Zusammenfassung
In einem bisher teils nicht bekannten, teils nicht angemessen berücksichtigten Ausmaß ist E.T.A. Hoffmann seit seiner Bamberger Zeit (1808–1813), in der nach seinem eigenen Urteil seine “litterarische Carriere” begann, mit zeitgenössischen medizinischen Problemen bef aßt. Kranke und Ärzte erscheinen fortan auffallend häufig in seinem literarischen Werk, in dem auch zahlreiche medizinische Fachbücher zitiert sowie Heilmethoden und Krankheitserscheinungen, vor allem solche psychischer Art, diskutiert werden. Krankheit ist für Hoffmann im Leben und im Werk ein stets gegenwärtiges Phänomen, dessen Ursachen und Wirkungen für ihn noch weitgehend unaufgehellt sind, so daß auch die Erscheinungs- und Behandlungsweise der Krankheit zu seiner Zeit ihm problematisch werden mußte: Wie tritt der Kranke in seiner Umwelt auf? Wie wird er von ihr “behandelt,” beispielsweise durch die Medizin oder durch die Justiz, aber auch durch den gesunden Bürger? Welche Wechselwirkungen zwischen Krankheit und Gesellschaft finden statt? Fragen dieser Art sind es, denen Hoffmanns Interesse gilt. Dieses Interesse an der Krankheit sah und bedauerte zugleich Hoffmanns Zeitgenosse Goethe, der den Dichter selbst als unheilbar kranken Patienten, seine Werke als Produkte und Erreger von Krankheiten und seine Wirkung als bewußt herbeigeführte Seuche beschrieb : “welcher treue, für Nationalbildung besorgte Theilnehmer hat nicht mit Trauer gesehen, daß die krankhaften Werke des leidenden Mannes lange Jahre in Deutschland wirksam gewesen und solche Verirrungen als bedeutendfördernde Neuigkeiten gesunden Gemüthern eingeimpft worden.”1
Notizen
Ich habe den Erstdruck dieses Gutachtens wieder aufgefunden, publiziert und kommentiert: Wulf Segebrecht, “E.T.A. Hoffmanns Auffassung vom Richteramt und vom Dichterberuf,” Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft, 11 (1967), 62–138.
Gegenüber der immer noch lesenswerten Quellenuntersuchung von Paul Sucher, Les sources du merveilleux chez E.T.A. Hoffmann (1912) und der nur vordergründig bleibenden Dissertation von Irmela Wagner, E. TA. Hoffmanns Beziehungen zur Naturwissenschaft unter besonderer Berücksichtigung der Anatomie (Med. Diss. Göttingen 1948) versucht die hier vorgelegte Untersuchung, die (zum großen Teil neuen) “Quellen” Hoffmanns in den konkreten Lebens- und Werkzusammenhang zu stellen, in dem sie erschlossen und wirksam wurden. Dies geschieht auch nicht in der Studie von Oskar Krenzer, Das geistige und gesellschaftliche Leben Bambergs zu Beginn des 19. Jahrhunderts (1920), deren Verdienst für die Hoffmann-Forschung darin zu sehen ist, daß sie den Blick von der Herzensgeschichte Hoffmanns (“Julia-Erlebnis”) auf die Geistes- und Gesellschaftsgeschichte lenkte, auf die Umwelt also, in der Hoffmann lebte. Vgl. in diesem Sinne auch die illustrative Schilderung von Jakob Lehmann, Franken Wiege der Romantik (1976).
Vgl. Michael Renner, “Bamberg als medizinisches Zentrum um 1800,” Mitteilungen f. d. Archivpflege in Bayern, 5 (1967), 40–47. Gotthilf Heinrich Schubert zählt neben “Reil in Halle” und “Frank in Wien” nur noch die Bamberger Ärzte Andreas Röschlaub und Adalbert Friedrich Marcus unter “die größten Gestirne an unsern jetzigen medicinischen Firmament;” Gotthilf Heinrich Schubert in seinen Briefen, hrsg. G. Nathanael Bonwetsch(1918), S. 54.
Vgl. Karl-Ludwig Sailer, Die Gesundheitsfürsorge im alten Bamberg (Med. Diss. Erlangen-Nürnberg o.J. [ca. 1972]).
Vgl. Carlos Lehmann S., Über die Medizin an der Academia Ottoniana und Universitas Ottoniano-Fridericiana Bambergensis. 1735–1803 (Med. Diss. Erlangen-Nürnberg 1967). Die Arbeit berücksichtigt auch die Vorlesungsverzeichnisse und bringt Kurzbiographien (mit Literatur) der Lehrpersonen.
Über die Institutionen, die die Nachfolge der medizinischen Fakultät antraten, vgl. Paul Böhmer, Die medizinischen Schulen Bambergs in derersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (Med. Diss. Erlangen-Nürnberg o.J. [ca. 1972]). Böhmer gibt auch Einblicke in die Organisation und die Lehrpläne der Schulen und stellt die Lehrpersonen mit ihren Schriften vor.
Zu Marcus vgl. vor allem Wolfgang Grünbeck, Der Bamberger Arzt Dr. Adalbert Friedrich Markus (Med. Diss. Erlangen-Nürnberg 1971) sowie [Friedrich] Speyer / [Carl Moritz] Marc, Dr. A.F. Marcus nach seinem Leben und Wirken (1817). Vgl. auch ADB, 20 (1884), 306f. (A. Hirsch); Böhmer (s. Anm. 11), S. 11–42; Lehmann (s. Anm. 10), S. 55–58. Ein Verzeichnis der Publikationen Marcus’ findet sich bei Grünbeck, S. 269 ff., eine Behandlung der wichtigeren Schriften S. 187 ff.
Adalbert Friedrich Marcus, “Die medizinisch-chirurgische Schule zu Bamberg,” Fränkische Provinzial-Blätter, November 1804, S. 781. Die Einrichtungeines vielgestaltigen und differenzierten Krankenhauswesens, wie wir sie hier vor uns haben, wird von Klaus Dörner, Bürger und Irre: Zur Sozialgeschichte und Wissenschaftssoziologie der Psychiatrie (1969), S. 215f., als Ausdruck einerseits der “Ausgrenzung der Unvernunft” und andererseits der “Peuplierungspolitik” des aufgeklärten Absolutismus verstanden.
Das angeführte “Hospital für Gemüthskranke” ist das von Hoffmann mehrfach genannte St. Getreu; vgl. Festschrift … (s. Anm. 14), S. 47f. und Adolf Fuchs, “St. Getreu und E. T. A. Hoffmann,” Fränkische Blätter für Geschichtsforschung und Heimatpflege, 6 (1954), Nr. 7, 25 f.
Speyer/Marc (s. Anm. 12), S. 49 f. Vgl. auch Hans Franke, “Mesmer, der Mesmerismus und die deutsche Dichtung,” Schwaben, 12 (1940), 121–124.
Tagebucheintrag Hoffmanns vom 8. Juli 1812; vgl. E.T.A. Hoffmann, Tagebücher, hrsg. Friedrich Schnapp (1971), S. 164.
Zu diesen Gesellschaften vgl. Rudolf Herd, “E.T.A. Hoffmann in den Protokollen der Gesellschaft der Honoratioren zu Bamberg,” Mitteilungen der E. T. A. Hoffmann-Gesellschaft, 2 (1941/43), 33–35. Vgl. auch F. Schnapps Kommentar zu den Tagebüchern (s. Anm. 36).
Abbildung in: E.T.A. Hoffmann, Sämtliche Werke, hrsg. Carl Georg Maassen, Bd. 6 (1912), vor dem Titelblatt.
E.T.A. Hoffmann, Die Elixiere des Teufels / Kater Murr (1961), S. 274.
E.T.A. Hoffmann, Die Serapions-Brüder (1963), S. 19f.
So Walther Harich, E.T.A. Hoffmann: Das Leben eines Künstlers (1920), 1, 153.
Vgl. Leibbrand (s. Anm. 30), S. 164f., sowie Eckart Kleßmann, Caroline (1975), S. 213 ff.
E.T. A. Hoffmann, Fantasie- und Nachtstücke (1960), S. 439 ff.
Über Hoffmanns Beziehungen zu Koreff unterrichten: Heinrich Uhlendahl, Fünf Kapitel über Heinrich Heine und E.T.A. Hoffmann (1919), S. 24–33 und 77–84,
sowie besonders Friedrich von Oppeln-Bronikowski, David Ferdinand Koreff. Serapionsbru-der, Magnetiseur, Geheimrat und Dichter (1928).
Speyers Erinnerungen wurden aus Hitzigs Nachlaß erstmals separat abgedruckt in: Hans von Müller, “Aus E.T. A. Hoffmanns Kapellmeisterzeit,” Neue Deutsche Rundschau, 14 (1903), 41–45.
E.T. A. Hoffmann, Die Serapions-Brüder (1963), S. 272.
E.T.A. Hoffmann, Fantasie- und Nachtstücke (1960), S. 8.
Das Verhältnis zwischen Hoffmann und Jean Paul war belastet von “odiosa” (Tagebücher, s. Anm. 36, S. 125): Von der Lösung des Verlöbnisses Hoffmanns mit Minna Doerffer, einer Freundin der Frau Jean Pauls, und von der karikaturistischen Zeichnung Hoffmanns aus dem Jahre 1810, die eine Menge Damen, darunter Frau E. von Kalb und Jean Pauls Frau, vergeblich auf Jean Paul wartend, zeigte: Jean Paul hatte ungalanterweise eine Verabredung mit ihnen zugunsten medizinischer Diskurse mit Marcus, Hoffmann und Kunz nicht eingehalten. Vgl. hierzu Z. Funck [d.i. Carl Friedrich Kunz], Jean Paul Friedrich Richter (1839), S. 53ff. Hoffmanns Zeichnung hatte Jean Paul an sich gebracht und vernichtet. — Literatur zum Verhältnis zwischen beiden Dichtern: Johann Cerny, “Jean Pauls Beziehungen zu E.T.A. Hoffmann,” Programm des Staats-Obergymnasiums in Mies (1907), 3–20 (1908), 5–23. Robert Herndon Fife, “Jean Paul Friedrich Richter und E.T.A. Hoffmann,” PMLA, 22 (1907), 1–32.
Hans von Müller, E.T.A. Hoffmann und Jean Paul… (1927).
Vgl.z. B. Ulrich Helmke, E.T.A. Hoffmann. Lebensbericht mit Bildern und Dokumenten (1975), S. 52.
Vgl. Hans Neubauer und Georg Wirth, “‘… darunter der geistreiche Schriftsteller Hoffmann’. ‘Der Kunst-Verein zu Bamberg’ und seine Beziehungen zu E.T.A. Hoffmann,” Mitteilungen der E. TA. Hoffmann-Gesellschaft, 21 (1975), 44f.
E. T.A. Hoffmann im persönlichen und brieflichen Verkehr, gesammelt u. erl. von Hans von Müller (1912), Bd. 2, S. 631.
Peter Vodosek, “Eine Leihbibliothek der Goethe-Zeit: Das ‘Königl. Privilegirte neue Leseinstitut’ des Carl Friedrich Kunz zu Bamberg,” Jahrbuch des Wiener Goethe- Vereins, N. F. 77 (1973), 110–133. Vodosek bezieht sich weder auf Schnapp noch auf Kunz’ Jean-Paul-Buch.
Wulf Segebrecht, “Neues zum ‘Neuen Lese-Institut’ des C. F. Kunz,” Mitteilungen der E.T.A. Hoffmann-Gesellschaft, 23 (1977), 50–56.
E.T.A. Hoffmann, Späte Werke (1965), S. 94.
Reinhart Koselleck, Kritik und Krise: Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt (1973), S. 49.
E.T.A. Hoffmann, Späte Werke (1965), S. 17.
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Segebrecht, W. (1978). Krankheit und Gesellschaft Zu E. T. A. Hoffmanns Rezeption der Bamberger Medizin. In: Brinkmann, R. (eds) Romantik in Deutschland. Germanistische Symposien Berichtsbände. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-04397-9_19
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