Zusammenfassung
Friedrich Kaulbach (1912–1992) hat in zahlreichen Aufsätzen und zwei Büchern eine der wichtigsten philosophischen Interpretationen des Werkes Nietzsches vorgelegt. In diesem Beitrag werden zentrale Begriffe dieser Interpretation wie Leib, Perspektivismus, Sinnwahrheit und Experimentalphilosophie thematisiert. Die eindringlichen Analysen Kaulbachs über Nietzsche sind ein zusätzliches Argument dafür, dass ersterer zu den wichtigsten deutschsprachigen Philosophen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gehört.
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Notes
- 1.
Seine „zwangsweise Eintreibung zum Militär und zur Kriegsteilnahme“ bezeichnet Kaulbach als „‚Zufall‘, dessen Eigenart [s]einer Lebensplanung völlig zuwider lief und den größten Kontrast zu dem darstellte“, was er „immer hochgeschätzt und erstrebt“ habe, Kaulbach 1977, 194 f. Die im Herbst 1945 erfolgte Gefangenschaft „erschien mir“, erinnert er sich, „als Befreiung [...], zumal es mir jetzt abgesehen von der Erlösung von Gewissenskonflikten möglich war, lange unterbrochene philosophische Gedankenlinien wieder aufzunehmen und nachzudenken“, ebd.
- 2.
- 3.
Dieser Zusammenhang dürfte Kaulbach bekannt sein. Jedoch findet er keinen Eingang in seine Selbstdarstellung.
- 4.
So z. B. als er sich während einer nach der Seeschlacht bei den Arginusen (406 v. u. Z.) stattgefundenen Volksversammlung entschieden gegen eine gesetzeswidrige Hinrichtung von sechs Strategen stellte.
- 5.
Hier sei erinnert, dass Sokrates sich zur Vernunft sogar in einer Situation bekennt, in der es um Leben oder Tod geht: Nachdem Kriton ihn aufgefordert hat, aus dem Gefängnis auszubrechen, erwidert er stolz, dass es zu erwägen sei, ob dies getan werden solle, und dass er „nicht erst jetzt, sondern schon immer so beschaffen (ἀεὶ τοιοῦτος)“ sei, dass er „demjenigen Logos (λόγῳ)“ Folge leiste, „der sich […] [ihm] beim Beurteilen als der beste“ zeige, Kriton 46b; Übers.: N. L.
- 6.
Über die große Vernunft des Leibes siehe Abschn. 2.2.
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- 8.
- 9.
Kaulbach merkt an, dass, obwohl dieser Vorschlag „[a]uf den ersten Blick hin gesehen [...] in Konkurrenz zu der bekannten Fregeschen Unterscheidung zwischen Sinn und Bedeutung zu treten“ scheint, „die Intentionen des Unterscheidens in beiden Fällen gar nicht so weit von einander entfernt“ sind: „[A]uch in Freges Unterscheidung besteht der springende Punkt darin, daß z. B. das Wort ‚Morgenstern‘ seiner ‚Bedeutung‘ zufolge auf dasselbe Objekt hinweist, welches zugleich auch mit dem Namen ‚Abendstern‘ bezeichnet wird, während der ‚Sinn‘ der Wörter Morgenstern und Abendstern mit dem zeitlichen Standpunkt und der subjektiven Perspektive zu tun hat, in der diese Wörter gebraucht werden“ Kaulbach 1977, 197 f.
- 10.
- 11.
Gerhardt 1993a, 453.
- 12.
- 13.
Za KSA 4, 146.
- 14.
Die Ähnlichkeit mit der Vernunft- und Metaphysikkritik Heideggers ist unverkennbar. Allerdings bezieht Kaulbach keine „Frontstellung gegen die auf Herrschaft bedachte Vernunft und ihre Metaphysik“. Kaulbach 1990, IX, sondern integriert auch diese Perspektive in sein Konzept (vgl. Kaulbachs oben erwähnte Auffassung über die Unentbehrlichkeit des Verstandes). Der Vergleich zwischen Kaulbach und Heidegger, der hier als Einleitung in die Nietzsche-Interpretation des Ersteren dient, sollte Gegenstand einer gesonderten Untersuchung werden, die auf sämtliche Ähnlichkeiten eingehen sowie auch – und vor allem – die wichtigen Punkte hervorheben würde, mit denen Kaulbach über Heidegger hinausgeht. Diese Punkte sind in den Abschn. 2.2 und 2.3 klar angedeutet.
- 15.
Za, KSA 4, 36.
- 16.
Ebd., 36 f.
- 17.
- 18.
„Wo die Entwicklung des Denkens Nietzsches angedeutet wird“, fährt Kaulbach fort, „geschieht dies in einer Perspektive, die dem Standpunkt des ‚späten‘ Nietzsche entspricht, der vor allem in seinen in den achtziger Jahren geschriebenen Vorreden auch zu frühen Schriften eine Handhabe zu diesem Verfahren gegeben hat“ Kaulbach 1980, XIV.
- 19.
Kaulbach zitiert aus GM, KSA 5, 364 f. in modernisierter Orthographie. Die Auslassungspunkte stammen von ihm.
- 20.
So lautet auch der Titel seines letzten Buchs (Kaulbach 1990), das als erster Teil eines zweibändigen Werkes konzipiert war. Der zweite Teil konnte wegen einer schweren Krankheit nicht abgeschlossen werden. Es existiert aber ein Manuskript mit fünf ausformulierten und zwei ausführlich skizzierten Kapiteln Gerhardt 1993b, 1.
- 21.
- 22.
N 1888, KSA 13, 492; vgl. Kaulbach 1980, 154.
- 23.
- 24.
In diesem Aufsatz ist auch eine Auseinandersetzung mit einigen Konsequenzen von Kaulbachs Nietzsche-Interpretation enthalten, Maurer 1984, 16 ff., der eine ausführlichere Rezension von Kaulbach 1980 vorangegangen ist, Maurer 1983. Beide Arbeiten haben leider nicht die Beachtung gefunden, die sie verdient haben.
- 25.
Kant 1784/1968, 35 f.
- 26.
Nicht gering ist seine Wirkung auch in der Kant-Forschung gewesen, und zwar trotz des Misstrauens und des Stillschweigens seitens der kantischen Orthodoxie.
- 27.
Vgl. z. B. Gerhardt 1988, 11. Das in Rede stehende Buch ist Kaulbach gewidmet.
- 28.
Diese Merkmale finden sich auch in sämtlichen Studien Kaulbachs über Nietzsche.
- 29.
Za, KSA 4, 39.
- 30.
GM, KSA 5, 291.
- 31.
- 32.
Vgl. Heilinger und Loukidelis 2011, V ff.
- 33.
Gerhardt 2011e, 132.
- 34.
Gerhardt 2011d, insbesondere 251 ff.
- 35.
Höffe 2004.
- 36.
Gerhardts in Rede stehender Aufsatz erschien zunächst in einem von Höffe herausgegebenen Sammelband, Höffe 1992.
- 37.
Gerhardt 1988.
- 38.
Dieser umstrittene Gedanke passt gut zu Gerhardts Philosophie der Individualität.
- 39.
Gerhardt 2011f., 280, passim.
- 40.
Das bedeutet nicht, dass andere Interpreten (Kaulbach eingeschlossen) Nietzsche unkritisch betrachten, sondern nur dass dies in ihren Schriften nicht explizit zum Vorschein kommt.
- 41.
UB, KSA 1, 317.
- 42.
Gerhardt 2011f., 262 f.
- 43.
Vgl. ebd.
- 44.
Über die Rolle von Nietzsches Geschmack für die Herausbildung seiner Gedanken vgl. Loukidelis 2013, 90 f.
- 45.
Dem entspricht eine ablehnende Haltung Gerhardts gegenüber dem Konzept der Emanzipation überhaupt, eine Haltung, die ein Defizit seines Ansatzes darstellt.
- 46.
Reinhart Maurer gibt trotz seiner Kritik zu, dass Kaulbach „einen wertvollen Beitrag zu neueren Bemühungen um eine andersartige, nicht mehr von der Logik der Herrschaft geprägten Vernunft“ leistet, Maurer 1983, 500. Und Henning Ottmann widmet in seiner bemerkenswerten Habilitationsschrift „Nietzsches kritische[r] Theorie“ einen bedeutenden Abschnitt; Ottmann 1987, 164–215.
- 47.
Bei Eike Brock bedanke ich mich für sehr anregende Gespräche in der Entstehungszeit dieses Beitrags.
Literatur
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Loukidelis, N. (2019). Friedrich Kaulbach: Leib und Perspektive. In: Brock, E., Georg, J. (eds) "- ein Leser, wie ich ihn verdiene". J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-04725-0_7
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