Seiten des Menschen zusammenzuführen; eine Möglichkeit, die Naturwissenschaften und Philosophie zu jener Zeit bereits verspielt hätten (Schlaeger 2004: 152). Siehe für die von Pfotenhauer untersuchten anthropologischen Denk- bzw. Argumentationsrichtungen auch folgendes Zitat: „Es sind dies die auf den Reflexionsbereich des einzelnen Subjekts bezogenen [Argumentationsrichtungen, MW] und nicht auf die Rassen und die physische und psychische Konstitution der Gattung. Für diese Anthropologien des Einzelmenschen wird dann die Autobiographie als Quelle der Erkenntnis des ganzen Menschen bedeutsam“ (Pfotenhauer 1987: 5). Gleiches gilt für das biografische Erzählen; auch dieses betrachtet das individuelle menschliche Leben immer wieder „in den Bedingungen seines spezifischen Mensch-Seins“ (von Zimmermann 2009: 62). Von Zimmermann spricht in diesem Kontext auch von einer biografischen Anthropologie, die als spezielle Form der literarischen Anthropologie verstanden werden kann (ebd.). Dabei lasse sich gerade an der Biografik eine gewisse Pluralisierung der Menschenbilder ablesen (ebd.: 66).

  64. 64.

    „In der Perspektive einer Literarischen Anthropologie ist dies kein bloßes Nebeneinander oder gar Zufall, sondern geradezu wechselseitige Bedingung. Denn die Tatsache, dass für den Menschen (als ein sinnbedürftiges Lebewesen) Literatur, Sprache, Schrift oder die Künste als kulturelle Medien immer schon einen anthropologischen Stellenwert haben, erhält mit der Entfaltung der Anthropologie als eines ausdifferenzierten Wissensbereiches eine umfassendere und selbstreferenzielle, meta-reflexive Bedeutung, die Literatur zu dem diskursiven Medium der Sinnlichkeit und Naturhaftigkeit des Menschen werden lässt“ (van Laak 2009: 340).

  65. 65.

    Beispielhafte und mitunter sehr genaue Untersuchungen finden sich u. a. bei Pfotenhauer (1987), Barkhoff/Sagarra (1992), Schings (1994), Bergengruen (2001) und Košenina (2008) für das 18. Jahrhundert, Riedel (1994) und Heinz (1996) für die Spätaufklärung, Riedel (1996) und Pfotenhauer/Riedel/Schneider (2005) für die Zeit um 1900 und Riedel (2014) für das 20. Jahrhundert. Gerade das seit den 1980er Jahren verstärkt auftretende und zunehmende Interesse für das 18. Jahrhundert bildet dabei eine der beiden zentralen Traditionslinien literarischer Anthropologie (van Laak 2009: 338). Auf dieser Traditionslinie bauen auch aktuelle Forschungen auf, die in ihren Themenstellungen u. a. spezifische anthropologische Teil- und Nebendiskurse in ihren historischen Ausprägungen und Entwicklungen im Spiegel literarischer Texte fokussieren. Hierbei geht es bspw. um Geschlechterdiskurse (Catani 2005, Igl 2014), Krankheitsdiskurse (Bölts 2016) oder ökonomische Diskurse (Bauer 2016). Um nur ein Beispiel zu umreißen: Unter dem Stichwort der literarischen Wirtschaftsanthropologie wird etwa der Beitrag literarischer Texte zum (historischen) Diskurs über den wirtschaftenden Menschen untersucht (ebd., 22 f.). Dadurch gerät Literatur „als Medium des ökomischen Denkens“ (ebd., 15) in den Blick, das ökonomische Rollen- und Menschenbilder darstellt, ausbildet, gestaltet, fortschreibt und/oder kritisch reflektiert (ebd., 24); und zwar indem sie u. a. zentrale wirtschaftsanthropologische Fragen verhandelt: „Welche Rolle nimmt der Mensch in ökonomischen Prozessen ein? Wie positioniert er sich in den Bereichen der Produktion, der Distribution und der Konsumtion? Welches Ethos und welche Gesinnung werden dem Menschen von ökonomischen Überlegungen zugeschrieben? Wie versteht er sich selbst als Mensch im Umgang mit Waren und mit anderen wirtschaftenden Menschen? Inwiefern geht sein Menschsein in seinem Wirtschaften auf? Und nicht zuletzt: Welche Menschenbilder werden im ökonomischen Handeln und im ökonomischen Diskurs verbreitet und etabliert?“ (ebd., 20 f.) An solchen Untersuchungen zeigt sich auch, dass (nicht nur literarische) Menschenbilder als „konzeptionelle Netzwerke“ (Barsch/Hejl 2000: 11) verstanden werden können, die punktuell mit anderen konzeptionellen Netzwerken – bspw. Vorstellungen von ‚der Natur‘ etc. – verknüpft sind (ebd.).

  66. 66.

    Zu beachten ist allerdings auch, dass solche Untersuchungen immer schon über eine bestimmte Theorie dessen verfügen müssen, was der Mensch sei, um literarische Texte daraufhin untersuchen zu können.

  67. 67.

    Ein Mittel dazu ist bspw. die Untersuchung von Figurendarstellungen, hinsichtlich derer sich vier anthropologisch orientierte Fragerichtungen und Perspektiven unterscheiden lassen (vgl. im Folgenden Jappe/Krämer/Lampert 2012: 12–15): 1. Welche Relationen bestehen zwischen außerliterarisch vorhandenem Wissen und literarischen Figurenkonzeptionen und in welcher Weise finden Transformationen statt? 2. In welcher Weise und für die Verhandlung welcher Themen, Probleme und Wissensbereiche werden literarische Figurendarstellungen im Text genutzt? 3. Welches Wissen und welche Wissensgebiete werden vermittels literarischer Figurendarstellungen im Rezeptionsakt aufgerufen und aktiviert? 4. Welches Wissen wird durch den Rezeptionsakt neu geschaffen? Dabei fokussieren die ersten beiden Fragen vor allem die Seite der Produktion und des Inhalts literarischer Texte, die letzten beiden Fragen vor allem die Seite der Rezeption und Verarbeitung literarischer Texte. Mit der literarischen Darstellung von Figuren ist dann wiederum der Entwurf typischer Lebenswelten verbunden, die im Rezeptionsakt vermittelt und angeeignet werden können: „Literarische Figuren entwerfen typisierte Lebenswelten, in denen die Leser zu Gast sein können“ (Matuschek 2010: 303).

  68. 68.

    Die bisher angestrengte Methodenreflexion ist auch deshalb so umfangreich ausgefallen, weil die Frage, inwiefern formale und inhaltliche Bestimmung des Menschen einander bedingen, nicht nur ins Zentrum der plessnerschen Philosophie weisen, sondern in das Zentrum menschlichen Selbstverständnisses überhaupt.

  69. 69.

    Beispielhaft lassen sich dafür die Ausführungen Pfotenhauers (1987: 1) zum Roman in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts anführen: „Im neueren Roman hilft die Menschenkunde zur Konstitution eines Charakters, der sich dem Gesetz der ‚inneren Geschichte‘ nach entwickelt; die anthropologisch geschulte Faktorenanalyse ergibt den Zusammenhang der verschiedenen Bedingungen, welche ein Individuum als sinnlich-sittliche Komplexion formen.“ Auf ein „bessere[s] Verständnis der Literatur“ zielen auch Ridder/Braungart/Apel (2004: 16) ab; und das heißt: dass möglicherweise „durch historisch-anthropologische Ansätze literarische Werke dichter und historisch genauer erschlossen werden können“ (ebd., 17).

  70. 70.

    So merkt z. B. Barsch (2004: 296) an, „daß sich literarische Anthropologie nicht auf den Bereich der Analyse von Texten beschränken muß, sondern auch den Blick auf den mit Literatur Handelnden werfen kann“.

  71. 71.

    Die seit den späten 1970er Jahren sich zeigende Erweiterung literaturwissenschaftlicher Forschung durch kulturanthropologische und ethnologische Fragestellungen, Konzepte und Methoden bildet die zweite zentrale Traditionslinie literarischer Anthropologie (van Laak 2009: 338). Gemeinsam ist diesen beiden Ansätzen das „methodologische Bedürfnis einer lebensweltlichen Kontextualisierung von literarischen Texten“ (ebd., 342).

  72. 72.

    Doris Bachmann-Medick bestimmt die Metapher von Kultur als Text folgendermaßen: „Kultur als Text – was heißt das? Kultur gilt in der interpretativen Kulturanthropologie nicht mehr nur als einheitliches Gesamtgefüge, das in der Summe von Normen, Überzeugungen, kollektiven Vorstellungen und Praktiken aufgeht. Kultur ist vielmehr eine Konstellation von Texten, die – über das geschriebene oder gesprochene Wort hinaus – auch in Ritualen, Theater, Gebärden, Festen usw. verkörpert sind. Solche Ausdrucksformen sind höchst aufschlußreich, wenn es darum geht, das Netzwerk historischer, sozialer, geschlechtsspezifischer Beziehungen im Licht ihrer kulturellen Vertextung, Symbolisierung und Kodierung zu rekonstruieren“ (Bachmann-Medick 1996: 9 f.). Die Grundlage dieses semiotischen Kulturverständnisses findet sie wiederum im Kulturbegriff der cultural studies; prominent und wirkmächtig in diesem Forschungsfeld etwa Clifford Geertz (2003: 9), der, in Anlehnung an Max Weber, davon spricht, dass der Mensch in einem „selbstgesponnene[n] Bedeutungsgewebe“ verstrickt sei. Zu erwähnen ist dabei aber auch, dass Geertz – mit Blick auf das Postulat der ‚Lesbarkeit‘ von Kultur – sich in der gleichen Traditionslinie bewegt wie die Hermeneutik Ricœurs: „Bedeutungskonstituierend sind danach weder die Absichten eines Sprechers, eines Handelnden oder eines Autors, noch ist es die jeweilige aktuelle Handlungssituation, sondern vielmehr ein demgegenüber objektivierterer Sinnhorizont des Textes“ (Bachmann-Medick 1996: 23 f.). Dieser wird als materieller Träger von Wahrnehmungen, Emotionen und Verstehensweisen aufgefasst (Bachmann-Medick 2004: 306).

  73. 73.

    Womit schließlich auch „ein kulturwissenschaftliches Neuverständnis von Literaturwissenschaft als historischer Kulturanthropologie“ (Riedel 2000: 433) einhergeht.

  74. 74.

    In die gleiche Richtung geht es auch in den internationalen Diskussionen. Lecercle (1996: 2 f.) etwa schreibt: „The ‚anthropological turn‘ […] means an increased awareness of the pragmatic structure that produces meaning. The object of such anthropology is to study and chart the negotiation of meaning, of selfhood and otherness, in a given culture.“ Dementsprechend forciert die „anthropologische Wende“ (Bachmann-Medick 1996, Schlaeger 1996) zugleich auch einen Paradigmenwechsel und eine Neuausrichtung der Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft. Literatur wird aus dieser Forschungsperspektive „nicht als autonomes System mit eigenen Werten, Strukturen und Regeln betrachtet, sondern als Teil der Gesamtkultur, also in ihrer Mitwirkung an Konstitution, Tradierung und Veränderung von kulturellen Sinn- und Zeichenbildungen“ (Zymner/Engel 2004: 8).

  75. 75.

    Dies wird auch von Bachmann-Medick mitgedacht, die auf die ‚literarischen‘ Mittel der ethnologischen Forschung (z. B. Interviews, Selbstzeugnisse, Autobiografien, Briefe und Collagen) verweist und damit die gegenseitige Annäherungsbewegung von Literatur und Ethnografie (Stichwort: ‚writing culture‘) thematisiert; wobei z. B. klassische ethnografische Untersuchungen auf einen ethnografischen Realismus basierten, der individuelle Beobachtungseindrücke zu kulturellen Ganzheiten synthetisiert und sich dabei an den Vorbildern des literarischen Realismus orientiert habe (Bachmann-Medick 2004: 303). Zusammenfassend schließt sie: „Die Hauptkonvergenzpunkte liegen somit in der gemeinsamen Aufmerksamkeit auf rhetorische Probleme der Kulturbeschreibung, auf die Einbindung in weitere, textübergreifende Diskurse und Machtbeziehungen sowie in einem gemeinsamen Überdenken der Frage der Repräsentation durch eine Neubestimmung der literarischen Kunstmittel“ (Bachmann-Medick 1996: 20).

  76. 76.

    Bezüglich der Frage nach dem erkenntnistheoretischen Wert der Literatur siehe auch die beiden Überblicksartikel von Schmitz-Emans (2007a und 2007b). Umfassender und grundlegender hierzu u. a. auch Gabriel (1991) sowie die Beiträge in Schildknecht/Teichert (1996) und Demmerling/Vendrell Ferran (2014).

  77. 77.

    Auch für Koschorke (2010: 89) stehen Erkennen und Erzählen nicht im Widerspruch. Denn narrative Verfahren kommen sowohl in der Organisation als auch Produktion von Wissen zum Einsatz (ebd.).

  78. 78.

    Aus einer auch pragmatisch und systemtheoretisch orientierten Perspektive lässt sich noch weitergehen und behaupten, dass der Mensch mit Literatur Erfahrungen machen kann, „die ihm in anderen sozialen Systemen nicht zugänglich sind“ (Barsch 2004: 289).

  79. 79.

    Aus biologischer Perspektive verweist Neumann zwar auf konstante artspezifische Besonderheiten des Menschen (aufrechter Gang, freie Hand, vergrößertes Gehirn, Sprache etc.), verzichtet aber in expliziter Bezugnahme auf Plessner zugleich auf eine ‚philosophische‘ Definition des Wesens des Menschen und verwirft im Zuge dessen auch die naturwissenschaftlichen Bestimmungen: „Für einen philosophischen Begriff vom ‚Wesen des Menschen‘ können solche Merkmale freilich nicht als Bestimmung, sondern nur als unhintergehbare Voraussetzungen gelten“ (Neumann 2013: 40). Anstelle einer universellen Wesensbestimmung sollen Reflexionsbegriffe treten, die die Offenheit des Menschenbildes gewähren: „Plessner spricht von einer ‚ekzentrischen‘ Position: Der Mensch ist nicht nur, sondern er distanziert sich auch von sich und macht sich selbst zum Gegenstand seiner Reflexion. Er lebt nicht nur, sondern er muss ein Leben selbst führen, muss sich zu dem erst machen, was er ist“ (Neumann 2013: 40 f. in Aufnahme einer mittlerweile nahezu klassisch gewordenen sprachlichen Wendung Plessners).

  80. 80.

    Der Ansatz Isers nimmt, nach von Laak (2009), eine Art „Sonderstellung“ (ebd., 344) neben der eher literaturanalytisch und -historisch ausgerichteten ersten Perspektive und der eher kulturanthropologisch ausgerichteten zweiten Perspektive literarischer Anthropologie ein und ist in einer anderen Traditionslinie – einer phänomenologisch ausgerichteten Rezeptionsästhetik – zu sehen (ebd.).

  81. 81.

    Als Erklärungsmöglichkeiten stellen Köppe/Winko (2008: 317 ff.) drei Ansätze vor: einen psychoanalytischen, einen philosophisch-ästhetischen und einen evolutionstheoretischen. Bezüglich der anthropologischen Funktionen von Literatur lässt sich eine nahezu unüberschaubare Vielzahl anführen; um nur ein paar Beispiele zu geben: Ausdruck und Bewältigung des Unbewussten, ästhetisches Vergnügen und ästhetische Erfahrung, ästhetische Erziehung, Ausdruck von Empfindungen, Darstellung und/oder Erfindung von Wirklichkeit, Erkenntnisschaffung und -vermittlung, Identitätsbildung, Verhaltensmotivation, Illustrations-, Dokumentations- und Erinnerungsfunktion, Gesellschaftskonstitution, Schaffung eines evolutionären Vorteils etc. (ebd.). Insofern all diese Funktionen in der einen oder anderen Weise als wertvoll oder nützlich erachtet werden, dienen sie auch als Legitimation der Literatur (vgl. ebd.).

  82. 82.

    So schreibt bspw. Zymner mit Bezug auf den biologisch orientierten Ansatz Eibls: „Der Mensch, und so weit wir wissen: nur der Mensch, ist das Wesen das dichtet“ (Zymner 2004: 14).

  83. 83.

    Dabei geht es dann u. a. um die Frage, inwieweit „etwaige Gesetzmäßigkeiten des Narrativen elementaren Einfluß auf den kognitiven Zugriff des Menschen auf seine soziale Welt, ja auf seine Welt überhaupt haben könnten“ (Neumann 2000: 284). Hier hat sich mittlerweile ein eigenständiges Paradigma innerhalb der literaturwissenschaftlichen Forschung ausgebildet. Die Forschungsliteratur zur kognitiven Literaturwissenschaft hat nahezu unübersichtliche Ausmaße angenommen (siehe z. B. Fludernik 1996, Eibl/Mellmann/Zymner 2007, Huber/Winko 2009, Müller 2012, Wege 2013, Zunshine 2015 und Mikuláš/Wege 2016).

  84. 84.

    So fasst z. B. van Laak (2009: 345) zusammen: „Der Preis der so gewonnenen Forschungsaktualität, der biologisch-empirischen Fundierung geisteswissenschaftlicher Argumentationen und der neuen ‚lebenswissenschaftlichen Anschlussfähigkeit‘ dieses literaturanthropologischen Neuansatzes kann aber das Wieder-unhistorisch-Werden einer solchen Argumentation sein. […] Diese müsste zudem noch in stärkerem Maße den prinzipiellen wissenschaftstheoretischen Vorwurf an die Anthropologie generell hinnehmen, nur unhistorisch argumentieren zu können und unhintergehbar – und unkritisierbar – überhistorische Universalien zu postulieren.“ Darüber hinaus merkt Bachmann-Medick (1996: 15) kritisch an, dass nur Texte thematisiert würden, nicht jedoch mündliche Überlieferungen.

  85. 85.

    Dies ist bspw. auch Michael Neumann bewusst, der anführt, dass seine „Anthropologie der Narration“ weder eine neue Methode darstelle noch konkrete Auswirkungen auf Textinterpretationen habe (Neumann 2013: 5). Die literarische Anthropologie Wolfgang Riedels ist auch geprägt von einer grundlegenden Skepsis gegenüber universellen Literaturanthropologien: Denn die Literaturwissenschaft sei schließlich für die Literatur da – und nicht umgekehrt (Riedel 2004: 356). Daher sei in diesem Kontext nur noch einmal kurz angemerkt, dass die vorliegende Studie dahingehend einen Spagat wagt: Einerseits wird der Versuch unternommen, literaturanthropologische Fragestellungen (aus der Perspektive ‚Literatur in der Anthropologie‘) anhand einer Verschränkung der Konzepte Plessners und Ricœurs zu bearbeiten und sowohl naturphilosophisch als auch subjektivitätstheoretisch zu fundieren. Andererseits soll aber auch der Versuch unternommen werden, insbesondere die Begriffe Plessners (aus der Perspektive ‚Anthropologie in der Literatur‘) literaturanalytisch auf den konkreten Text anzuwenden und diese dementsprechend auch methodisch reflektiert als Analysewerkzeuge zu gebrauchen.

  86. 86.

    Zur Begriffsklärung: Zymner fasst poetogene Strukturen nicht als ontologisch vorhandene Erscheinungen, sondern als „heuristische, interpretationsgeschuldete Fiktion“ (Zymner 2004: 25) – als „eine Art ‚Kofferwort‘“ (ebd.), mit dem er drei anthropologische Ebenen ansprechen möchte: biologische Dispositionen, anthropologische Dispositionen und historisch-sozial variable und relative Verhaltens- und Handlungsformen (ebd.).

  87. 87.

    Dadurch ermöglichen sie zugleich aber auch die Öffnung der Fragestellung in die andere Richtung: In welcher Weise wirken literarische Erzählmuster und -verfahren auf die alltägliche menschliche Lebenswelt zurück?

  88. 88.

    „Anders als Eibl gehe ich bei der Suche nach Universalien nicht von jenen Wahrnehmungsmustern und Verhaltensweisen aus, für welche die Soziobiologie bereits eine Verankerung in den Genen annimmt. Als Literaturanthropologen interessieren mich kulturübergreifende Elemente der Literatur oder der Narration, weil sie Aufschlüsse über die Beschaffenheit des Menschen und weil sie Anregungen für das Verstehen konkreter Narrationen versprechen“ (Neumann 2009: 238).

  89. 89.

    Neumann verwendet dabei einen sehr umfangreichen Erzählbegriff, der sowohl die verschiedensten Genres und Erzählweisen – Mythen, Märchen, Legenden, Schwänke, Dramen, Balladen, Novellen, Romane, Alltagserzählungen etc. – als auch die verschiedensten Künste und Medien – Comic, Film, Oper, Ballett, Bilderzyklus, Computerspiel etc. – umfasst (vgl. Neumann 2009: 235, Neumann 2013: 1).

  90. 90.

    Neuere quantitativ, mit großen Datenmengen und computergestützten Analysen arbeitende Untersuchungen mythologischer Erzählformen und -inhalte bestätigen Neumanns Vermutung. Am Beispiel dreier Mythenfamilien – dem Pygmalionmythos, dem Polyphemmythos und dem Mythos der kosmischen Jagd – rekonstruiert bspw. ein Team von Genetikern die Evolution dieser Formen (in den Begriffen Neumanns: „Ströme“) bis hin zur menschlichen Vorgeschichte. Durch diese Evolutionsgeschichte lassen sich vor allem zwei Erkenntnisse gewinnen: Zum einen geben – in räumlicher bzw. geografischer Perspektive – die verschiedenen Transfers und Modifikationen der Erzählformen und -inhalte Aufschluss über (vor)geschichtliche Migrationsbewegungen und die Besiedlungsgeschichte der Erde. Zum anderen bestätigen sie – in zeitlicher Perspektive – eine relativ hohe Beständigkeit der Erzählformen und -inhalte durch die Zeit hindurch und identifizieren zugrundeliegende Urformen. Die relativ hohe zeitliche und räumliche Kontinuität sowie die spezifische Anpassungsfähigkeit der Mythen an die konkreten Bedingungen von Ort, Zeit und Gruppe verweisen dabei auch auf die Funktionen, die den Erzählformen und -inhalte zukommen: Mit ihnen werden nicht nur Lebenserfahrungen weitergegeben, Ängste gelindert oder gruppenspezifische Abgrenzungen vollzogen, sondern – etwas allgemeiner gefasst – grundsätzliche Verstehens- und Ordnungsvorgänge vollzogen (vgl. d’Huy 2013a, 2013b, 2015). Dabei verweisen die Forscher auch auf Parallelen, die der Vergleich mythologischer und biologischer Evolution hervorbringt (d’Huy 2013a).

  91. 91.

    „Doch nicht nur die grundsätzliche Aktivität des Erzählens ist universal. In den verschiedensten und entferntesten Kulturen stoßen die Erzählforscher auf eine Fülle übereinstimmender Motive, Plots und Genres: auf Motive wie die magische Flucht oder den Kampf mit dem Drachen; auf Plots wie Erniedrigung und Erhöhung eines ‚Aschenputtels‘ oder die Mahrtenehe, also die Verbindung zwischen einem Menschen und einem außermenschlichen Wesen; auf Genres wie das Märchen, den Schwank oder den kosmogonischen Mythos. Wie kommt es, dass die Menschen unter den unterschiedlichsten kulturellen, historischen und sozialen Umständen immer wieder von ähnlichen Geschichten angezogen werden?“ (Neumann 2013: 2).

  92. 92.

    „Auch die Geschichte der Narrationen zeigt eine Art Evolution. In der mündlichen Tradition ‚überlebten‘ nur jene Fabeln und Figuren, die Anklang beim Publikum fanden und deswegen weitererzählt wurden. Alles andere versank in Vergessenheit“ (Neumann 2009: 240).

  93. 93.

    Einem solchen Unterfangen stand Eibl (2004: 267) noch skeptisch gegenüber: „Eine Systematik der angeborenen Plots wäre derzeit voreilig – wenn sie überhaupt jemals erreichbar ist: Denn die apriorischen Plots sind genau genommen hochabstrakte Plot-Dispositionen mit einem kaum generell einzuschätzenden Suchfokus, der von uns nur exemplarisch versinnlicht werden kann“.

  94. 94.

    Mit Blick auf die Begründung etwaiger narrativer Universalien schreibt Neumann (2013: 37 f.): „Sie erregen die Faszination von Zuhörern, Zuschauern oder Lesern unter den entferntesten kulturellen und historischen Voraussetzungen. Möglich ist dies nur, wenn all diese Zuhörer, Zuschauer und Leser inmitten ihrer soziokulturellen Differenzen zu bestimmten Faszinationen gleichermaßen disponiert sind“.

  95. 95.

    Dabei bestimmt Neumann (2013: 141–186) folgende Matrix zur Unterscheidung der Ströme: 1) Handlungssequenz, 2) Handlungsziel, 3) Figuren, 4) Handlungsraum, 5) Rahmen der Situation, 6) Stimmung und Emotion der Rezipienten, 7) anthropologische Funktion. Von besonderer Bedeutung sind dabei die Punkte (4) und (7). Wobei dann insbesondere die anthropologische Funktion „tendenziell auf alle Details einer Narration“ einwirkt (ebd., 186). Auf die einzelnen Ströme kann hier aus Platzgründen nicht näher eingegangen werden. Für einen prägnanten Überblick siehe Neumann (2009).

  96. 96.

    Die anthropologische Funktion der Herstellung mentaler Ordnung durch Narrationen wird auch von Michael Scheffel (2004: 124) besonders hervorgehoben: „Bei allen Unterschieden in den einzelnen Modellen gibt es allerdings eine starke Tendenz, die besondere anthropologische Leistung des Erzählens zuallererst in der Organisation von menschlicher Erfahrung zu sehen“.

  97. 97.

    In diese Richtung geht auch Carroll (2009: 143) vor evolutionstheoretischem und sozialpsychologischem Hintergrund: „In contrast to the instinctually regulated behavior of other animals, human behavior is crucially influenced by imagination. Humans perceive the world as a set of contingent circumstances containing complex causal processes and intentional states in other minds. Before taking action, they must weigh alternative scenarios in the light of competing values and impulses. By providing emotionally saturated images of the world and of other human experience, literature and the other arts fulfill a vital psychological need. Through these images, readers can vicariously experience the affective and moral quality of alternative scenarios. Since that vicarious experience influences dispositions that eventuate in adaptively relevant behavior, literature seems to fulfill an adaptive function that could not be so well fulfilled in any other way. Human action depends on the human sense of value and meaning, and literature and the other arts provide a means of making the value and meaning of experience available to the imagination“.

  98. 98.

    Mit Plessner könnte man hier auch von der grundsätzlichen Gebrochenheit und Ausgleichsbedürftigkeit des Menschen sprechen; siehe Kap. 3.

  99. 99.

    Bereits in Die Entstehung der Poesie führt Eibl (1995: 11) aus, dass es eine entscheidende Voraussetzung der Untersuchung sei, dass es einen vorkulturellen Menschen nicht gebe und selbst die heuristische Fiktion desselben eher irreführend denn hilfreich sei. Dabei unterscheidet sich dieses frühere Werk von Animal Poetica dahingehend grundlegend, dass Eibl hier zwar auch evolutionsbiologisch begründete menschliche Dispositionen in den Blick nimmt, die daraus entstehenden poetischen Phänomene zugleich aber auch historisch rückbindet und kontextualisiert. Für Eibl sind hier zwei Dimensionen der Argumentation – eine universelle und eine historische – von zentraler Bedeutung und quasi gleichrangig. Einerseits geht es darum, „die biologischen Dispositionen zu erhellen, die Poesie ermöglichen“ (ebd., 8), und andererseits – an dieser universellen Ausrichtung ansetzend – darum, die historischen Bedingungen und Konsequenzen zu erhellen, unter denen sich Literatur als Poesie entwickelt und spezialisiert; denn gerade die Entstehung und Ausdifferenzierung der Poesie hat „eine gesellschaftlich-institutionelle Seite“ (ebd., 205) – wodurch wiederum der historische und soziale Kontext „die Grenze des biologisch-anthropologischen Ansatzes“ (ebd., 31) markiert. Diese literaturhistorische Bezugnahme lässt sich so in Animal Poeta nicht mehr finden.

  100. 100.

    „Die ausdifferenzierte Darstellungsfunktion erlaubt es, über Abwesendes zu kommunizieren und es über längere Zeit stabil zu repräsentieren. Man kann sogar vermuten, daß jetzt überhaupt erst ‚Dinge‘ in einem herausgehobenen Sinn entstehen, während vor der Ausdifferenzierung der Darstellungsfunktion nur eine Orientierung an Situationen und Reizen erfolgte“ (Eibl 2009: 24).

  101. 101.

    Dieser symbolisch erzeugte Sachbezug erscheint bereits bei Ernst Cassirer als ein qualitativer Unterschied des Menschen im Vergleich zum Tier. In Anlehnung an von Uexkülls Differenzierung in Merk- und Wirknetz (Cassirer 2007: 47 ff.) unterscheidet er hierbei zwischen tierischen „reactions“ (Reaktionen) und menschlichen „responses“ (Antworten); wobei Letztere dadurch hervorgerufen werden, dass sich beim Menschen ein „Symbolnetz“ (ebd., 49) als zusätzliches Verbindungsglied und als neue Methode der Anpassung an die eigene Umwelt zwischen Merk- und Wirknetz schiebt. Dabei bildet dann schließlich die propositionale Sprache (im Unterschied zur emotionalen Sprache des Tieres) „die eigentliche Grenze zwischen Menschen- und Tierwelt“ (Cassirer 2007: 56).

  102. 102.

    So bestimmt Eibl in Die Entstehung der Poesie den Begriff der Welt folgendermaßen: „Welt soll das heißen, was durch kulturelle Definition auf die genetischen Dispositionen abgestimmt ist (– was durch die Bestimmungsleistung sozialer Systeme hergestellt wird)“ (Eibl 1995: 16).

  103. 103.

    „Was dieser Speicher – die Bücher, Zeichnungen, fremden Köpfe usw. – enthält, ist von den Individuen und deren aktuellen Handlungen abgelöstes, vergegenständlichtes Wissen“ (Eibl 2004: 233).

  104. 104.

    Eibl wählt auch hier einen fächerübergreifenden Zugang und führt bspw. Erkenntnisse der Künstlichen-Intelligenz-Forschung an, die nicht zuletzt auch seine Definition des Erzählens beeinflussen: „Erzählen wäre demnach die Repräsentation einer nicht-zufälligen Ereignisfolge“ (Eibl 2004: 255).

  105. 105.

    Es handelt sich um Personen, bei denen „die Beeinträchtigung bestimmter Hirnregionen zu unterschiedlichen Formen der ‚Dysnarrativie‘ führten“ (Eibl 2004: 258).

  106. 106.

    Wie auch Neumann geht Koschorke dabei von der Annahme aus, „dass die Erzählung eine kulturelle Universalie bildet, die alle historischen Epochen, Völker, Gesellschaftsschichten, Niveaus und Medien durchquert“ (Koschorke 2012: 10) Diesen Ausgangspunkt findet er in der Bezugnahme auf das bekannte Zitat Roland Barthes, das der Untersuchung vorangestellt wird. Demzufolge kann das Erzählen als transhistorische, -kulturelle und -mediale Tätigkeit verstanden werden. Allein die Unüberschaubarkeit aller bereits vorhandenen Erzählungen und die damit verbundene Vielzahl verschiedener Erzählformen und Erzählweisen sprechen Bände: „Die Menge der Erzählungen ist unüberschaubar. Da ist zunächst eine erstaunliche Vielfalt von Gattungen, die wieder auf verschiedene Substanzen verteilt sind, als ob dem Menschen jedes Material geeignet erschiene, ihm seine Erzählungen anzuvertrauen: Träger der Erzählung kann die gegliederte, mündliche oder geschriebene Sprache sein, das stehende oder bewegte Bild, die Geste oder das geordnete Zusammenspiel all dieser Substanzen; man findet sie im Mythos, in der Legende, der Fabel, dem Märchen, der Novelle, dem Epos, der Geschichte, der Tragödie, dem Drama, der Komödie, der Pantomime, dem gemalten Bild […], der Glasmalerei, dem Film, den Comics, im Lokalteil der Zeitungen und im Gespräch. Außerdem findet man die Erzählung in diesen nahezu unendlichen Formen zu allen Zeiten, an allen Orten und in allen Gesellschaften; die Erzählung beginnt mit der Geschichte der Menschheit; nirgends gibt und gab es jemals ein Volk ohne Erzählung; alle Klassen, alle menschlichen Gruppen besitzen ihre Erzählungen, und häufig werden diese Erzählungen von Menschen unterschiedlicher, ja sogar entgegengesetzter Kultur gemeinsam geschätzt: Die Erzählung schert sich nicht um gute oder schlechte Literatur: sie ist international, transhistorisch, transkulturell, und damit einfach da, so wie das Leben“ (Barthes 1988: 102).

  107. 107.

    Dementsprechend müssen auch die „Transformationsregeln“ (Koschorke 2012: 25) dieser narrativen Selbsttransformation bestimmt werden. Koschorke bezeichnet diese im zweiten Kapitel seines Werks als „elementare Operationen“ (ebd., 27–110) und unterscheidet dabei u. a. Formen narrativer Reduktion, Schematisierung, Redundanz und Variation, Diversifikation, Sequenzbildung und Rahmung, Motivierung, Positionierung und Affektbindung.

  108. 108.

    Dies bedeutet für Fisher „that all forms of human communication need to be seen as fundamentally as stories – symbolic interpretations of aspects of the world occurring in time and shaped by history, culture, and character“ (Fisher 1987: xi). Dabei bezieht sich Fisher (1987: 24) in seinem umfassenden Ansatz sowohl auf Alasdair MacIntyre (2007: 216: „man is in his actions and practice, as well as in his fictions, essentially a story-telling animal“) und Hayden White (Fisher 1987: 65) als auch auf Cassirer (ebd., 6, Endnote 43) und Ricœur (ebd., 96).

  109. 109.

    Eine der zentralen wissenschaftstheoretischen Thesen Fishers ist dabei folgende: „My central contention is that narrative is a concept that can enhance understanding of human communication and action wherever those phenomena occur. To view discourse and action as occurring within ‚the human story‘ will allow us to account for human behavior in ways that are not possible using the theories and methods of social sciences, especially those social sciences that attempt to approximate the paradigm of the natural sciences“ (Fisher 1987: 20). Dies schreibt Fisher vor dem historischen Hintergrund, dass zentrale Ordnungsinstanzen und -begriffe des (westlichen) Denkens wie ‚Wahrheit‘, ‚Wissen‘, ‚Realität‘ etc. mittlerweile von den Verwendungsweisen einer Experten-Schicht geprägt sei, die jedoch lediglich auf die formal-logische Korrektheit der Begriffe achteten – und zwar zulasten und unter Missachtung des kognitiven Werts von Rhetorik und Poetik (Fisher 1987: 20). Dies beschreibt Fisher als „rational-world-paradigm“ (siehe ausführlich ebd., 59 f.). Dieses Paradigma missachte jedoch, dass „reason“ in der menschlichen Kommunikation auch in anderen Formen als argumentativen Strukturen erscheint (ebd., 48). Daher stellt er dem „rational-world-paradigm“ das „narrative-world paradigm“ (siehe ausführlich ebd., 64 f.) gegenüber. Eines der wichtigen Argumente Fishers ist dabei, dass auch der narrative Weltbezug rationale Strukturen aufweise und Entscheidungen nach guten Gründen ermögliche (ebd., 48, 107) – und zwar auf Basis einer „narrative rationality“ (ebd., 47): „This notion implies that all instance of human communication are imbued with logos and mythos, are constitutive of truth and knowledge, and are rational“ (ebd., 20).

  110. 110.

    „Actualization of narrative does not require a given form of society. Where the rational-world paradigm is an ever-present part of our consciousness because we have been educated into it, the narrative impulse is part of our very being because we acquire narrativity in the natural process of socialization“ (Fisher 1987: 65).

  111. 111.

    Dabei ist offensichtlich, dass der von Koschorke angeführte zweite und dritte Erklärungsversuch im Grunde den gleichen Sachverhalt widerspiegelt, einmal in einer negativen (Vermeidung von Kontingenz), einmal in einer positiven (Schaffung von Sinn) Wendung. Unterschiedlich sind dabei jedoch die von Koschorke angeführten Begründungen, warum diese Erklärungsversuche verworfen werden sollten.

  112. 112.

    Die im Zitat zitierten Wendungen finden sich in der Spiel-Definition bei Huizinga (1962: 20): „Der Form nach betrachtet, kann man das Spiel also zusammenfassend eine freie Handlung nennen, die als ‚nicht so gemeint‘ und außerhalb des gewöhnlichen Lebens stehend empfunden wird und trotzdem den Spieler völlig in Beschlag nehmen kann, an die kein materielles Interesse geknüpft ist und mit der kein Nutzen erworben wird, die sich innerhalb einer eigens bestimmten Zeit und eines eigens bestimmten Raums vollzieht, die nach bestimmten Regeln ordnungsgemäß verläuft und Gemeinschaftsverbände ins Leben ruft, die ihrerseits sich gern mit einem Geheimnis umgeben oder durch Verkleidung als anders als die gewöhnliche Welt herausheben.“ Positiv auf Huizinga bezieht sich auch Iser (1991: 444) bei seiner Bestimmung des Textspiels als „Transformation seiner Referenzwelten“ (ebd., 481).

  113. 113.

    Diese vermeintliche Gewissheit prägt als „stummes Wissen“ (Iser 1983a: 121, Iser 1991: 18 u. ö.) auch das alltägliche Selbst- und Weltverständnis. Bereits in den – im Rahmen der Arbeitsgruppe Poetik und Hermeneutik veröffentlichten – Vorarbeiten zu Das Fiktive und das Imaginäre thematisiert und kritisiert Iser (siehe 1983a, 1983b, 1983c, 1983d) diese unhinterfragte Selbstverständlichkeit.

  114. 114.

    „As human beings’ extensions of themselves, fictions are ‚ways of worldmaking‘, and literature figures as a paradigmatic instance of this process because it is relieved of the pragmatic dimension so essential to real-life situations“ (Iser 1989a: 270).

  115. 115.

    Dass diese Funktionen je nach ihrem spezifischen Anwendungsbereich jeweils unterschiedlich sind, wird von Iser (1990: 8 f.) auch herausgestellt: „In der Erkenntnistheorie begegnen wir den Fiktionen als Setzungen; in der Wissenschaft als Hypothesen; in den uns leitenden Weltbildern als deren Fundierungen und in unseren Handlungen als orientierungsleitende Annahmen. In jedem dieser Fälle hat die Fiktion etwas anderes zu leisten. Im Blick auf die Handlung ist sie ein Vorgriff; im Blick auf die Setzung definiert sie eine Prämisse; im Blick auf die Hypothese ist sie eine Probierbewegung, und im Blick auf die Fundierung von Weltbildern ein Dogma, dessen Fiktionscharakter verdeckt bleiben muß, um die Fundierungsleistung zu sichern“.

  116. 116.

    Daher verwirft Iser (1991: 12 ff.) sowohl aus formalen als auch aus inhaltlichen Gründen die zeitgenössischen Erkenntnisse der historischen Anthropologie, der strukturellen Anthropologie, der generativen Anthropologie, der Kulturanthropologie und schließlich auch der philosophischen Anthropologie (wobei Iser an dieser Stelle lediglich Arnold Gehlens axiomatische Bestimmung des Menschen als Mängelwesen in den Blick nimmt und die zwei anderen Hauptakteure der Philosophischen Anthropologie im 20. Jahrhundert, Max Scheler und Helmuth Plessner, ignoriert).

  117. 117.

    Iser schreibt dazu in Towards a Literary Anthropology: „Literature is not self-sufficient, so it could hardly bear its own origin within itself. What it is, is the result of its function“ (Iser 1989a: 210).

  118. 118.

    Auch dieses anthropologische Theorem übernimmt Iser von Plessner. Dabei bezieht sich Iser (1991: 147–156) vor allem auf die Aufsätze Plessners, allen voran Soziale Rolle und menschliche Natur (1960) und Zur Anthropologie des Schauspielers (1948), die für ihn die zentrale Referenz bilden. Es ist durchaus auffällig, dass Iser wiederholt einen der zentralen Begriffe Plessners (exzentrische Positionalität) ebenso verwendet wie zentrale Theoreme (bspw. die hier schon angesprochene Doppelgängerstruktur der menschlichen Lebensform sowie die offene (nicht-axiomatische) Wesensbestimmung des Menschen) und typische sprachliche Wendungen, die sich (manchmal in leichter Abänderung, manchmal in direkter Wiedergabe) auch bei Plessner finden; bspw.: „Ist der Mensch Scheitelpunkt seiner Rollenvielfalt, so führt literarisches Fingieren den Menschen als das vor, wozu er sich macht und versteht“ (Iser 1990: 21). Doch fällt dabei auch auf, dass Iser an keiner Stelle auf eines der umfangreicheren Werke Plessners verweist. Dadurch geraten weder die naturphilosophischen (Die Stufen des Organischen und der Mensch) noch die geschichtsphilosophischen (Macht und menschliche Natur) Aspekte der plessnerschen Anthropologie in den Blick. Merkwürdigerweise liest und versteht Iser Plessner vermutlich nur als Rollentheoretiker und Vertreter der „Sozialanthropologie“ (Iser 1991: 12 mit direktem Verweis auf Plessner).

  119. 119.

    Sie können schon allein deswegen nicht auf ein Kompensationsbedürfnis zurückgeführt werden, weil „die aus der Grenzüberschreitung entstehenden Möglichkeiten nicht aus den überschrittenen Realitäten ableitbar sind“ (Iser 1990: 29).

  120. 120.

    Auch bei dieser Formulierung findet sich eine direkte Bezugnahme auf Plessner (Iser 1991: 156 f.).

  121. 121.

    „Nun gibt es im menschlichen Leben viele solcher unwißbaren Realitäten: die wohl bedeutsamsten dürften Anfang und Ende sein. Damit aber sind die kardinalen Bedingungen unserer Existenz der Verfügbarkeit durch Wissen entzogen“ (Iser 1990: 26, vgl. auch Iser 1991: 506).

  122. 122.

    „Evidenzerfahrungen haben einen überfallartigen Charakter, sie passieren einem und man ist in ihnen. Aber gerade dadurch erwacht ein Anschauungsbegehren; man scheint gegenwärtigen zu wollen, was einem geschehen ist, wodurch die Evidenz zu Alternativen aufgesprengt wird“ (Iser 1991: 509).

  123. 123.

    „Ist Darstellung phantasmatische Figuration, dann wird sie zum Modus der Inszenierung, die das zur Erscheinung bringt, was seiner Natur nach nicht gegenständlich zu werden vermag. Dazu gehört vor allem die früher schon erwähnte exzentrische Position des Menschen, der ist, aber sich nicht hat“ (Iser 1991: 504).

  124. 124.

    „Entspringt die Notwendigkeit des Fingierens dem Überschreiten jener Realitäten, deren Wißbarkeit uns entzogen ist, dann werden zu diesen Möglichkeiten hinzugedacht, die einen Aufschluß darüber liefern, was wir durch unwißbaren Anfang und unwißbares Ende als jeweils verborgen, unverfügbar und entzogen glauben. Das Fingieren wird dann zur Signatur der geschichtlichen Wandelbarkeit menschlichen Begehrens“ (Iser 1990: 26).

  125. 125.

    „Evidenzerfahrungen sind in der Regel affektiv, so daß Inszenierung dem Bestreben entspringt, die eigene Affektmenge in die Hand zu bekommen; indem man sie durch Alternativen doppelt, geschieht eine Ablösung vom Erregungszustand. Dadurch gelingt es, sich selbst zu stellen, um im eigenen Betroffensein zugleich sein Gegenüber zu werden“ (Iser 1991: 510).

  126. 126.

    „Der ek-statische Zustand, immer zugleich in der Person und außerhalb ihrer zu sein, bedarf der Form, um anschaulich zu werden, wenngleich diese Form den ek-statischen Zustand weder repräsentiert noch in einem bestimmten Sinne einfrieren darf, soll er ‚geregelter Widerspruch‘ bleiben“ (Iser 1991: 138).

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Weiland, M. (2019). Die Philosophische Anthropologie Plessners, die Subjektivitätstheorie Ricœurs und die literarische Anthropologie – Ansatzpunkte, Ziele und Methoden. In: Mensch und Erzählung. Schriften zur Weltliteratur/Studies on World Literature, vol 9. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-04903-2_2

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