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Transkulturalität: Realität und Aufgabe

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Migration, Diversität und kulturelle Identitäten

Zusammenfassung

Zunächst will ich darlegen, wie ich vor mittlerweile 25 Jahren dazu kam, das Konzept der Transkulturalität zu entwickeln. Ich habe mich damals intensiv mit Kulturphilosophie befasst. Dabei gewann ich den Eindruck, dass unser herkömmlicher Kulturbegriff auf die gegenwärtigen kulturellen Zustände nicht mehr passt.

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Notes

  1. 1.

    In diesem Sinn hat T. S. Eliot neo-herderisch noch 1948 erklärt, dass Kultur „die Gesamtform“ sei, „in der ein Volk lebt – von der Geburt bis zum Grabe, vom Morgen bis in die Nacht und selbst im Schlaf“. (Eliot 1967: 29).

  2. 2.

    Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Es geht mir nicht um Herder-Schelte, sondern um die Kritik eines erstmals von ihm artikulierten Kulturkonzepts, der Vorstellung von Kulturen als Kugeln. In anderen Hinsichten hat Herder, auch in puncto Kultur, große Verdienste. Erstens schließt sein Kulturverständnis ganz selbstverständlich auch die ‚Alltagskultur‘ ein und ist gegen die unselige spätere Gegenüberstellung von ‚hoher Kultur‘ und ‚niedriger Zivilisation‘ immun. Zweitens war Herders Konzept zu seiner Zeit durchaus fortschrittlich und emanzipatorisch, etwa gegen das aufklärerische Kultur- und Geschichtsverständnis, das die Entwicklung der ganzen Menschheit auf einen einzigen Nenner zu bringen suchte – mit Europa als Maß. Gegen solch gesamtmenschheitliche Homogenisierung war Herders Konzept autonomer Einzelkulturen gerichtet, und Herder war einer der frühesten Kritiker von Eurozentrismus und ein Anwalt randständiger Kulturen. – Man darf aber auch nicht verkennen, dass Herder an dem von ihm 1774 propagierten Kugelmodell der Kulturen zeitlebens festgehalten hat, auch in den späteren Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784–1791). Er spricht dort von der „Kette der Kultur“ (Herder 1784–1791: 650 [III, 15, III]) – und diese Kette ist eine Perlenkette und bleibt somit eine Kette von Kugeln. Nur in der frühen „Abhandlung über den Ursprung der Sprache“ von 1772 hatte Herder noch eine mildere Konzeption vertreten, die mit einer „Überlieferung von Volk zu Volk“ rechnete: „Wir Deutsche würden noch ruhig, wie die Amerikaner, in unsern Wäldern leben, oder vielmehr noch in ihnen rauh kriegen und Helden sein, wenn die Kette fremder Kultur nicht so nah an uns gedrängt und mit der Gewalt ganzer Jahrhunderte uns genötigt hätte, mit einzugreifen. Der Römer holte so seine Bildung aus Griechenland, der Grieche bekam sie aus Asien und Ägypten: Ägypten aus Asien, China vielleicht aus Ägypten – so geht die Kette von einem ersten Ringe fort und wird vielleicht einmal über die Erde reichen“ (Herder 1985 [1772]: 806–807 f. [2,4]). Allerdings galt auch dort schon, dass nur Assimilierbares übernommen werden kann und der Beachtung wert ist.

  3. 3.

    Schon 2010, als Inter Mailand das Championsleague-Finale bestritt, stand kein einziger italienischer Spieler im Team. Selbst bei Nationalmannschaften ist die transkulturelle Mischung inzwischen unverkennbar.

  4. 4.

    Beethovens Neunte Symphonie ist heute allgemein in Japan äußerst beliebt. Jährlich finden circa 200 Aufführungen statt. Besonders interessant ist, wie es dazu kam. Im ersten Weltkrieg waren Japan und Deutschland Kriegsgegner. Deutsche Soldaten wurden 1917 als Gefangene nach Japan transportiert und in Lagern untergebracht. Eines von ihnen war das Bandô-Lager in der Stadt Naruto auf der Insel Shikoku. Die deutschen Soldaten wurden dort sehr human behandelt, man gewährte ihnen viel Freiheit. Sie durften Musik machen, und so kam es in einer Baracke des Bandô-Lagers am 01.06.1918 zur ersten Aufführung der Neunten Symphonie auf japanischem Boden. Die Soldaten taten dies natürlich zur eigenen seelischen Stärkung in der Gefangenschaft. Aber bald erfolgten gemeinsame Aufführungen mit Japanern. Noch heute wird Beethovens Neunte in Naruto jährlich am ersten Sonntag im Juni aufgeführt. Und von dort verbreitete die Beethoven-Begeisterung sich über ganz Japan. Der Fall ist deswegen besonders interessant, weil hier ja gerade ein exemplarisches Stück europäischer Musik vom Kriegsgegner übernommen und zu einem Highlight der eigenen Identität gemacht wurde – ein beindruckendes Beispiel von Transkulturalisierung.

  5. 5.

     Dabei handelt es sich nicht einfachhin um einen Export westlicher Vorstellungen, sondern es kommt ebenso rückwirkend zu Modifikationen: Die Bejahung des Eigentums beispielsweise, von der indische Frauenrechtlerinnen gesagt haben, dass sie eine unabdingbare Voraussetzung ihrer Emanzipation darstellt, hat manche westliche Kritiker des Privateigentums umzudenken veranlasst.

  6. 6.

     So betont auch die US-amerikanische Politologin Amy Gutmann, dass heute „die Identität der meisten Menschen – und nicht bloß die von westlichen Intellektuellen oder von Eliten – […] durch mehr als eine einzige Kultur geformt“ ist. „Nicht nur Gesellschaften, auch Menschen sind multikulturell“. (Gutmann 1995: 284).

  7. 7.

     Vgl. zum Thema des pluralen Subjekts Welsch 1991; Welsch 1995.

  8. 8.

    Man mag sich fragen, warum sich unter heutigen Bedingungen gleichwohl immer wieder ein Bedürfnis nach Nation, nach Einheit, nach vorgeblicher Reinheit unter Ausschluss des Fremden regt. Da muss wohl eine phylogenetisch alte Prägung im Spiel sein. Es muss in der Geschichte von Homo sapiens eine Phase gegeben haben, wo die Identifikation mit der Gruppe (Horde) überlebensnotwendig war. Von daher ist uns noch immer ein Druck zur Gruppenidentifikation inhärent (ähnlich wie andere inzwischen dysfunktional gewordene Prägungen, z. B. die Neigung zu fettreicher Ernährung). Der evolutionäre Nutzen bestand in der Sicherung des Individuums innerhalb der Gruppe sowie der Gruppen gegeneinander. ‚Kultur‘ hatte ursprünglich vermutlich genau diese Bedeutung: die Einheit der Gruppe zu festigen – Kultur war Gruppenkitt. Davon Abstand zu nehmen, wäre längst an der Zeit. Aber Kultur wird immer aufs Neue (oft ganz undurchschaut) auf diese Aufgabe hin bestimmt – so beispielsweise in der Rede von ‚Kulturnation‘. Ursprünglich waren die Gruppen Blutsgemeinschaften – andere Gruppen hatten anderes Blut. Nun lebt die Konnotation des Blutes aber im Begriff der Nation als einer Abstammungsgemeinschaft (von lat. ‛nasci’) nach. Die Rede von einer ‚Kulturnation‘ substituiert also den Gemeinschaftsnenner Blut durch Kultur. So wie einst durch Blut, so soll die Nation jetzt durch Kultur zusammengeschweißt werden. ‚Kulturnation_ ist Blutsgemeinschaft – nur gesoftet‘.

  9. 9.

    Schon Freud hatte eine Analogie zwischen der inneren Topologie der Verdrängung und der äußeren Topologie des Verhältnisses zu Fremdem hergestellt: „[…] das Verdrängte ist […] für das Ich Ausland, inneres Ausland, so wie die Realität – gestatten Sie den ungewohnten Ausdruck – äußeres Ausland ist“ (Freud 1969: 496).

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Welsch, W. (2020). Transkulturalität: Realität und Aufgabe. In: Giessen, H., Rink, C. (eds) Migration, Diversität und kulturelle Identitäten. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-04372-6_1

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