Zusammenfassung
Unbeschwert sprechen zu können — das ist eine Hoffnung der Ich-Erzählerin aus Christa Wolfs autobiographischer Schubladen-Erzählung Was bleibt. Die Geschichte einer von der Stasi überwachten Frau — 1979 geschrieben, aber erst 1990 veröffentlicht — läßt sich als ihr Versuch betrachten, sich selbst zu rechtfertigen und die ,Wahrheit des Charakters‘2 zu gestehen, und zwar vor der Öffentlichkeit als einem Gericht, vor dem sie in einer spektakulär inszenierten Debatte als ehemalige Stasi-IM (Inoffizielle Mitarbeiterin) entlarvt worden war.3 Das Bedürfnis, „ganz leicht und frei“ zu sprechen, weist über ihren Fall, über die Noch-Schwierigkeiten, Ich zu sagen hinaus auf einen ambivalenten Geständniszwang hin, der die Befindlichkeit der Schriftsteller und der Bürger in der Ex-DDR zu kennzeichnen scheint.
„Eines Tages, dachte ich, werde ich sprechen können, ganz leicht und frei.“1
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Notizen
Wolf, Christa: Was bleibt, München 1994, S. 108.
Vgl. Anz, Thomas (Hrsg.): Es geht nicht um Christa Wolf. Der Literaturstreit im vereinigten Deutschland, München 1991.
Maaz, Hans-Joachim: Der Gefühlsstau. Ein Psychogramm der DDR, München 1992.
Maaz, Hans-Joachim/Moeller, Michael Lukas: Die Einheit beginnt zu zweit, Hamburg 1993, S. 27–28. Im folgenden als Die Einheit zitiert.
Geyer, Michael, in: Schweitzer, C.-C./Krätschell, A. (Hrsg.): Lebensläufe — hüben und drüben, Opladen 1993, S. 137.
Mitscherlich, Margarete/Burmeister, Brigitte: Wir haben ein Berührungstabu, Hamburg 1991, S. 15. Im folgenden als Berührungstabu zitiert.
Honecker, Erich: Moabiter Notizen. Letztes schriftliches Zeugnis und Gesprächsprotokolle vom BRD-Besuch 1987 aus dem persönlichen Besitz Erich Honeckers, Berlin 1994, S. 77–78.
Engler, Wolfgang: Das peinliche Archiv oder die „Avantgarde“ wird geständig, in: kultuRRevolution, Nr. 23, 1990, S. 52–55.
Meuschel, S. : Kontinuität und Diskontinuität, in: Enquete-Kommission: Vergleich der NS- und SED-Diktatur, Berlin 1994. (Thesenpapier).
Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (3. Aufl.), München 1986, S. 711.
Weber, Hermann: Die DDR 1945–1990 (2. Aufl.), München 1993, S. 37.
Vgl. Welsch, Helga A.: „Antifaschistisch-demokratische Umwälzung“ und politische Säuberung in der sowjetischen Besatzungszone, in: Henke, Klaus Dietmar/Woller, Hans (Hrsg.): Politische Säuberung in Europa/. Die Abrechnung mit dem Faschismus und Kollaboration nach dem zweiten Weltkrieg, München 1991, S. 84–107.
Vgl. Hohendahl, Peter Uwe/Herminghouse, Patricia (Hrsg.): Literatur der DDR in den siebziger Jahren, Frankfurt am Main 1983.
Foucault, Michel: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt am Main 1977, S. 75. Im folgenden wird der Text als WW mit Seitenzahl ohne Anmerkung zitiert.
Wolf, Christa: Lesen und Schreiben, Neue Sammlung (6. Aufl.), Darmstadt/Neuwied 1985, S. 57–58. Dieser Satz konnotiert deutlich den Gedanken von Sigmund Freud. Bei Freud heißt es: „Es liegt in der Richtung unserer Entwicklung, daß äußerer Zwang allmählich verinnerlicht wird, indem eine besondere Instanz, das Über-Ich des Menschen, ihn unter seine Gebote aufnimmt.“ Vgl. Freud, Sigmund: Die Zukunft einer Illusion, Studienausgabe, Bd. IX, Frankfurt am Main 1868, S. 98. Od. Trilling, Lionell: Das Ende der Aufrichtigkeit, Frankfurt am Main 1989, S. 142.
Vgl. Böthig, Peter/Michael, Klaus (Hrsg.): MachtSpiele. Literatur und Staatssicherheit im Fokus Prenzlauer Berg, Leipzig 1993. Fricke, Karl-Wilhelm: MfS intern. Macht, Strukturen, Auflösung der DDR-Staatssicherheit. Analyse und Dokumentation, Köln 1991. Anz, Thomas (Hrsg.): Es geht nicht um Christa Wolf.
Siehe Michael, Klaus: Feindbild Literatur. Die Biermann-Affäre, Staatssicherheit und die Herausbildung einer literarischen Alternativkultur in der DDR, in: Aus Politik und Zeitgeschichte/Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, 28. Mai 1993.
Vgl. Link, Jürgen: Elementare Literatur und generative Diskursanalyse, München 1983. Unter „elementar-literarisch“ versteht er „all jene Diskursbestandteile, Diskursparzellen, Diskursformen, Diskursregeln, mit und in denen die Spezialisierung der Diskurse aufgehoben und zunächst punktuell ein übergreifender integraler gesellschaftlicher Interdiskurs hergestellt wird (wie stets in der Konversation, Charakter, Wortspiel (Witz), Genealogie (bei Familienstories), Mythos)“ (S. 12). „Institutionalisierte Literatur“ entsteht dann, wenn der Rahmen des praktischen Diskurses, der sämtliche elementare Literatur trägt, fortfällt und die pragmatische Verankerung ebenfalls durch ein literarischen (rein diskursives) Verfahren ersetzt wird“ (S. 30). Es handele sich also um „einen zyklischen Prozeß des ‚Durchschleusens‘, wobei die Elemente allerdings ständig bearbeitet, transformiert, modifiziert werden“ (S. 33).
Link, Jürgen: Literaturanalyse als Interdiskursanalyse. Am Beispiel des Ursprung literarischer Symbolik in der Kollektivsymbolik, in: Fohrmann, Jürgen/Müller, Harro (Hrsg.): Diskurstheorien und Literaturwissenschaft, Frankfurt am Main, 1988, S. 284–310.
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Lee, H. (2000). Einführung in die Fragestellung. In: Geständniszwang und »Wahrheit des Charakters« in der Literatur der DDR. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-04316-0_1
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Publisher Name: J.B. Metzler, Stuttgart
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